15 Dezember 2023

Update: Wie das Europäische Parlament die EU-Verträge reformieren will

Von Manuel Müller
Notizblock mit EU-Reformvorschlägen
Das Plenum hat gesprochen: In der Liste der EU-Reformentwürfe gibt es einen neuen Eintrag.

Mehr als ein Jahr lang hatte eine Berichterstatter-Arbeitsgruppe des Europäischen Parlaments an Vorschlägen zur Reform der EU-Verträge gearbeitet. Im vergangenen August legte sie ihren Entwurf vor, der damals auch auf diesem Blog ausführlich vorgestellt wurde.

Seitdem hat der Bericht im Parlament weitere Hürden genommen: Am 25. Oktober wurde er vom Ausschuss für konstitutionelle Fragen, am 22. November vom Plenum des Parlaments verabschiedet. Mit 291 Ja- und 274 Nein-Stimmen bei 44 Enthaltungen fiel die Entscheidung verhältnismäßig knapp aus. Für den Bericht stimmten die Grünen, eine Mehrheit der Sozialdemokrat:innen und der Liberalen, eine Minderheit der Europäischen Volkspartei sowie einzelne Linke und fraktionslose Abgeordnete. Geschlossen gegen den Bericht waren die Rechtsfraktionen ID und EKR.

Zugeständnisse an Skeptiker:innen

Angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse machten die Befürworter:innen des Berichts in der Schlussphase noch einige Zugeständnisse vor allem an die Skeptiker:innen innerhalb der EVP. So hatte der Berichterstatter-Entwurf deutliche Absenkungen der Mehrheitserfordernisse bei Ratsentscheidungen vorgeschlagen: Das Standard-Abstimmungsverfahren sollte künftig nicht mehr die qualifizierte Mehrheit (55% der Regierungen, die 65% der Bevölkerung repräsentieren) sein, sondern eine neuartige „einfache Mehrheit“ (50% der Regierungen, die 50% der Bevölkerung repräsentieren). Diesen Vorschlag nahm das Plenum nun ebenso wieder zurück wie die Abschaffung nationaler Vetorechte bei der Harmonisierung von Steuern. Zudem soll für Reformen des Europawahlrechts statt einer qualifizierten Mehrheit (wie von den Berichterstatter:innen vorgeschlagen) künftig eine „verstärkte qualifizierte Mehrheit“ notwendig sein – immerhin aber keine Einstimmigkeit wie bis jetzt.

Ebenfalls gestrichen wurde die Abschaffung des nationalen Vetorechts bei EU-Vertragsreformen. Dieser Vorstoß der Berichterstatter:innen hätte einen Durchbruch in der anhaltenden Reformierbarkeitskrise der EU bedeuten können, aber auch einige Mitgliedstaaten vor nationale verfassungsrechtliche Herausforderungen gestellt. Das Plenum verzichtete nun auf diese Reform und schlug stattdessen nur vor, dass bei Vertragsreformen künftig auch eine Zustimmung des Europäischen Parlaments notwendig sein soll. Das ist zwar ebenfalls ein überfälliger Schritt, würde erst einmal aber nur bedeuten, dass es bei Vertragsreformen künftig neben den nationalen Regierungen und Parlamenten noch einen weiteren Vetoplayer gäbe.

Nur wenige Verschärfungen

Ebenfalls gestrichen wurden von Plenum sämtliche Verweise auf europaweite Referenden sowie das Recht der EU, Minimalanforderungen für den Erwerb der Unionsbürgerschaft zu definieren. Der Vorschlag der Berichterstatter:innen, den mehrjährigen Finanzrahmen auf fünf Jahre zu verkürzen, wurde zu „fünf bis sieben Jahre“ aufgeweicht – was keine Veränderung gegenüber dem Status quo bedeuten würde.

Nur in sehr wenigen Punkten fällt die Plenarfassung schärfer aus als der Berichterstatter-Entwurf. Einer davon ist etwa, dass der Rat künftig verpflichtet sein soll, sich nach der Einleitung eines Artikel-7-Verfahrens innerhalb einer sechsmonatigen Befassungsfrist dazu zu positionieren. Eine dauerhafte Verschleppung wie in den aktuellen Verfahren gegen Ungarn und Polen wäre damit nicht mehr möglich.

Einige Inkohärenzen

Alles in allem stellen diese Änderungen gegenüber dem Berichterstatter-Entwurf aber nur punktuelle Zugeständnisse, kein wirklich neues Konzept dar. Erkennbar ist das auch daran, dass einige der Änderungen nicht konsequent durchgeführt wurden und dadurch in der vom Plenum verabschiedeten Fassung einige Inkohärenzen enthalten sind.

Unter anderem hatten die Berichterstatter:innen vorgeschlagen, für verschiedene Beschlüsse im Rat künftig ein neues Abstimmungsverfahren namens „verstärkte qualifizierte Mehrheit“ (80% der Regierungen, die 50% der Bevölkerung repräsentieren) einzuführen. In der finalen Fassung wurde die Definition dieses Verfahrens gestrichen; das Verfahren selbst wird allerdings weiterhin mehrmals erwähnt – ohne dass klar wird, was man sich darunter vorstellen soll.

In ähnlicher Weise ist in der Resolution zum Vertragsentwurf weiterhin die Forderung enthalten, „dass Europol zusätzliche Befugnisse erhält, die der parlamentarischen Kontrolle unterliegen“. Der Vorschlag der Berichterstatter:innen, worin diese zusätzlichen Befugnisse bestehen sollen, wurde jedoch aus dem Vertragstext gestrichen.

Dennoch ein ambitionierter Reformentwurf

Doch trotz all dieser Verwässerungen und kleinen Widersprüchlichkeiten sollte man den nun vom Parlament verabschiedeten Text nicht geringschätzen. Es handelt sich weiterhin um einen der ambitioniertesten Entwürfe zur Reform der EU-Verträge, die aktuell diskutiert werden. Mit der Abschaffung von Einstimmigkeitserfordernissen in sehr vielen Politikbereichen, einem neuen Wahlverfahren für die Kommissionspräsident:in und die übrigen Kommissionsmitglieder, einem vereinfachten Verfahren für parlamentarische Misstrauensvoten und einem reformierten Artikel-7-Verfahren würde er wichtige Verbesserungen für die parlamentarische Demokratie, die Handlungsfähigkeit und den Schutz der gemeinsamen Grundwerte der EU bringen.

Dass der Text im Plenum eine Mehrheit gefunden hat, zeigt, dass das Parlament bei der Gestaltung der institutionellen Zukunft Europas handlungsfähig ist – auch und gerade im Vergleich zum Europäischen Rat, der in diesen Tagen nur mit großer Mühe Fortschritte in der Erweiterungspolitik erreichen konnte und die Frage der Reformen wieder einmal verschoben hat.

Nächster Schritt: Konvent

Mit der Verabschiedung des Berichts ist der parlamentarische Follow-up-Prozess zu den institutionellen Vorschlägen der Konferenz zur Zukunft Europas jetzt erst einmal abgeschlossen. Zugleich hat das Parlament damit formell „dem Rat Entwürfe zur Änderung der Verträge [vorgelegt]“, was nach Art. 48 (2) EUV der erste Schritt für eine Vertragsreform ist. Als Nächstes muss nun der Rat diese Entwürfe an den Europäischen Rat übermitteln, der dann mit einfacher Mehrheit einen Konvent einberufen kann. In seiner Resolution hat das Parlament den Rat und den Europäischen Rat aufgefordert, das „umgehend“ und „so bald wie möglich“ zu tun.

Der Europäische Rat wiederum hat bei seinem Treffen gestern angekündigt, er werde „sich auf seinen nächsten Tagungen mit internen Reformen befassen, damit bis zum Sommer 2024 Schlussfolgerungen zu einem Fahrplan für die künftige Arbeit angenommen werden können“. Man darf gespannt sein!

Die vom Plenum des Europäischen Parlaments angenommene Fassung des Vertragsreform-Berichts ist hier zu finden.

Eine tabellarische Übersicht ihrer wichtigsten Inhalte, auch im Vergleich zum Berichterstatter-Entwurf sowie zu sechs anderen umfassenden Vertragsreform-Vorschlägen, gibt es hier.


Bild: Notizblock mit EU-Reformvorschlägen: Manuel Müller [alle Rechte vorbehalten].

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