16 November 2023

„Demokratie ohne Politik“? Eine Kritik des EU-Konzepts institutionalisierter Bürgerbeteiligung

Von Alvaro Oleart
Visitors in the European Parliament
Um sich zu legitimieren, setzt die EU zunehmend auf Formen unmittelbarer Bürgerbeteiligung. Doch ohne politische Auseinandersetzung ist eine lebendige Demokratie unmöglich.

In letzter Zeit hat die EU eine Reihe von „bürgerorientierten“ Prozessen organisiert, die auf ein neues Muster der Demokratie und Bürgerbeteiligung hindeuten könnten. Die wichtigste solche „demokratische Innovation“ fand im Rahmen der Konferenz über die Zukunft Europas statt: Hier fanden zum einen mehrere europäische Bürgerforen statt (sowie nationale Bürgerforen, die von den Mitgliedstaaten organisiert wurden und bestimmte, von der Zukunftskonferenz festgelegte Kriterien erfüllen mussten), zum anderen kombinierte auch das Konferenzplenum verschiedene Arten der Vertretung (zufällig ausgewählte Bürger:innen, Vertreter:innen der EU-Institutionen, nationale Abgeordnete, Zivilgesellschaft und Gewerkschaften). Nach der Zukunftskonferenz organisierte die Europäische Kommission organisierte die Europäische Kommission eine eigene Reihe von ähnlich strukturierten europäischen Bürgerforen.

Die „Bürgerwende“ der EU

Die Logik dieser als „Bürgerwende“ (Oleart, 2023) beschriebenen Übungen besteht darin, dass die EU durch die „direkte“ Ansprache der Bürger:innen die Distanz zwischen „Brüssel“ und den „normalen Menschen“ verringern will. Diese Herangehensweise wurde von einigen politischen Theoretiker:innen als „neues Paradigma der Demokratie“ begrüßt (Landemore, 2020). Die Art ihrer Umsetzung führt jedoch zu einer Reproduktion des traditionell entpolitisierten und konsensorientierten Verständnisses von Demokratie, das im EU-Kontext ohnehin vorherrschend ist (Crespy, 2014).

In diesem Sinne ist es bezeichnend, dass unter den EU-Institutionen gerade die Europäische Kommission eine Führungsrolle bei der Förderung der institutionalisierten „Bürgerbeteiligung“ durch europäische Bürgerforen eingenommen hat. Indem Bürgerbeteiligung bewusst in den konsensorientierten Politikgestaltungsprozess der Kommission „eingebettet“ wird, wird es schwieriger, einen konfrontativeren Ansatz vorzuschlagen, der an bestehende politische Konflikte anknüpft und relevante intermediäre Akteure einbezieht. Die Kommissionsverfahren verhindern deshalb eine Verbindung der „Bürgerbeteiligung“ mit der breiteren Öffentlichkeit und entpolitisieren die dahinterstehenden politischen Auseinandersetzungen. Ihnen liegt eine Konzeption von „Demokratie“ zugrunde, das keine „Politik“ kennt: kurz, eine „Demokratie ohne Politik“ (siehe auch Oleart and Theuns, 2022).

Aushöhlung der Demokratie durch Entpolitisierung

Dieser entpolitisierte Demokratie-Ansatz hat eine demobilisierende Wirkung, da politische Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Akteure von einer Beteiligung abgehalten werden. Die Idee einer „Demokratie ohne Politik“ spiegelt gut wider, wie die EU-Institutionen durch Prozesse wie die Bürgerforen in Wirklichkeit zu einer Aushöhlung der EU-Demokratie beitragen können (Mair, 2013).

Die Politik einer pluralistischen Demokratie erfordert kollektive Akteure (politische Parteien, Gewerkschaften, Zivilgesellschaft, soziale Bewegungen), die in der Lage sind, ihre Ideen im öffentlichen Raum zu vertreten und Auseinandersetzungen mit alternativen Ideen und gegnerischen kollektiven Akteuren auszutragen. Die unvermittelte Bürgerbeteiligung stellt diese Akteure ins Abseits. Stattdessen konstruiert sie ihre politische Legitimität auf Grundlage einer zufällig ausgewählten Gruppe von Bürger:innen, die angeblich „deskriptiv repräsentativ“ für die Gesamtheit der Bürger:innen sind. Auf diese Weise wird die Rückkopplung mit der Öffentlichkeit unterbrochen und eine starke technokratische Komponente in das politische Verfahren eingebettet.

Darüber hinaus werden Bürgerforen oft eurozentrisch damit gerechtfertigt, dass Demokratie als ein System politischer Gleichheit verstanden wird, das „in Europa geboren“ wurde. Dies ist besonders problematisch, wenn man bedenkt, dass die „Demokratie“ im antiken Athen in erster Linie auf männlichen „werktätigen Bürgern“ beruhte (siehe Wood, 2015), während Frauen vom politischen Leben ausgeschlossen waren und ein Großteil des Systems auf Sklaverei beruhte.

Private Beratungsunternehmen ersetzen intermediäre Akteure

Hinzu kommt noch, dass die jüngsten Entwicklungen gar nicht wirklich dazu führen, dass die politische Debatte durch eine „direkte“ Beziehung zwischen den EU-Institutionen und den EU-Bürger:innen weniger mittelbar würde. Vielmehr nimmt politische Vermittlung nur neue Formen an. Ein gutes Beispiel dafür sind die europäischen Bürgerforen, die von einem Konsortium privater Beratungsfirmen im Auftrag der EU organisiert wurden.

Diese Neugestaltung intermediärer Prozesse auf EU-Ebene erfolgt jedoch mit der (diskursiven) Begründung einer Disintermediation; tatsächlich handelt es sich um eine Art der Vermittlung, die von der Öffentlichkeit und der Massenpolitik abgekoppelt ist. Das Aufkommen von Unternehmern der deliberativen Demokratie, die den EU-Institutionen eine neue Form der Intermediation „verkaufen“, wirft daher normative Fragen zur europäischen Demokratie auf.

Bürgerforen sollten Diskurse prägen, nicht Politik entwerfen

Der entpolitisierte Bürgerbeteiligungsansatz der EU ist nicht alternativlos. Es gibt durchaus Wege, demokratische Innovationen in einer Weise einzubeziehen, die mit der Logik einer agonistischen Demokratie (Mouffe, 2005) vereinbar ist. Zwar besteht ein grundsätzlicher Zielkonflikt zwischen der Ausrichtung solcher Übungen entweder auf politische Institutionen oder auf den öffentlichen Raum, doch es gibt einige positive Erfahrungen für dessen Lösung.

So haben beispielsweise die irischen Bürgerversammlungen den dortigen öffentlichen Diskurs über Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe maßgeblich geprägt (während sie auch ihrerseits von der breiteren Öffentlichkeit beeinflusst wurden). In ähnlicher Weise hat in Frankreich die „Convention Citoyenne pour le Climat“ wesentlich dazu beigetragen, den öffentlichen Diskurs über den Klimawandel zu gestalten. Sie sind somit gute Beispiele dafür, wie eine Mikro-Makro-Verbindung in der öffentlichen Deliberation (Olsen und Trenz, 2014) hergestellt werden kann.

Wie Lafont (2015: 60) argumentiert, sollten sich „deliberative Demokraten für den Einsatz von Mini-Öffentlichkeiten einsetzen, um die öffentliche Meinung zu prägen, nicht die öffentliche Politik“. Mini-Öffentlichkeiten wie die Bürgerforen sollten also darauf ausgerichtet sein, die breite Öffentlichkeit anzuregen. Sie sollten hingegen nicht die Aufgabe erhalten, konkrete politische Vorschläge zu entwerfen.

Eine lebendige Demokratie braucht politisierte Konflikte

Insgesamt wird damit deutlich, dass ausschließlich „von oben“ kommende Reformen wie die europäischen Bürgerforen keinen sinnvollen Beitrag dazu leisten, dass EU-Politik zur Massenpolitik wird. Da es nicht gelingt, die Bürgerforen mit einer breiteren Öffentlichkeit zu verknüpfen, führen sie zu einer Entpolitisierung der politischen Beteiligung. Nötig wäre es hingegen, die partizipative Demokratie in der EU zu politisieren und eng in die etablierten Formen demokratischer Politik einzubinden (siehe Youngs, 2022).

Ein vielversprechenderer Weg, um mit demokratischen Innovationen einen bedeutungsvollen Beitrag zur Demokratisierung der EU leisten, ist deshalb die Herstellung einer agonistischen Öffentlichkeit, die von starken kollektiven Akteuren getragen wird. Statt zu versuchen, über Mini-Öffentlichkeiten eine „deskriptiv repräsentative“ Gruppe von EU-Bürger:innen zusammenzustellen, sollte die EU sich auf ein Verständnis von Öffentlichkeit konzentrieren, das demokratischen Pluralismus und (agonistische) Politisierung hervorhebt, um so das Demokratisierungspotenzial der EU zu entfalten.

Um eine lebendige Demokratie zu ermöglichen, sind konfrontative Prozesse nötig, die eine Auseinandersetzung über echte alternative Visionen der Gesellschaft sowie eine offene transnationale Deliberation über diese Alternativen in einer gesunden, politisierten Öffentlichkeit ermöglichen. Demokratie kann nur entstehen, wenn die derzeitigen Machtstrukturen im EU-Kontext in Frage gestellt und politische Debatten darüber gefördert werden.

Kollektive Akteure stärken

Es ist daher von entscheidender Bedeutung, zu einem stärker politisierten Verständnis von Demokratie überzugehen. Für den Aufbau einer demokratischeren EU ist es nötig, soziale und politische kollektive Strukturen zu entwickeln, die Räume für kollektives Handeln und Dissens schaffen. Die Autonomie, mit der die EU-Politik gegenüber nationalen politischen Debatten agiert, ist ein großes Hindernis für die Demokratisierung der EU.

In Kontrast zu den ent-intermediatisierten und entpolitisierten „Bürgerbeteiligungs“-Mechanismen, die die EU (und insbesondere die Europäische Kommission) zunehmend anstrebt, ist eine Stärkung der kollektiven Akteure auf nationaler und transnationaler Ebene von zentraler Bedeutung für jeden Versuch, die EU zu demokratisieren. Dies bedeutet eine umfassende Neugestaltung des Demokratieverständnisses und die Erleichterung aktivistischer und agonistischer, konfliktorientierter Formen des Engagements in der EU-Politik.

Transnationaler Aktivismus

Der Ansatz einer „Demokratie ohne Politik“ steht im Gegensatz zu existierenden transnationalen Aktivistenprozessen: Bewegungen, die sich auf die Organisation von Solidarität und kollektivem Handeln konzentrieren, bringen Akteur:innen aus verschiedenen Bereichen in einem gemeinsamen, aber vielfältigen politischen Projekt zusammen und führen schließlich zu einer Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit und in der Massenpolitik.

Dies ist keine einfache Aufgabe, wie die internen Spannungen innerhalb vieler sozialer Bewegungen zeigen, die versuchen, transnationale politische Bündnisse zu bilden. Zu den wichtigsten Herausforderungen gehören die transversale und intersektionale Solidarität, die verbleibende Kolonialität, die agonistische Kanalisierung von Spannungen und der Aufbau dauerhafter politischer Strukturen. Dennoch bieten diese Erfahrungen einen Hoffnungsschimmer als Alternative zu den „Bürgerbeteiligungs“-Mechanismen der EU.

Die EU braucht demokratische Innovation – kein „citizen-washing“

All dies bedeutet nicht, dass demokratische Innovationen in einer hypothetischen demokratisierten politischen Architektur der EU keinen Platz hätten. Vielmehr geht es darum, dass sie so eingebunden sein müssen, dass sie an die bestehenden kollektiven Akteure anknüpfen und eine transnationale agonistische Öffentlichkeit befördern.

Gelingt dies nicht, wird die Einführung deliberativer Mechanismen über Mini-Öffentlichkeiten kaum zur Demokratisierung der EU beitragen. Wenn Beteiligungsmechanismen nur als Instrument zum citizen-washing fungieren, werden sie die demokratische Legitimität der EU nicht stärken, sondern untergraben.

Alvaro Oleart ist Postdoktorand am Fachbereich Politikwissenschaften und am Institut d’Études Européennes der Université Libre de Bruxelles.




Dieser Artikel basiert auf dem vom Autor verfassten Buch ‘Democracy Without Politics in EU Citizen Participation: From European Demoi to Decolonial Multitude’, das im Oktober 2023 bei Palgrave Macmillan erschienen ist.




Übersetzung: Manuel Müller.
Bilder: Besuchergruppe im Europäischen Parlament: European Parliament/Pietro Naj-Oleari [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr [cropped]; Porträt Alvaro Oleart: privat [alle Rechte vorbehalten].

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