20 Dezember 2023

Was die EU im Jahr 2024 erwartet

Von Manuel Müller
Christmas decoration inside the European Parliament
Es wird Weihnachten – Zeit zur Erholung und zum Auftanken für ein intensives Wahljahr.

2024 wird ein globales Superwahljahr: In acht der elf einwohnerreichsten Staaten der Welt – Indien, der EU, den USA, Indonesien, Pakistan, Bangladesch, Russland und Mexiko – finden Parlaments- und/oder Präsidentschaftswahlen statt, hinzu kommen noch einige kleinere, aber geopolitisch bedeutende Länder wie Großbritannien, Südkorea, Taiwan und Georgien. Nicht all diese Wahlen sind gleichermaßen demokratisch, in Russland etwa steht der Sieger schon im Voraus fest und der Urnengang ist kaum mehr als eine politische Machtdemonstration. In der Summe aber werden die politischen Auswirkungen dieser Wahlen enorm sein. In Europa wie weltweit steht ein Jahr der Entscheidungen bevor.

Rechtsruck bei der Europawahl

Das zentrale Ereignis auf EU-Ebene ist 2024 natürlich die Europawahl und die darauf folgende Neubesetzung der Europäischen Kommission. Ein ausführlicher Fahrplan mit den wichtigsten Ereignissen auf dem Weg dorthin ist hier zu finden: Zunächst werden bis zum März die europäischen Parteien ihre Wahlprogramme verabschieden und Spitzenkandidat:innen nominieren. Im April und Mai findet dann der eigentliche Wahlkampf statt, bis vom 6. bis 9. Juni die europäischen Wähler:innen an die Urnen gerufen werden.

Falls sich die aktuellen Umfragen bewahrheiten, steht der EU bei dieser Wahl ein Rechtsruck historischen Ausmaßes bevor: Das Mitte-links-Lager könnte so schwach, die Rechtsaußenfraktionen EKR und ID so stark abschneiden wie nie zuvor. Unmittelbar würde davon vor allem die Europäische Volkspartei profitieren: Sie hat nicht nur gute Aussichten, stärkste Fraktion zu bleiben, sondern würde auch bei der Mehrheitsbildung im Parlament unumgänglich. Das Erstarken der extremen Rechten dürfte allerdings auch zu EVP-internen Strategiekonflikten über das Aufrechterhalten einer „Brandmauer“ oder eine mögliche Öffnung nach rechts führen.

Rechte werden in den Mitgliedstaaten stärker – und im Rat

In dieser Strategiedebatte dürfte allerdings nicht nur das Ergebnis der Europawahl eine Rolle spielen, sondern auch der Ausgang der nationalen Wahlen, die 2024 in mehreren Mitgliedstaaten stattfinden: in Portugal im März, in Belgien im Juni (gleichzeitig mit der Europawahl), in Kroatien, Österreich, Litauen und Rumänien im Herbst. Sowohl in Belgien als auch in Österreich könnten dabei den Umfragen zufolge Rechtsaußenparteien zur stärksten Kraft werden – wobei in Belgien zudem noch eine flämische Separatismusdebatte bevorstehen könnte. Und auch in anderen Ländern haben die Rechten Chancen, Sitze dazuzugewinnen und womöglich als Juniorpartner Teil einer Regierungskoalition zu werden.

Je nach Ausgang dieser nationalen Wahlen und der noch offenen Regierungsbildung in den Niederlanden könnten nicht nur die EKR, sondern auch die ID ihre Position im Rat der EU deutlich ausbauen. Dort aber wird üblicherweise nicht nach Parteilinien abgestimmt, sondern ein möglichst breiter Konsens der Mitgliedstaaten gesucht. Nicht das Europäische Parlament, sondern der Rat wird deshalb das wichtigste Einfallstor, über das rechte Parteien künftig verstärkt Einfluss auf die europäische Politik nehmen könnten.

Kommissionswahl und „Top Jobs“

Nach der Europawahl wird die Kommissionspräsident:in ernannt. Wie 2014 und 2019 werden die europäischen Parteien dafür vor der Wahl Spitzenkandidat:innen nominieren – ein Verfahren, das trotz aller Unkenrufe inzwischen ein normaler Bestandteil der europäischen Demokratie geworden ist. Als wahrscheinlichstes Szenario erscheint derzeit, dass die derzeitige Amtsinhaberin Ursula von der Leyen (CDU/EVP) als EVP-Spitzenkandidatin antreten und nach einem Wahlsieg ihrer Partei sowohl im Parlament als auch im Europäischen Rat die notwendigen Mehrheiten für eine zweite Amtszeit gewinnen wird. Aber sicher ist das natürlich nicht – bis zur Kommissionswahl kann noch einiges passieren.

Ausgehend von der Person der Kommissionspräsident:in wird der Europäische Rat dann die übrigen „Top-Jobs“ (die Hohe Vertreter:in für die Außenpolitik und die Ratspräsident:in) so zu besetzen versuchen, dass dabei große und kleine, nördliche und südliche, westliche und östliche Mitgliedstaaten, Frauen und Männer sowie alle Parteien der Großen Koalition (EVP, Sozialdemokrat:innen, Liberale) vertreten sind.

Anschließend werden die übrigen Kommissionsmitglieder von den nationalen Regierungen vorgeschlagen und vom Europäischen Parlament bestätigt. Da aktuell deutlich mehr Mitgliedstaaten von der EVP regiert werden als 2019, dürfte es auch hier zu einer Verschiebung in die rechte Mitte kommen. Rechtsaußen-Kommissar:innen wird es allerdings weiterhin wohl nur wenige geben. Kommt es zu keinen größeren institutionellen Krisen, wird die neue Kommission dann voraussichtlich am 1. November ihr Amt antreten.

Strategische Agenda, politische Leitlinien – und ein Koalitionsvertrag?

Aber nicht nur institutionell, auch programmatisch wird sich die EU 2024 erneuern. Direkt nach der Europawahl will der Europäische Rat seine „Strategische Agenda“ für die nächsten fünf Jahre annehmen, kurz darauf wird die designierte Kommissionspräsident:in vor dem Europäischen Parlament ihre „politischen Leitlinien“ vorstellen.

Möglich ist auch, dass die großen pro-europäischen Fraktionen im Parlament (EVP, Sozialdemokrat:innen, Liberale und Grüne) untereinander eine Art Koalitionsvertrag aushandeln, der ein institutionelles Pendant zur Strategischen Agenda des Europäischen Rates bilden könnte. Spätestens Mitte des Jahres wird also erkennbar sein, welche Ziele die EU-Institutionen in Zukunft vorrangig verfolgen wollen.

Arbeitsprogramm der Kommission: „90 Prozent“ schon erledigt

Zuerst gilt es aber noch das Programm für die alte, laufende Wahlperiode abzuarbeiten. Grundsätzlich gilt für Gesetzesvorschläge in der EU – anders als in vielen nationalen Parlamenten – nicht das Diskontinuitätsprinzip: Initiativen, die bis zum Ende der Legislaturperiode nicht abgeschlossen sind, verfallen nicht einfach, sondern werden meist vom neu gewählten Parlament wieder aufgenommen. Allerdings versuchen das Parlament und der Rat regelmäßig, vor Ende der Wahlperiode möglichst viele Gesetzgebungsverfahren zum Abschluss zu bringen.

Die Kommission ließ ihrerseits im Oktober wissen, sie habe bereits „über 90 Prozent“ ihrer Ziele für 2019-24 erreicht. Das Arbeitsprogramm für 2024 enthalte deshalb nur noch recht wenige neue Initiativen – unter anderem ein neues Windenergie-Paket, eine Strategie für die Verteidigungsindustrie, eine Initiative für einen gemeinsamen europäischen Universitätsabschluss und ein „EU-Weltraumrecht“.

Binnenmarkt: Zwei ehemalige Premierminister legen Berichte vor

Ein wichtiges Thema wird 2024 (und darüber hinaus) die Zukunft des europäischen Binnenmarkts sein. In den vergangenen Jahren hat die aktive Industriepolitik weltweit an Bedeutung gewonnen. Zum einen gibt es einen weitreichenden Konsens, dass die für den Klimaschutz notwendige ökologische Transformation nur mit öffentlichen Investitionen zu stemmen sein wird. Zum anderen spielen auch geoökonomische Überlegungen, also der Aufbau und Schutz strategisch relevanter Industrien, eine Rolle.

Für die EU stellt das eine besondere Herausforderung dar: Den EU-Institutionen fehlt das Geld, um selbst in großem Stil Industrieförderung zu betreiben. In den letzten Jahren hat die EU deshalb den Mitgliedstaaten größere Spielräume gelassen, um eigene nationale Maßnahmen zu ergreifen, was insbesondere Deutschland gern genutzt hat. Diese Maßnahmen helfen aber meist vor allem den eigenen nationalen Unternehmen der Mitgliedstaaten – und führen so zu Verzerrungen im Binnenmarkt, da große und reiche Länder mehr Mittel dafür einsetzen können als kleinere und ärmere.

Diese und andere Fragen werden Thema in zwei Berichten sein, die die früheren italienischen Premierminister Enrico Letta und Mario Draghi in der ersten Jahreshälfte 2024 vorlegen werden. Lettas Bericht über die Zukunft des europäischen Binnenmarkts soll beim Treffen des Europäischen Rates im März diskutiert werden, Draghis Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit spätestens im Juni erscheinen. Sie werden der Startschuss für weitere Debatten in den kommenden Jahren.

Rechtsstaatskrise: endlich Einigkeit gegen Orbán?

Ein weiteres Thema, in das 2024 Bewegung kommen könnte, ist die europäische Rechtsstaatskrise. Lange Zeit gab es in diesem Bereich kaum Fortschritte, da sich die polnische Regierung unter Mateusz Morawiecki (PiS/EKR) und die ungarische Regierung unter Viktor Orbán (Fidesz/–) gegenseitig den Rücken deckten und EU-Maßnahmen blockierten. Nach dem polnischen Regierungswechsel steht Orbán nun jedoch zunehmend alleine, wie auch auf dem jüngsten Europäischen Rat sichtbar wurde. Dass Orbán nun ausgerechnet in der Ukraine-Politik offensiv sein Vetorecht einsetzt, könnte für die übrigen Regierungen ein weiterer Anreiz sein, Ungarn nach Art. 7 (3) EUV das Stimmrecht im Rat zu entziehen.

Allerdings ist nicht sicher, ob Orbán wirklich dauerhaft so isoliert ist, wie es zuletzt den Anschein hatte. Unterstützung könnte er sich etwa in der Slowakei suchen, wo die Regierung unter Robert Fico (Smer/SPE-Mitgliedschaft suspendiert) ebenfalls als ukrainepolitischer Wackelkandidat gilt. Zudem wird die ungarische Regierung in der zweiten Jahreshälfte 2024 die EU-Ratspräsidentschaft einnehmen (nach Belgien im ersten Halbjahr) und dürfte wohl allein dadurch einschneidende neue Maßnahmen gegen sich verhindern können.

Ukraine-Hilfen und andere außenpolitische Stresstests

Die Schwierigkeiten mit der ungarischen Regierung sollten aber kein entscheidendes Hindernis sein, wenn es darum geht, die Ukraine weiterhin gegen den russischen Angriffskrieg zu unterstützen. Sofern Orbán bei der dafür notwendigen Ausweitung des EU-Budgets nicht nachgibt, dürften die übrigen Mitgliedstaaten die Mittel auf anderem Weg bereitstellen – sei es in Form einer verstärkten Zusammenarbeit oder bilateral außerhalb des EU-Rahmens.

Eine größere Herausforderung könnte es allerdings werden, wenn bei der US-Wahl im November Donald Trump und die Republikanische Partei gewinnen und die amerikanischen Ukraine-Hilfen einstellen. Um die Lücke zu füllen, müsste die EU ihren Einsatz dann deutlich ausweiten: ein neuer Stresstest für die außenpolitische Geschlossenheit der Mitgliedstaaten, die zuletzt schon beim Umgang mit dem Gaza-Krieg viel zu wünschen übrig ließ.

Und natürlich ist nicht absehbar, welche anderen weltpolitischen Herausforderungen das Jahr 2024 zu bieten haben wird. Für autoritäre Akteure könnten die vielen bevorstehenden Wahlen eine Gelegenheit sein, um Unruhe zu stiften oder Krisen auszulösen, während die Demokratien im Wahlkampf mit sich selbst beschäftigt sind.

Erweiterung und Reform: 2030 im Blick

Im Mittelpunkt der nächsten Wahlperiode aber werden die Themen Erweiterung und Reform der EU stehen. Auf seinem Treffen vergangene Woche hat der Europäische Rat beschlossen, die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und der Republik Moldau zu eröffnen und Georgien zum Beitrittskandidaten zu machen. Auch auf dem westlichen Balkan soll es bald weitere Fortschritte geben.

Zwar finden all diese Verhandlungen unter dem Schatten eines möglichen ungarischen Vetos statt, das die Beitrittsverfahren an mehreren Stellen und bis zum letzten Moment immer wieder ausbremsen könnte. Und natürlich hängt die weitere Entwicklung entscheidend von den Reformfortschritten in den Beitrittsländern ab – einen verbindlichen Zeithorizont gibt es bisher nicht. Doch das Jahr 2030, das im August von Ratspräsident Charles Michel ins Spiel gebracht und im September von der deutsch-französischen Expertengruppe zur EU-Reform aufgegriffen wurde, schwebt als mögliches Zieldatum für die nächste Erweiterung über vielen Gesprächen. Selbst wenn es in den Beitrittsländern zu Verzögerungen kommt, sollte die EU sich bis 2030 wenigstens selbst in die Lage versetzen, dass sie neue Mitgliedstaaten aufnehmen könnte.

Ein Konvent – oder „Schlussfolgerungen zu einem Fahrplan“?

Die Kommission will deshalb bis spätestens Juni ein „pre-enlargement review“ vorlegen, in dem sie analysiert, wie verschiedene Institutionen und Politikbereiche der EU von einer Erweiterung betroffen wären, und darauf aufbauend Reformempfehlungen gibt. Auch der Europäische Rat hat zuletzt angekündigt, er werde „sich auf seinen nächsten Tagungen mit internen Reformen befassen, damit bis zum Sommer 2024 Schlussfolgerungen zu einem Fahrplan für die künftige Arbeit angenommen werden können“.

Das Europäische Parlament ist unterdessen schon einen großen Schritt weiter: Es hat schon seit 2022 Vorschläge für eine Vertragsreform ausgearbeitet, die die EU fit für die Erweiterung machen würde. Im November hat es diese Vorschläge offiziell verabschiedet und den Europäischen Rat aufgefordert, nun „so bald wie möglich“ einen Vertragskonvent einzuberufen.

Dass es im kommenden Jahr tatsächlich dazu kommt, ist angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Rat eher unwahrscheinlich. Doch mit seinen Vorschlägen hat das Europäische Parlament einen Pflock eingeschlagen, an dem sich andere Reforminitiativen werden messen lassen müssen. Die Debatte, wie auch eine erweiterte EU handlungsfähig und demokratisch sein kann, ist in vollem Gange und wird eine Schlüsselfrage für 2024 und darüber hinaus.


Aber bevor es so weit ist, geht „Der (europäische) Föderalist“ erst einmal in seine alljährliche Winterpause. Allen Leser:innen frohe Feiertage und ein glückliches neues Jahr!


Bild: Weihnachtsschmuck: © European Union 2016 – European Parliament [CC BY-NC-ND 4.0], via Flickr.

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