08 Dezember 2023

Europäische Parteipolitik zwischen Integration und nationaler Verharrung

Von Enrico Liedtke
Flags in front of the European Parliament
Um weiter Einfluss auf europäische Entscheidungen nehmen zu können, müssen Parteien sich integrieren und ihre internen Strukturen an das politische System der EU anpassen.

Dieser Tage beginnen die Parteien mit der Aufstellung ihrer Kandidatinnen und Kandidaten für das Europäische Parlament. Denn bereits zum zehnten Mal werden im kommenden Frühjahr die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union an die Urnen gerufen, ihre gesamteuropäische Vertretung zu wählen. Bereits an der Form der Kandidatenaufstellung und der dazu parallel laufenden Beratungen über die Wahlprogramme zeigt sich die nach wie vor unzulängliche Europäisierung der Europawahlen einschließlich einer Verharrung der daran teilnehmenden Parteien in nationalen Denkmustern. Voraussichtlich wird es auch im nächsten Jahr wieder gesamteuropäische Spitzenkandidatinnen und -kandidaten der europäischen Parteienfamilien geben – so wie die beiden Wahlen zuvor. Doch es ist davon auszugehen, dass die Wahlkämpfe um die europäischen Mandate von der Wettbewerbslogik der nationalen Parteiensysteme geprägt sein werden.

Verweigerte Europäisierung nationaler Parteistrukturen

Es ist bedauerlich, dass es die Parteien bislang nicht geschafft haben, sich in angemessener Form an die Bedingungen der Politikgestaltung jenseits des Nationalstaates anzupassen und sich organisatorisch wie programmatisch stärker an den Strukturen der Europäischen Union auszurichten.

Bedauerlich nicht allein deshalb, weil dadurch der europäische Einigungsgedanke konterkariert wird. Durch die Weigerung der nationalen Parteien, sich ebenfalls politisch zu integrieren und Teilbereiche ihrer politischen Vorrechte auf eine europäische Organisationsebene zu übertragen, lassen sie die Bestrebungen, die EU zu demokratisieren und für die Bürgerinnen und Bürger nahbarer zu machen, nahezu mit Vorsatz ins Leere laufen.

Europäische Parteien stärken

Europäisierung bedeutet dabei noch lange nicht, sämtliche Handlungs- und Entscheidungskompetenzen nationaler oder subnationaler Organisationseinheiten der Parteien aufzugeben und der europäischen Ebene zu überlassen. Aber dort, wo die politikinhaltliche Entscheidungshoheit bei den EU-Institutionen liegt, sprechen sowohl die Notwendigkeit parteipolitischer Kohärenz als auch ein gewisses Maß an politikgestalterischer Effizienz dafür, die europäische Organisationsebene der Parteien zu stärken und mit mehr Befugnissen auszustatten.

Dies betrifft neben Personalentscheidungen nicht zuletzt auch Fragen der Autorität über politische und programmatische Positionen. Den Europäischen Parteien kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Bislang noch als transnationale Kooperationsformationen nationaler Parteien organisiert, schlummert in ihnen ein noch ungenutztes Potenzial für die demokratische Gestaltung europäischer Politik und die Kompensation des schleichenden Bedeutungsverlustes von Parteien jenseits nationalstaatlich organisierter Willensbildung.

Nur Europäische Parteien bringen demokratische Responsivität

Wie in allen repräsentativen Demokratien verfügen auch die Parteien auf europäischer Ebene über – zwar bislang nur unzureichend ausgeschöpfte – Funktionen, die sich auf Grund des besonderen Charakters der Europäischen Union als politisches System von denen auf nationaler Ebene unterscheiden. Dies betrifft vor allem die Aggregation EU-weiter Politikpräferenzen und die Koordination von Prioritäten und Handlungsoptionen zwischen den einzelnen Mitgliedsparteien und den Institutionen.

Die Rolle der Europäischen Parteien reicht jedoch noch viel weiter. Nur sie werden die Position im politischen System der EU einnehmen können, aus der heraus in einem europäischen Sinne die Responsivität zwischen dem Willen der Europäerinnen und Europäer sowie den Entscheidungen der EU-Institutionen hergestellt und das politische System im Ganzen und seine Prozesse der Entscheidungsfindung hinreichend legitimiert werden können. Das Potenzial der Europäischen Parteien zur Bündelung von Positionen und Interessen kann dabei helfen, die zwischen einer Vielzahl an nationalen Parteien fragmentierte Einflussnahme auf die Politikgestaltung zu überwinden und diese damit effizienter und nachvollziehbarer zu gestalten.

Die Gestaltungsfähigkeit nationaler Einzelparteien schwindet

In einer EU mit einer überschaubaren Zahl an Mitgliedstaaten mag der Einfluss einzelner, vor allem großer nationaler Parteien auf die europäischen Entscheidungsprozesse für die beteiligten Akteurinnen und Akteure noch greifbar gewesen sein. Doch sowohl die Erweiterung auf mittlerweile 27 Mitgliedstaaten als auch die weitreichenden Veränderungen in den nationalen Parteiensystemen (zunehmende Fragmentierung, Pluralisierung, Erosion der Volksparteien) lassen die Macht und Gestaltungsfähigkeit nationaler Parteien spürbar schwinden.

Sie werden mittelfristig kaum in der Lage sein, die komplexen Entscheidungsprozesse auf europäischer Ebene im Allgemeinen und die entscheidenden institutionellen Agenda-setting-Momente im Speziellen nachhaltig in ihrem Sinne zu beeinflussen. Daher wäre es auch in ihrem eigenen Interesse, sich in europapolitischen Belangen an die systemischen Rahmenbedingungen der EU anzupassen.

Integration von Europäischer Partei, Fraktion und Mitgliederbasis

Der im Vergleich zum politischen System weitaus geringere Integrationsgrad der Parteien hat dazu geführt, dass ihre verschiedenen Organisationsbestandteile im Mehrebenensystem weitgehend autonom voneinander agieren. Dabei wäre es erforderlich, dass alle drei Elemente ihrer Organisation (Parteiapparat, Parlamentsfraktion, Mitgliederbasis) in einem stabilen Beziehungsgeflecht zueinander stehen, um in allen Sphären des politischen Systems ihre volle Wirkung entfalten zu können.

Die organisatorische Einheit dieser so genannten „drei Gesichter“ ist insbesondere notwendig, um die zentrale Parteienfunktion, ein Bindeglied zwischen gesellschaftlicher und staatlicher Sphäre zu schaffen, gewährleisten zu können. Je autonomer einzelne Segmente einer Partei agieren, desto stärker wirken Desintegrationstendenzen nach innen und entstehen Probleme bei der Herstellung eines einheitlichen Erscheinungsbildes nach außen.

Bislang erfolgte die europapolitische Einbindung der nationalen Parteien vorwiegend über deren quantitativ betrachtet überschaubare Eliten. Die vertikale wie auch horizontale Verschränkung der Organisationssegmente ist deshalb entsprechend wenig vorangeschritten –sowohl zwischen Parteibasis und europäischem Parteiapparat als auch zwischen Europäischer Partei und Fraktion ist die Verbindung allenfalls rudimentär ausgeprägt. Die Folge ist, dass es keine vollumfängliche Deckungsgleichheit in der Mitgliederstruktur zwischen den Europäischen Parteien und ihren Fraktionen gibt und dass die europäische Führungsriege weitgehend losgelöst von einer national segmentierten Mitgliederbasis agiert, die wiederum keine Identifikation mit ihrer Europäischen Partei aufweist.

Was tun? Europäisierung nach innen …

Um die europäische Parteipolitik fit zu machen für die Herausforderungen der kommenden Jahre, bleibt also noch viel zu tun. Strategisch betrachtet sollten die Parteien mit den notwendigen Europäisierungsbemühungen an entscheidenden Stellen ihrer inneren Organisation ansetzen – und zwar auf zweierlei Weise.

Zunächst ist eine nach innen gerichtete Integration erforderlich, durch die parteiinterne Strukturen und Elemente an sinnvollen Stellen auf die europäische Ebene ausgerichtet werden. Dazu zählen

  1. die Mitgliedschaftsorganisation: Das Organisationsverständnis der Europäischen Parteien sollte so weiterentwickelt werden, dass sie weniger ein Dachverband als vielmehr eine Organisationsebene einer föderal strukturierten Mehrebenenpartei sind – vom einzelnen Mitglied an der Basis über den lokalen, regionalen und nationalen bis zum europäischen Verband;
  2. Kompetenzen für die Formulierung von inhaltlichen Positionen (policies): Sowohl das Europawahlprogramm als auch die zwischen den Wahlen notwendigen Politikinstruktionen (v.a. an die Fraktion im Europäischen Parlament) müssen – unter angemessener Mitwirkung der nationalen Organisationseinheiten – von der europäischen Parteiebene verbindlich vorgebeben werden. Nur so ist ein einheitliches und nachvollziehbares Auftreten gegenüber der Wählerschaft und kohäsives Handeln in den Institutionen möglich;
  3. Führungsstrukturen und -netzwerke: Neben Strukturen sind es Personen, die Kontinuität schaffen und den in der Partei diskutierten und formulierten Willen auch in die politische Handlungsebene tragen. Daher ist es sinnvoll, wenn nicht sogar notwendig, dass bestimmte Parteifunktionen und Mandate sowohl vertikal (zwischen nationaler und europäischer Ebene) als auch horizontal (zwischen Partei und Fraktion) miteinander verknüpft werden, indem sie von ein und derselben Person wahrgenommen werden (also z.B. der europäische Partei- und Fraktionsvorsitz in einer Hand liegen oder nationale Regierungschefs oder -chefinnen oder Parteivorsitzende prominent im Vorstand der Europäischen Partei vertreten sind).

und nach außen

Darüber hinaus bedarf es auch einer nach außen gerichteten Europäisierung, mithilfe derer es gelingen kann, ein homogenes und kohäsives Gesamterscheinungsbild der Europäischen Partei und ihrer Fraktion im Europäischen Parlament zu erzeugen. Erfolgen muss dies auf der

  1. elektoralen Ebene: Damit Europawahlen auch wirklich europäische Wahlen sind, müssen die Kandidierenden der nationalen Parteien nicht nur mit einheitlichen politischen Botschaften werben, sondern auch ihrer jeweiligen Europäischen Partei erkennbar zuzuordnen sein. Inhaltlich und visuell einheitliche Wahlkampagnen, transnationale Listen oder das Spitzenkandidatenprinzip sind dazu geeignete Instrumente;
  2. parlamentarischen Ebene: Partei und Fraktion auf europäischer Ebene müssen ein gemeinsames Organisations- und Zugehörigkeitsverständnis entwickeln. Ein von ihrer korrespondierenden Partei losgelöstes Handeln der Fraktion im Europäischen Parlament läuft einem kohärenten Erscheinungsbild zuwider und untergräbt nebenbei die Beteiligungsmöglichkeiten innerhalb der Parteien.

Europäisierung kann gegen Bedeutungsverlust helfen

Zweifellos ist damit ein Transfer von Kompetenzen und Souveränität von den nationalen auf die Europäischen Parteien verbunden. Bislang verharren die Parteien daher in ihren national geprägten Denk- und Handlungsmustern. Durch eine Europäisierung vermuten sie auf den ersten Blick nur Nachteile: nämlich zuvörderst die Machterosion der nationalen Funktionseliten.

Dabei böte eine sachgerechte, das heißt auf die Rahmenbedingungen angepasste Europäisierung durchaus Vorteile und Möglichkeiten, den Trend des Bedeutungsverlustes von Parteien zumindest abzufedern. Es sind nicht mehr nur kleine oder strukturell in eine Oppositionsrolle verbannte Parteien, die über ihre transnationalen Netzwerke an der europäischen Politikgestaltung mitwirken können. Auch die ehemals großen Volksparteien sind mehr und mehr auf das Bündeln ihrer schwindenden Ressourcen angewiesen.

Und je umfangreicher und bedeutsamer politische Entscheidungen auf EU-Ebene werden, desto wichtiger wird es für Parteien, auch abseits von eigenen (zeitlich begrenzten) Regierungsbeteiligungen im nationalen Raum direkte Einflussmöglichkeiten zu haben. Gut integrierte und sich über alle relevanten EU-Institutionen erstreckende Europäische Parteien bieten dafür den optimalen Rahmen.

Bessere Einbindung europaaffiner Mitglieder

Perspektivisch lassen sich durch eine stärkere Europäisierung der Parteien auch Kosten an die europäische Ebene externalisieren. Würden die Europäischen Parteien eine deutlich bedeutsamere Rolle dabei spielen, die EU-Institutionen enger mit den Bürgerinnen und Bürgern zu verbinden und dadurch signifikant zu einer europäischen Demokratie beizutragen, ließe sich für den damit verbundenen Aufwand auch eine höhere Parteienfinanzierung durch die EU rechtfertigen. Dies könnte die nationalen Parteien in europapolitischen Belangen entlasten.

Parteiintern böten die Europäischen Parteien darüber hinaus neue Chancen zur aktiven Einbindung europaaffiner Mitglieder oder interessierter Bürgerinnen und Bürger, die sich ansonsten für ihr Engagement anderweitige Betätigungsfelder suchen. Für die Kampagnenfähigkeit der Parteien sollte dies ebenfalls nicht abträglich sein.

Es liegt an den Parteien selbst

Angesichts der vielschichtigen Gestalt der Europäischen Union und der Machtdiffusion in ihren Entscheidungsstrukturen werden Europäische Parteien nur dann in der Lage sein, Entscheidungsprozesse in all ihren Phasen zu beeinflussen, wenn sie auf allen Ebenen des politischen Systems über starke und belastbare Strukturen verfügen.

Dass die Europäisierungsbemühungen nationaler Parteien bislang überschaubar geblieben sind, mag auch daran liegen, dass für eine vollumfängliche Entfaltung parteipolitischer Potenziale auf europäischer Ebene nicht nur eine Anpassung der Parteien an die Strukturen des politischen Systems nötig ist, sondern auch eine Reform des politischen Systems selbst, um die entscheidenden Parameter für ein parteiendemokratisches Handlungsfeld zu setzen. Letzten Endes müssen aber die Parteien selbst wissen, in welchem Umfang sie ihre eigenen Gestaltungsmöglichkeiten nicht nur im Nationalstaat, sondern auch darüber hinaus ausschöpfen möchten.

Enrico Liedtke ist Politikwissenschaftler und derzeit als Referent für Sicherheitspolitik im HAUS RISSEN – Gesellschaft für Politik und Wirtschaft e.V. in Hamburg tätig.

Dieser Beitrag beruht auf dem Aufsatz „Zwischen Europäisierung und Verharrung. Entwicklungsperspektiven europäischer Parteiorganisationen“, der in der Zeitschrift für Politik (3/2023) erschienen ist.


Bilder: Flaggen vor dem Europäischen Parlament: Eduard Delputte [Unsplash license], via Unsplash [cropped]; Porträt Enrico Liedtke: B. Frommann [alle Rechte vorbehalten].

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