Das Spitzenkandidaten-Verfahren sollte die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten demokratischer machen, aber unumstritten war es nie. Woran ist es 2019 gescheitert? Und wie ließe es sich reformieren? Auf diese Fragen antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Heute: Gaby Bischoff. (Zum Anfang der Serie.)
- „In dieser Legislaturperiode muss eine Lösung gefunden werden, die sicherstellt, dass in Zukunft nur Spitzenkandidaten für das Amt der Kommissionspräsidentin vorgeschlagen werden.“
Aktuelle Umfragen zeigen, dass die EU weiter breite Akzeptanz genießt, die
Bürger*innen jedoch erheblichen Reformbedarf sehen. Europa hat ein
Gerechtigkeitsdefizit, so zeigte 2019 die Umfrage „Gerechter.
sozialer. Weniger ungleich“ der Friedrich-Ebert-Stiftung. Das Erscheinungsbild ist von Uneinigkeit und
nationalen Egoismen geprägt. Es scheint, als wollten die Mitgliedstaaten die
Vorteile der Integration ausschöpfen und für den Rest nicht verantwortlich
sein. Es fehlt an Solidarität.
Trotzdem – oder deswegen – hatte die Europawahl 2019 die höchste
Wahlbeteiligung seit 20 Jahren. Über 50 Prozent der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger haben an der
Europawahl teilgenommen. Es ist das erste Mal seit der ersten Direktwahl zum
Europäischen Parlament 1979, dass die Wahlbeteiligung gestiegen ist. In
insgesamt 21 Mitgliedstaaten nahm die Wahlbeteiligung zu, in sieben Ländern
sogar um mehr als 10 Prozentpunkte. Diese Entwicklung zeigt, dass das Interesse
der Europäerinnen und Europäer an der Europawahl wieder gewachsen ist. Mit ihrem Stimmzettel möchten diese Menschen
die zukünftige Ausrichtung der Europäischen Union beeinflussen. Dafür ist
es notwendig, dass die Wahl auch für die Besetzung der
Kommissionspräsidentschaft eine entscheidende Rolle spielt.
Die Schwächen des
Spitzenkandidaten-Prinzips
Die Verträge sehen vor, dass der Europäische Rat unter Berücksichtigung der
Ergebnisse der Europawahl eine Kandidatin bzw. einen Kandidaten für den
Vorsitz der Kommission vorschlägt. Die Staats- und Regierungschefs haben am 2.
Juli 2019 einen Vorschlag für den Vorsitz der EU-Kommission gemacht. Der
Zeitpunkt dieses Vorschlags war nicht unerheblich. Das neugewählte Europäische
Parlament hat sich genau an diesem Tag, also parallel zum Treffen des
Europäischen Rates konstituiert. Zu diesem Zeitpunkt hatten die neugewählten
Europaabgeordneten, zu denen ich auch gehöre und die 58% der Mitglieder
ausmachen, noch nicht einmal ihr Büro im Europäischen Parlament bezogen. Das
war meiner Meinung nach nicht nur ein unglücklicher Zeitplan, sondern
politisches Kalkül des amtierenden Präsidenten des Europäischen Rates Donald
Tusk.
Das Europäische Parlament spielt bei der Wahl der neuen
Kommissionspräsidentin bzw. des neuen Kommissionspräsidenten eine entscheidende
Rolle. Der Vorschlag des Europäischen Rates bedarf der Unterstützung der
Mehrheit der Europaabgeordneten. Daher hat das Europäische Parlament ein großes
Druckmittel, um den Europäischen Rat dazu zu bewegen, einen Spitzenkandidaten
bzw. eine Spitzenkandidatin vorzuschlagen. Leider hat das neu gewählte Europaparlament
diese Chance vertan, weil es sich nicht (schnell genug) auf ein Verfahren
einigen konnte. 2014 war das mit den Spitzenkandidaten Martin Schulz und
Jean-Claude Juncker anders. Der Vertrag von Lissabon hat die Rolle des
Europäischen Parlaments (Art. 17 EUV) und die demokratische Legitimation der
Europäischen Kommission gestärkt.
Kein Automatismus für den Kandidaten
der stärksten Fraktion
Das Europäische Parlament hält am Spitzenkandidaten-Prinzip fest. In dieser
Legislaturperiode muss eine Lösung gefunden werden, die sicherstellt, dass in
Zukunft nur Spitzenkandidaten für das Amt der Kommissionspräsidentin bzw.
Kommissionspräsidenten vom Europäischen Rat vorgeschlagen werden. Die
Europawahl darf keine Wundertüte sein. Die Spitzenkandidaten stehen für ein
Programm. Sie haben sich monatelang den Fragen und teilweise auch der Kritik
der Bürgerinnen und Bürger gestellt. Während des Wahlkampfes sind sie die
Gesichter der Europawahl geworden.
Die Position des Europäischen Parlaments zum Spitzenkandidatenprinzip ist
klar: Die vom Europäischen Rat unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Europawahl nominierte Spitzenkandidatin bzw. der
Spitzenkandidat, die bzw. der über eine Mehrheit im Parlament verfügt, wird in
einer Abstimmung des Parlaments zur Präsidentin bzw. zum Präsidenten der
Europäischen Kommission gewählt. Als Kommissionspräsidentin bzw. Kommissionspräsident
muss also nicht automatisch der Spitzenkandidat der politischen Familie
vorgeschlagen werden, der die Europawahl gewonnen hat, sondern ein
Spitzenkandidat, der eine Mehrheit der Europaabgeordneten hinter sich bringen
kann. Hier besteht kein Automatismus.
Es ist dieser kleine, aber feine Unterschied, der meiner Meinung nach
letztendlich dazu geführt hat, dass das Spitzenkandidatenprinzip bei dieser
Europawahl eine Rolle rückwärts gemacht hat. Die „Wahlsieger“ der Europawahl
haben darauf beharrt, dass ihr Kandidat als Kommissionspräsident nominiert
wird, so dass keine ernsthafte Diskussion innerhalb des Europäischen Parlaments
über mehrheitsfähige Alternativen stattgefunden hat.
Das Spitzenkandidaten-Prinzip
verankern
Es gibt mehrere Möglichkeiten, das Spitzenkandidatenprinzip fest zu
verankern. Der direkteste Weg wäre eine entsprechende Änderung der europäischen
Verträge. Die Stimmen für eine Vertragsänderung werden immer lauter. Die
geplante Konferenz über die Zukunft der EU wird mit den entsprechenden
Rahmenbedingungen ein Wegbereiter sein für eine Überarbeitung der EU-Verträge.
Allerdings müssen wir auch bedenken, dass eine Vertragsänderung ein
langwieriger Prozess ist mit ungewissem Ausgang.
Eine interinstitutionelle
Vereinbarung zum
Spitzenkandidaten-Prinzip zwischen dem Europäischem Parlament, dem Europäischen
Rat und der Europäischen Kommission kann ebenfalls eine Lösung herbeiführen.
Der Vorteil einer interinstitutionellen Vereinbarung ist, dass sie, wenn der
entsprechende politische Wille seitens der EU-Institutionen da ist, zu einer
schnellen Lösung führen kann. Zusätzlich zum Spitzenkandidatenprinzip muss eine
interinstitutionelle Vereinbarung auch einen genauen Zeitplan festlegen, damit
das Europäische Parlament die Möglichkeit hat, sich erst einmal zu
konstituieren, bevor die wichtigen personellen Entscheidungen für die
Spitzenposten in der EU getroffen werden.
Transnationale Listen für eine
stärker europäische Identität
Ein einheitliches EU-Wahlrecht ist überfällig. Transnationale Listen und das
Spitzenkandidatenprinzip gehören zu einer Reform des EU-Wahlrechts dazu und
können auch zu einer stärkeren europäischen Identität der Abgeordneten führen.
Vorschläge für transnationale Listen werden seit 1998 (Anastassopoulos-Bericht) und 2011-2012 (Duff-Bericht) diskutiert. Diese Idee fand zuvor Unterstützung
im Ausschuss für konstitutionelle Fragen, gerade auch weil so ein „political
space for public debate“, also eine europäische Öffentlichkeit geschaffen
werden könnte. Sie wurde aber bislang nicht offiziell vom Europäischen
Parlament unterstützt.
Meine Erfahrung ist, dass Mitglieder des Parlaments gegenwärtig immer
wieder unter Druck gesetzt werden, die Position ihrer nationalen Regierung zu
vertreten und nicht die der politischen Fraktion, der sie angehören. Dies führt
zu einer „Renationalisierung der Politik“, die die Europäische Union weiter
schwächt. Das Parlament muss vielmehr der Motor sein, Europa im Interesse
seiner Bürger*innen zu stärken und zu verändern. Hierzu können transnationale
Listen beitragen. Wir wollen die EU gerechter, sozialer und gleicher machen.
Die Angleichung der Lebensverhältnisse auf dem Wege des Fortschritts bleibt
unser Ziel.
Gaby Bischoff (SPD/SPE) ist Mitglied des Europäischen Parlaments und stellvertretende Vorsitzende im Ausschuss für konstitutionelle Fragen (AFCO).
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Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens – Artikelübersicht
- Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Serienauftakt
- Für eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten und ein neues Europawahlrecht: Wege und Irrwege der Demokratie in der EU ● Frank Decker
- Noch nicht ausgemustert: Gezielte Reformen können das Spitzenkandidaten-Verfahren wieder erfolgreich machen ● Julian Rappold
- Die Europawahl darf keine Wundertüte sein: Für eine rechtliche Verankerung des Spitzenkandidaten-Prinzips ● Gaby Bischoff
- Wiederbelebung des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Was können die europäischen Parteien selbst tun? [EN / DE] ● Gert-Jan Put
- Das Spitzenkandidaten-System: ein Blick aus Tallinn [EN / DE] ● Piret Kuusik
- Wissen, wer was tun wird: Transnationale Listen können das Spitzenkandidaten-System retten [FR / DE] ● Charles Goerens
- Das Polarisierungsdilemma: Streit zwischen den Parteien belebte 2019 den Europawahlkampf – und ließ dann die Spitzenkandidaten scheitern ● Manuel Müller
Bilder: Spitzenkandidaten-Debatte: European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr; Porträt Gaby Bischoff: European Union 2019 – Source: EP.
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