- „Einen Automatismus zu Vertragsänderungen wird es ebenso wenig geben wie eine reine Alibiveranstaltung. Die Wahrheit liegt wie so oft dazwischen.“
Betrachtungen über die Zukunft Europas haben selten einen positiven Anlasspunkt. Mit ihrer Erklärung von Laeken über die Zukunft Europas im Dezember 2001 standen die Staats- und Regierungschefs vor den vorläufigen Trümmern des Vertrags von Nizza. Im Juli 2003 schloss daraufhin der Konvent zur Zukunft Europas seine Beratungen ab, nur um kurz darauf das Scheitern des Verfassungsvertrags mit ansehen zu müssen.
Nachdem der aus der Not geborene Lissabonner Vertrag nach langen Wirren schließlich doch in Kraft getreten war, begann die EU im Mai 2012 mit einer breit angelegten Debatte über die Zukunft Europas. Für das Vereinigte Königreich kam diese Debatte freilich zu spät. Hier sprach sich im Juni 2016 eine Mehrheit der Bevölkerung für den Brexit aus. Im März 2017 reagierte die Europäische Kommission auf den ersten Austritt eines EU-Mitgliedstaates mit einem mehr als unscharfen Weißbuch zur Zukunft Europas und startete obendrein im Mai 2018 eine Online-Konsultation zur Zukunft Europas.
Wieder einmal eine Krise
Nun also eine Konferenz zur Zukunft Europas. Auch diesmal sind die Anlasspunkte Besorgnis erregend: Der Rechtsstaat in einigen Mitgliedsländern erodiert, die europäische Flüchtlingspolitik ist ein humanitäres Desaster, das Spitzenkandidatenmodell ist krachend gescheitert, die Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen sind festgefahren und über allem liegen die noch nicht abzusehenden Folgen der globalen Coronapandemie. Europa befindet sich in der Krise, in einer ernsten Krise sogar.
Doch wann ging es der europäischen Integration jemals wirklich gut? Man könnte sogar behaupten, die heutige Europäische Union sei geradezu das Ergebnis einer immer wiederkehrenden Abfolge von größeren und kleineren Krisen – aber eben auch deren Überwindung.
Ambivalente Erwartungen unter Stakeholdern
Die alles entscheidende Frage lautet daher: Ist die Konferenz zur Zukunft Europas in der Lage, einen nennenswerten Beitrag zur Überwindung der aktuellen Krise beizutragen? Die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), das European Policy Center (EPC) und das Institut für Organisationskommunikation (IFOK) haben hierzu im August 2020 unter europapolitischen Stakeholdern eine Befragung durchgeführt.
Die Ergebnisse befördern ein ambivalentes, letztlich jedoch sehr realistisches Bild der Konferenz zutage. Einerseits spricht sich ein hoher Anteil (63 Prozent) der Befragten dafür aus, dass die Konferenz grundsätzlich auch in Vertragsänderungen münden solle. Andererseits herrscht Skepsis darüber, ob es im Rahmen der Konferenz überhaupt zu substanziellen Ergebnissen kommen kann. Immerhin 34 Prozent der Befragten stellen dies in Zweifel. Weitere 42 Prozent sind unentschlossen. Lediglich 22 Prozent sind davon überzeugt, dass die Konferenz tatsächlich die Zukunft Europas prägen wird.
Skepsis erscheint angebracht
Betrachtet man den Entstehungsprozess der Konferenz, erscheint Skepsis tatsächlich angebracht. Den Anstoß für die Konferenz gab seinerzeit die designierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer „Agenda für Europa“. Die Konferenz war ganz ohne Zweifel ihr „Wahlversprechen“ an die Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Diese nahmen die Initiative von der Leyens dankend auf und entwickelten in Folge ebenso präzise wie ehrgeizige Vorschläge.
Das Europäische Parlament orientierte sich dabei stark am Konventsformat und sprach ein klares Bekenntnis zu Vertragsänderungen aus. Beides lehnte der Europäische Rat auf seiner Tagung im Juni 2020 unmissverständlich ab. Seither wird zwischen den Organen über Inhalt und Mandat der Konferenz fast genauso leidenschaftlich gestritten wie über die Personalie ihres Vorsitzes.
Supranationalisten gegen Intergouvernementalisten
Wir erleben somit einen klassischen Konflikt zwischen Supranationalisten und Intergouvernementalisten. Aus Sicht der Supranationalisten ist der Zustand europäischen Regierens durchweg besorgniserregend. Sie wünschen sich eine EU mit einem effektiven und parlamentarisch abgesicherten Entscheidungszentrum, welches einen Großteil nationalstaatlicher Aufgaben übernimmt und dabei einen immer stärkeren Schwerpunkt politischer Identifikation darstellt. Zielpunkt der europäischen Integration sind demnach die Vereinigten Staaten von Europa.
Intergouvernementalisten hingegen sehen die Kontrolle über die Richtung des europäischen Integrationsprozesses allein bei den Mitgliedstaaten. Sie sind und bleiben die Herren der Verträge. Die Abgabe nationalstaatlicher Souveränität erfolgt stets interessengeleitet und ist das Ergebnis harter Verhandlungen und kluger Paketlösungen.
Die Debatte in die Breite der Gesellschaft tragen
Die Wahrheit liegt wie so oft dazwischen. Dies gilt auch für die Konferenz. Einen Automatismus zu supranationalen Vertragsänderungen wird es ebenso wenig geben wie eine rein intergouvernementale Alibiveranstaltung mit pseudo-partizipativen Elementen. Um aus den divergierenden Positionen dennoch einen Kompromiss mit Potenzial werden zu lassen, sollte die Konferenz unbedingt selber über ihre inhaltliche Ausrichtung und Reichweite entscheiden.
Dies gilt auch für die Frage der Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft und hier vor allem einer angemessenen Repräsentation zivilgesellschaftlicher Organisationen aus den Kandidatenstaaten Südosteuropas. Denn nur eine Konferenz, die in der Lage ist, die europapolitische Debatte in die Breite der Gesellschaft zu tragen, kann am Ende einen echten Mehrwert für die Zukunft Europas erbringen.
Darin sind sich im Übrigen auch die Befragten der oben erwähnten Umfrage einig. Auf die Frage nach dem bestmöglichen Ergebnis der Konferenz heben diese das Potenzial hervor, die Solidarität zwischen den europäischen Nationen zu stärken und das Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger für die EU zu festigen. Ist das denn nichts in Zeiten der Krise? Also: Lasset die Konferenz beginnen!
Dr. Oliver Schwarz arbeitet am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen (UDE). Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Europäische Integration und Europapolitik. |
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