09 Dezember 2019

Wiederbelebung des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Was können die europäischen Parteien selbst tun?

Das Spitzenkandidaten-Verfahren sollte die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten demokratischer machen, aber unumstritten war es nie. Woran ist es 2019 gescheitert? Und wie ließe es sich reformieren? Auf diese Fragen antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Heute: Gert-Jan Put. (Zum Anfang der Serie.)

„Warum wagte keine einzige europäische Partei ein Nominierungsverfahren, das wirklich das Potenzial gehabt hätte, europäische Bürger einzubinden und für die Wahl zu begeistern?“
Wenn Befürworter des Spitzenkandidaten-Verfahrens auf die Europawahl 2019 zurückblicken, können sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein. Die Wahl von Ursula von der Leyen, einer Nicht-Spitzenkandidatin, die während des Wahlkampfs keine Rolle spielte und deshalb einer breiteren europäischen Öffentlichkeit weitgehend unbekannt war, wirft viele Fragen zur Zukunft des Verfahrens auf. Bedeutete das Scheitern der Wahl eines Spitzenkandidaten zum Kommissionspräsidenten schon seinen Tod? Oder ist das Spitzenkandidatenverfahren nur in einem tiefen Koma und benötigt lediglich einige Reformen, um für künftige Europawahlen wiederbelebt zu werden?

Die laufende öffentliche Debatte weist jedenfalls darauf hin, dass das Verfahren noch nicht ganz vom Tisch ist. In ihrer Eröffnungsrede vor dem Europäischen Parlament kündigte Kommissionspräsidentin von der Leyen selbst an, sie wolle mit dem Parlament „gemeinsam daran arbeiten, das Spitzenkandidaten-System zu verbessern. Wir müssen es für mehr Wähler klarer sichtbar machen [...]“. Praktiker und Beobachter der EU haben die Schwächen des derzeitigen Systems analysiert und Reformen vorgeschlagen.

Was die Parteien selbst tun können

Doch der größte Teil der Debatte konzentriert sich darauf, was auf der systemischen Ebene der EU getan werden kann, also in Bezug auf die rechtlich-institutionellen Bestimmungen, die die Ernennung des Kommissionspräsidenten regeln. Unvermeidlich führt diese Diskussion oft zur Frage der institutionellen „Arbeitsteilung“ zwischen dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat, den beiden zentralen Akteuren, die die Führungsrolle im Ernennungsverfahren einfordern.

Dieser Beitrag wird stattdessen in den Blick nehmen, was auf einer parteipolitischen Ebene getan werden kann, also durch die europäischen politischen Parteien selbst. Tatsächlich spielen auch diese eine Schlüsselrolle im Verfahren, schließlich müssen sie interne Vorwahlen durchführen, um ihre Spitzenkandidaten für die Kommissionspräsidentschaft zu bestimmen. Die Parteien sind frei, diese internen Prozesse zu gestalten, wie sie es für richtig halten. Häufig übersehen wird dabei jedoch, dass der Ablauf dieser innerparteilichen Wettbewerbe wichtige Folgen für das öffentliche Interesse, die Legitimität und den Erfolg des Spitzenkandidatenverfahrens insgesamt haben kann.

Warum Nominierungsverfahren wichtig sind

Die Wahl von 2014 war ein Meilenstein in der Geschichte der europäischen Parteien. Zum ersten Mal mussten diese Organisationen einen politischen Rekrutierungsprozess durchführen und eigene europaweite Kandidaten aufstellen. Dass von den Eliten der europäischen Parteien erwartet wurde, ein von Grund auf neues Verfahren zu entwickelt, hätte eine einmalige Gelegenheit für sie sein können, da sie nicht den Pfadabhängigkeiten unterworfen waren, die für nationale Parteien bei der Auswahl ihres Führungspersonals und ihrer Kandidaten typisch sind.

Die europäischen Parteien konnten das Verfahren gestalten, wie sie wollten: Die Voraussetzungen für Bewerber, die Spitzenkandidaten werden wollten, konnten locker und strikt ausfallen; die Entscheidung über die Nominierung konnte demokratisch (mit der Möglichkeit einer Beteiligung für eine große Zahl an Menschen) oder exklusiv (dominiert von einer kleinen Gruppe innerhalb der Partei) sein, zentralisiert (mit wenig Einfluss für die nationalen Mitgliedsparteien) oder dezentral (mit viel Einfluss für die Mitgliedsparteien), konsensbasiert oder durch Mehrheitsentscheidungen innerhalb der Parteigremien.

In Bezug auf nationale Parteien wurde bereits mehrfach gezeigt, dass diese Verfahrensfragen wichtig sind. Sie haben Auswirkungen auf den Ausmaß an innterparteilichem Wettbewerb, auf das Profil der Bewerber, die letztlich gewählt werden, auf die Responsivität der Politiker gegenüber ihrer Partei. Was für die Europawahl noch wichtiger ist: Sie haben auch Auswirkungen auf die öffentliche Wahrnehmung. Demokratisch organisierte Auswahlmechanismen können das Vertrauen und die Zufriedenheit der Bürger mit dem demokratischen System steigern. Mehr noch, wenn Parteien demokratische Verfahren organisieren, steigt die Medienaufmerksamkeit, was zu mehr Sichtbarkeit und Legitimität für das gesamte Verfahren führt. Wenn die europäischen Parteien also ihre Nominierungsverfahren richtig nutzen, wäre es für den Europäischen Rat schwerer, das Spitzenkandidaten-Verfahren zu umgehen.

2014 und 2019: begrenzte Vorstellungskraft der Parteien

Der Europäische Rat neigt dazu, die Rolle der Spitzenkandidaten für die Ernennung des Kommissionspräsidenten herunterzuspielen. Um dagegen anzugehen, hätten die europäischen Parteien offene Verfahren durchführen sollen, etwa in Form von Vorwahlen. Solche Verfahren hätten einen größeren Teil der europäischen Bevölkerung eingeladen, sich am europäischen Wahlprozess zu beteiligen und sich über die unterschiedlichen politischen Visionen der verschiedenen europäischen Parteien zu informieren – sei es durch direkte Kommunikation mit den Parteien oder indirekt über das erhöhte Medieninteresse.

Doch in der Praxis wagten die europäischen Parteien kaum Experimente, um durch offene Verfahren Aufmerksamkeit für für ihre internen Wettbewerbe und Kandidaten zu erzeugen. 2014 kopierten sie aufgrund von zeitlichen Zwänge meist existierende Verfahren, die sie intern auch für die Ernennung ihrer Parteivorsitzenden anwandten. Vier von fünf europäischen Parteien (EVP, SPE, ALDE und EL), die einen Spitzenkandidaten ernannten, nutzen dafür ein Delegiertensystem, in dem jede Mitgliedspartei eine bestimmte Anzahl an Delegierten für einen Wahlparteitag entsenden durfte. Nur die EGP wagte einen ambitionierteren Ansatz und organisierte eine „grüne Online-Primary“ mit einem Wahlrecht für alle EU-Bürger über 16 Jahren.

2019 gab jedoch auch die EGP die Idee eines offenen Wettbewerbs auf und übernahm im Wesentlichen die Verfahren der übrigen europäischen Parteien: ein großer Nominierungsparteitag, bei dem Delegierte der nationalen Mitgliedsparteien zusammenkamen, um über den neuen Spitzenkandidaten zu entscheiden. Die EL machte ihr Verfahren sogar noch exklusiver, indem sie von einem Delegiertensystem zu einer Nominierung durch den Parteivorstand überging. EVP, SPE und ALDE blieben bei dem Delegiertenverfahren, das sie schon fünf Jahre zuvor angewandt hatten. Offenbar hatte sich das Design der internen Verfahrensabläufe von 2014 festgesetzt – obwohl sie damals ad hoc und unter extremen Zeitdruck entwickelt worden waren.

Die Online-Primary der EGP als „gescheitertes Experiment“

Warum wagte keine einzige europäische Partei den ernsthaften Versuch zu einem Nominierungsverfahren, das wirklich das Potenzial gehabt hätte, europäische Bürger einzubinden und für die Wahl zu begeistern? Ein offenes Nominierungsverfahren mit Vorwahlen ist natürlich auch mit negativen Folgen und Fallstricken verbunden. Erstens können Parteien intern gespalten erscheinen, wenn mehrere Bewerber offen um die Position als Spitzenkandidat konkurrieren. Andererseits kann mehr politischer Wettbewerb auch die Relevanz der Europawahl und die öffentliche Sichtbarkeit der Spitzenkandidaten erhöhen. Zweitens dauert die Organisation von Vorwahlen länger und kann für die europäischen Parteien mit höheren Kosten verbunden sein als zum Beispiel ein Delegiertenparteitag oder eine Entscheidung des Parteivorstands.

Drittens und vor allem aber verweisen gut informierte Vorwahl-Kritiker auf das gescheiterte Experiment der europäischen Grünen von 2014. Die offene Online-Vorwahl, die die EGP damals organisierte, erreichte nicht gerade eine große Gruppe europäischer Bürger: Mit einer Beteiligung von weniger als 23.000 Teilnehmern schien das Interesse der Öffentlichkeit recht überschaubar. Zu diesem enttäuschenden Ergebnis trugen verschiedene Faktoren bei. Die Partei musste die Vorwahl recht kurzfristig organisieren, sie war hochgradig experimentell (selbst heute ist die Idee einer Online-Wahl keine Selbstverständlichkeit), und es war das erste Mal, dass überhaupt Europawahl-Spitzenkandidaten aufgestellt wurden – ein neues Konzept, das einem breiteren Publikum nicht bekannt war.

Nicht zuletzt aber trug auch das Verfahrensdesign selbst wesentlich zum Scheitern der grünen Primary bei. Die EGP führte ein gesamteuropäisches Nominierungsverfahren durch, obwohl nicht einmal die Europawahl selbst gesamteuropäisch organisiert ist, sondern faktisch als 28 getrennte nationale Wahlen stattfindet. Damit ein Vorwahlverfahren erfolgreich sein kann, müssen sich die europäischen Parteien darauf verlassen, dass ihre Mitgliedsparteien die nationalen Öffentlichkeiten zur Teilnahme motivieren und das Verfahren mit den nationalen politischen Agenden und Wahlabläufen synchronisieren (häufig finden Europawahlen gleichzeitig mit Wahlen für andere politische Ebenen statt). Hinzu kommt, dass die europäischen Parteien keine Mitglieder in derselben Form wie nationale Parteien haben, sodass sie nicht in derselben Form wie nationale Parteien Mitglieder-Vorwahlen durchführen können.

Welche Art von Verfahren brauchen die europäischen Parteien also?

Eine mögliche Lösung wäre die Organisation eines geschlossenen Vorwahl-Verfahrens, in dem die Mitgliedsparteien eine größere Rolle als Vermittler einnehmen. Zum einen sollten die Mitgliedsparteien intern ihr Spitzenpersonal animieren, in einer solchen Vorwahl ihren Hut in den Ring zu werfen und eine ernsthafte Kampagne zu führen. Wenn eine größere Anzahl von „achtbaren“ und öffentlich aktiven Bewerbern antritt, führt das zu größerer Relevanz, einem höheren Bekanntheitsgrad der Kandidaten bei den Wählern und einer stärkeren Beteiligung der Öffentlichkeit.

Zum anderen könnten nach der Nominierung einer Reihe potenzieller hochkarätiger Spitzenkandidaten die europäischen Parteien ihre Mitgliedsparteien auffordern, innerhalb ihrer eigenen Parteistrukturen Vorwahlen durchzuführen, bei denen nur die Individualmitglieder der Mitgliedsparteien ein Stimmrecht haben. Wenn die Europawahl gleichzeitig mit anderen (z.B. nationalen oder regionalen) Wahlen stattfindet, könnten diese Vorwahlen ebenfalls zusammen mit dem Auswahlverfahren für die Kandidaten für diese anderen Wahlen erfolgen.

Wenigstens was die Zeitplanung betrifft, sollte dies möglich sein: Die Mehrzahl der europäischen Parteien nominierten ihre Spitzenkandidaten bereits mehr als sechs Monate vor dem Europawahltag. Die Mitgliedsparteien hätten also genügend Zeit, um das Verfahren mit möglichen anderen Nominierungsverfahren zu koordinieren. Mit einem solchen stärker dezentralen und vertikal integrierten Ansatz könnten die europäischen Parteien zudem wenigstens einen Teil der nötigen Kosten für die Durchführung einer Vorwahl an ihre Mitgliedsparteien weitergeben.

Gewiss, einige der Mitgliedsparteien werden einer solchen Idee eher widerstrebend begegnen. Aber wir können doch wohl erwarten, dass wenigstens die Parteien, die sich für eine stärkere europäische Dimension bei der Europawahl einsetzen, hier ihrer Verantwortung gerecht werden?

Gert-Jan Put ist Postdoc-Wissenschaftler an der KU Leuven. Zu seinen Forschungsinteressen gehören der innerparteiliche Wettbewerb, die Kandidatenauswahl der Parteien und Wahlsysteme.
Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens – Artikelübersicht

  1. Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Serienauftakt
  2. Für eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten und ein neues Europawahlrecht: Wege und Irrwege der Demokratie in der EU ● Frank Decker
  3. Noch nicht ausgemustert: Gezielte Reformen können das Spitzenkandidaten-Verfahren wieder erfolgreich machen ● Julian Rappold
  4. Die Europawahl darf keine Wundertüte sein: Für eine rechtliche Verankerung des Spitzenkandidaten-Prinzips ● Gaby Bischoff
  5. Wiederbelebung des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Was können die europäischen Parteien selbst tun? [EN / DE] ● Gert-Jan Put
  6. Das Spitzenkandidaten-System: ein Blick aus Tallinn [EN / DE] ● Piret Kuusik
  7. Wissen, wer was tun wird: Transnationale Listen können das Spitzenkandidaten-System retten [FR / DE] ● Charles Goerens
  8. Das Polarisierungsdilemma: Streit zwischen den Parteien belebte 2019 den Europawahlkampf – und ließ dann die Spitzenkandidaten scheitern ● Manuel Müller

Bilder: EVP-Nominierungsparteitag in Helsinki: European People's Party [CC BY 2.0], via Flickr; Porträt Gert-Jan Put: privat [alle Rechte vorbehalten].
Übertragung aus dem Englischen: Manuel Müller.

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