28 Oktober 2014

Warum die Sozialdemokraten bei der Europawahl die meisten Stimmen holten, aber nicht die stärkste Fraktion wurden

Die Sozialdemokraten gewannen bei der Europawahl mehr Stimmen als jede andere Partei. Allerdings in den falschen Ländern.
Noch nie war ein Europawahlkampf so sehr als Duell inszeniert worden wie dieser. Nicht nur lagen die beiden größten europäischen Parteien, die christdemokratische EVP und die sozialdemokratische SPE, in den Umfragen nahezu gleichauf. Mit Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) und Martin Schulz (SPD/SPE) hatten sie erstmals auch Spitzenkandidaten aufgestellt, die in Fernsehdebatten gegeneinander antreten konnten. Knapp zwei Monate vor der Wahl trafen die Chefs der beiden Fraktionen zudem eine Art Koalitionsabsprache: Der Spitzenkandidat, der bei der Europawahl das bessere Ergebnis einfahren würde, sollte auch die Unterstützung der jeweils anderen Seite erhalten.

Am Ende erreichte die EVP 221 Sitze, die sozialdemokratische S&D 191. In der Folge stellte sich die sozialdemokratische Fraktion deshalb hinter Juncker und verteidigte seine Kandidatur auch gegen einige Widerstände im Europäischen Rat. Wenn der EVP-Spitzenmann in wenigen Tagen das Amt des Kommissionspräsidenten antreten wird, so verdankt er dies letztlich also vor allem dem Umstand, dass im Europäischen Parlament und in der Öffentlichkeit niemand bezweifelte, dass seine Partei als Sieger aus der Europawahl hervorgegangen war.

Was dabei allerdings kaum beachtet wurde: Die EVP wurde bei der Europawahl zwar die stärkste Fraktion im Europäischen Parlament, die meistgewählte Partei aber war sie nicht. All ihre nationalen Mitgliedsparteien erhielten zusammen 40,3 Millionen Stimmen (26,67 %) – und damit etwas weniger als die Sozialdemokraten, die auf europaweit 40,4 Millionen Stimmen (26,74 %) kamen. Dass sich diese äußerst knappe Niederlage nach Stimmen am Ende in einen doch recht deutlichen Sieg nach Sitzen verwandelte, haben die Christdemokraten dem europäischen Wahlsystem zu verdanken.

Die Verzerrungsfaktoren im europäischen Wahlsystem

Bekanntlich ist die Europawahl technisch eigentlich die Summe von 28 nationalen Einzelwahlen: Jeder Mitgliedstaat hat im Parlament ein festes Sitzkontingent, das bei der Wahl zwischen den nationalen Wahllisten verteilt wird. Eine länderübergreifende Verrechnung der Stimmen findet nicht statt. Dies kann dazu führen, dass in manchen Ländern weniger Stimmen für ein Mandat notwendig sind als in anderen, was vor allem an zwei Faktoren liegt:

● Zum einen sind die nationalen Sitzkontingente der Mitgliedstaaten nicht direkt von der Zahl der Einwohner abhängig. Stattdessen gilt der Grundsatz der „degressiven Proportionalität“, nach dem grundsätzlich zwar größere Länder mehr Sitze erhalten als kleinere, kleinere aber mehr Sitze pro Einwohner als größere. Die beiden Extreme bilden dabei Malta mit sechs Abgeordneten (einer pro 65000 Einwohner) und Deutschland mit 96 (einer pro 850.000 Einwohner). Diese Regelung soll sicherstellen, dass auch kleinere Länder mit der ganzen Vielfalt ihrer Parteienlandschaft im Parlament vertreten sein können. Gleichzeitig führt sie aber auch dazu, dass Mandate in kleineren Ländern „billiger“ sind.

● Zum anderen berücksichtigen die festen nationalen Sitzkontingente auch nicht die unterschiedliche Wahlbeteiligung in den einzelnen Mitgliedstaaten. Deren Höhe schwankt beträchtlich – bei der Europawahl in diesem Jahr zwischen 13 Prozent in der Slowakei und 90 Prozent in Belgien. Unter ansonsten gleichen Umständen sind bei einer niedrigen Wahlbeteiligung aber natürlich weniger Stimmen für ein Mandat notwendig als bei einer hohen.

Beide Faktoren zusammen bewirken eine gewisse Verzerrung zwischen Stimmen- und Sitzanteil der europäischen Parteien. Parteien, die vor allem in kleineren Mitgliedstaaten oder in Mitgliedstaaten mit einer niedrigen Wahlbeteiligung erfolgreich sind, haben im Parlament mehr Sitze, als ihrem europaweiten Stimmenanteil entspräche. Parteien, die in größeren Mitgliedstaaten oder in Staaten mit hoher Wahlbeteiligung gut abschneiden, sind im Parlament hingegen unterproportional repräsentiert.

Nirgendwo sind Mandate so teuer wie in Italien

Wie aber wirkten sich diese Verzerrungen nun konkret auf die diesjährige Europawahl aus? Um dies herauszufinden, habe ich die Ergebnisse aller Mitgliedstaaten – nach Stimmen und nach Sitzen – in einer Tabelle zusammengetragen, die hier im Detail online eingesehen werden kann.

Betrachtet man zunächst nur die unterschiedlichen Mitgliedstaaten, so zeigen sich auf den ersten Blick die Verzerrungen durch das Prinzip der degressiven Proportionalität: Während im kleinen Malta nicht einmal 40.000 Stimmen für den Gewinn eines Mandats erforderlich waren, waren es im großen Deutschland über 300.000. Doch auch die Wahlbeteiligung schlägt deutlich ins Gewicht: So ist das Land mit der geringsten Beteiligung, die Slowakei, zugleich auch das Land mit den „billigsten“ Sitzen überhaupt. In Belgien, wo ein besonders hoher Anteil der Wahlberechtigten bei den Urnen erschien, waren hingegen pro Sitz fast ebenso viele Stimmen nötig wie in Deutschland.

Luxemburg, fast ebenso klein wie Malta, erscheint dank seiner hohen Wahlbeteiligung insgesamt im Mittelfeld – deutlich vor dem großen Polen. Mit Abstand am „teuersten“ aber waren die Stimmen in Italien, das nicht nur das viertgrößte Mitgliedsland ist, sondern bei der Europawahl auch die fünfthöchste Beteiligung hatte. Im Durchschnitt waren für jeden italienischen Sitz deshalb mehr als 350.000 Stimmen notwendig.


Land Stimmen Sitze Stimmen
pro Sitz
Rang Wahlbeteiligung Rang
Italien
25.761.998
73
352.904
(1)
57 %
(5)
Deutschland
28.842.650
96
300.444
(2) 48 % (9)
Belgien
6.060.961
21
288.617
(3) 90 % (1)
Luxemburg
928.410
6
154.735
(11) 86 % (2)
Österreich
2.638.781
18
146.599
(12) 45 % (11)
Polen
6.171.836
51
121.016
(17) 24 % (26)
Tschechien
1.214.247
21
57.821
(22) 18 % (27)
Malta
235.247
6
39.208
(25) 75 % (3)
Slowakei
439.522
13 33.809 (28) 13 % (28)
Gesamt
151.156.052
751
201.273

43 %
Berücksichtigt wurden nur die Stimmen für Parteien, die auch tatsächlich in das Parlament einzogen. Details hier.

Italien war jedoch nicht nur das Land mit den „teuersten“ Mandaten, sondern zugleich auch das Land, in dem die Sozialdemokraten europaweit am besten abschnitten. Der italienische PD (SPE) erhielt nicht weniger als 11,2 Millionen Stimmen und trug damit zu mehr als einem Viertel zu der Gesamtstimmzahl der europäischen Sozialdemokraten bei. Durch die festen Sitzkontingente setzte sich diese hohe Stimmenzahl des PD jedoch nur in 31 Mandate um. (Im Vergleich dazu holte die ungarische Fidesz, die das beste nationale Ergebnis für die EVP erzielte, 12 Sitze mit nicht einmal 1,2 Millionen Stimmen.) Dass sich die sozialdemokratischen Stimmen so stark in Italien ballten, war damit letztlich auch der entscheidende Faktor dafür, dass die EVP und nicht die S&D als stärkste Fraktion aus der Europawahl hervorging.

Die rechtskonservative ECR profitiert

Aber nicht nur im Wettrennen zwischen S&D und EVP sorgte das Wahlsystem für Verzerrungen bei der Europawahl. Auch bei den kleineren Fraktionen schlugen sich die degressive Proportionalität und die unterschiedliche Wahlbeteiligung auf die Sitzanteile nieder. Da in allen Fraktionen sowohl Abgeordnete aus „teuren“ als auch aus „billigen“ Mitgliedstaaten sitzen, werden die Effekte zwar teilweise wieder ausgeglichen. Dennoch waren sie auch hier deutlich genug, um die Größenreihenfolge der Fraktionen zu verschieben.

Ginge es allein nach dem europaweiten Stimmenanteil, hätte das Mitte-Links-Bündnis im Parlament eine klare Mehrheit.
Am meisten profitieren konnte dabei die rechtskonservative ECR, in der die Tories aus Großbritannien und die PiS aus Polen das Gros der Fraktionsmitglieder stellen: beides große Länder, die aber eine eher niedrige Wahlbeteiligung aufweisen. Zudem umfasst die ECR auch zahlreiche Abgeordnete aus anderen östlichen Mitgliedstaaten, wo sowohl Bevölkerungszahl als auch Wahlbeteiligung niedrig sind. Insgesamt benötigte sie deshalb im Durchschnitt nur gut 170.000 Stimmen pro Sitz, so wenig wie sonst keine Fraktion. Mit einem europaweiten Stimmenanteil von 7,89 Prozent eroberte sie 9,32 Prozent der Mandate im Europäischen Parlament – und überholte damit sowohl die liberale ALDE als auch die linke GUE/NGL, die jeweils mehr Stimmen auf sich hatten vereinen können.

Fraktion Stimmen Stimmen-
anteil
Sitze
(ideal)
Sitze
(real)
Sitzanteil Stimmen
pro Sitz
GUE/NGL
12.490.691
8,26 %
62 52
6,92 %
240.206
G/EFA
11.591.961
7,67 %
58 50
6,66 %
231.839
S&D
40.422.269
26,74 %
201 191 25,43 %211.635
ALDE
13.352.949
8,83 %
66 67 8,92 %199.298
EVP
40.317.624
26,67 %
200 221 29,43 %182.433
ECR
11.933.605
7,89 %
59 70
9,32 %
170.480
EFDD
11.018.824
7,29 %
55 48
6,39 %
229.559
Fraktionslose
10.028.129
6,63 %
50 52
6,92 %
192.849
Gesamt
151.156.052

751 751
201.273
Sitzverteilung wie bei Konstituierung des Parlaments. Berücksichtigt wurden nur die Stimmen für Parteien, die auch tatsächlich in das Parlament einzogen. „Sitze (ideal)“ steht für die Sitzzahl, die bei direkt-proportionaler Verteilung dem gesamteuropäischen Stimmenanteil der Fraktion entspräche. Details hier.

Nachteile für Linke, Grüne und Europaskeptiker

Nachteilig wirkte sich das Europawahlsystem hingegen auf die Fraktionen im linken Teil des politischen Spektrums aus. So benötigte die linke GUE/NGL etwas über 240.000 Stimmen pro Mandat, die grüne G/EFA immerhin noch etwas über 230.000. Beide Fraktionen erhielten deshalb deutlich weniger Sitze, als ihnen bei einer direkt-proportionalen Verteilung auf Grundlage der gesamteuropäischen Stimmenanteile zugestanden hätten. Der wesentliche Grund dafür dürfte sein, dass sowohl Linke als auch Grüne in den östlichen Mitgliedstaaten nur sehr schwach vertreten sind – also genau dort, wo es viele kleine Länder mit niedriger Wahlbeteiligung gibt.

Und auch die nationalpopulistische EFDD konnte nicht vom europäischen Wahlsystem profitieren, wobei die Gründe recht ähnlich waren wie bei den Sozialdemokraten: Von den gut 11 Millionen Stimmen, die die Mitgliedsparteien dieser Fraktion auf sich vereinten, stammten nämlich mehr als die Hälfte (5,8 Millionen) aus Italien. Interessanterweise erhielt das italienische M5S damit auch deutlich mehr Stimmen als die zweite große EFDD-Partei, die britische UKIP (4,4 Millionen). Doch dank der niedrigen Wahlbeteiligung in Großbritannien stellt die UKIP insgesamt 24 Abgeordnete, während das M5S nur auf 17 Mandate kommt.

Unterschiede auch zwischen den deutschen Kleinparteien

Die Fraktion, bei der sich Stimmen und Sitze insgesamt am besten decken, ist die liberale ALDE: Mit einem europaweiten Stimmenanteil von 8,83 Prozent holte sie 8,92 Prozent der Mandate. Bei näherem Hinsehen fallen aber auch hier einige recht krasse Unterschiede zwischen den einzelnen nationalen Mitgliedsparteien auf. So gewannen die britischen Liberaldemokraten aufgrund der kleinen regionalen Wahlkreise in Großbritannien mit fast 1,1 Millionen Stimmen nur einen einzigen Sitz das mit Abstand „teuerste“ Mandat im gesamten Parlament. Im Gegensatz dazu benötigte der Abgeordnete der slowenischen Partei DeSUS (ALDE) für seinen Sitz nur etwas mehr als 32.000 Stimmen. Von allen Parteien am „billigsten“ kamen aber die zyprische EDEK (SPE), die für ihr Mandat nicht einmal 20.000 Stimmen brauchte, und die slowakische SDKU (EVP) davon, die mit gut 44.000 Stimmen zwei Mandate eroberte.

Aber auch innerhalb eines einzelnen Landes gibt es in Folge von Rundungsproblemen teils deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Listen. Dies gilt insbesondere für die sieben deutschen Kleinparteien, die auf nationaler Ebene zwischen 0,6 und 1,5 Prozent erreichten und damit jeweils genau einen Abgeordneten stellen konnten. Die beiden kleinsten von ihnen, die PARTEI (fraktionslos) und die ödp (G/EFA), benötigten dafür jeweils nur rund 185.000 Stimmen; die beiden größten, FW (ALDE) und Piraten (G/EFA), hingegen mehr als 425.000.

Signal für die Wahlkampfstrategen der europäischen Parteien?

Was lässt sich daraus für künftige Europawahlen lernen? Zunächst einmal schreien die krassen Stimmgewichtsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten natürlich danach, von den Wahlkampfstrategen der europäischen Parteien ausgenutzt zu werden. Denn wer vor allem daran interessiert ist, den Sitzanteil der eigenen Fraktion im Europäischen Parlament zu erhöhen, der sollte sich natürlich möglichst auf jene Mitgliedstaaten konzentrieren, in denen Mandate besonders einfach zu holen sind: also auf Länder wie die Slowakei, Tschechien oder Polen, gewissermaßen das europäische Pendant zu den US-amerikanischen swing states.

Dass es in absehbarer Zukunft tatsächlich in großem Maße zu einer solchen Konzentration von Wahlkampfmitteln kommt, ist aber wohl eher unwahrscheinlich. Denn auch wenn etwa die Grünen schon seit längerem versuchen, in den östlichen Mitgliedstaaten besser Fuß zu fassen, sind alle europäischen Parteien bislang finanziell und personell nur recht schwach ausgestattet. Und da ihren nationalen Mitgliedsverbänden das Hemd dann meist doch näher ist als der Rock, führt zuletzt jeder von ihnen seinen eigenen nationalen Wahlkampf – selbst wenn das bedeutet, als gesamteuropäische Fraktion im Europäischen Parlament unterrepräsentiert zu sein.

Zeit, über ein neues Wahlsystem nachzudenken

Was aber bedeuten die Verzerrungen durch das Europawahlsystem für die Legitimität des Europäischen Parlaments insgesamt? Bekanntlich diente die degressive Proportionalität dem deutschen Bundesverfassungsgericht als Argument, um dem Europäischen Parlament im Lissabon-Urteil (Rn. 284ff.) den Charakter als demokratische europäische Volksvertretung abzusprechen. In meinen Augen schoss es dabei zwar etwas über das Ziel hinaus, wie ein Vergleich mit anderen Ländern zeigt: So hat zum Beispiel das spanische Abgeordnetenhaus, das degressiv-proportional nach Provinzen getrennt gewählt wird, ein grundsätzlich ganz ähnliches Wahlsystem wie das Europäische Parlament (nur dass die Größenunterschiede zwischen den Provinzen etwas weniger krass ausfallen als zwischen den EU-Mitgliedstaaten). Bei Ländern mit reinem Mehrheitswahlrecht, etwa Großbritannien oder Frankreich, sind sogar noch viel größere Verzerrungen zwischen nationalem Stimmen- und Sitzanteil üblich. Die Unvollkommenheiten des Europawahlrechts als Argument gegen eine weitere Stärkung des Europäischen Parlaments in Stellung zu bringen, scheint mir deshalb kein allzu überzeugender Ansatz.

Und dennoch: Wenn man die EU zu einer lebendigen überstaatlichen Parteiendemokratie entwickeln will, kann das derzeitige System fester nationaler Sitzkontingente auf die Dauer keine Lösung sein. Es wird Zeit, über neue Wahlverfahren nachzudenken. Einen wesentlichen Anstoß dafür gab vor zwei Jahren der sogenannte Duff-Bericht, in dem sich der Verfassungsausschuss des Europäischen Parlaments dafür aussprach, dass ein Teil der Europaabgeordneten künftig nicht mehr über nationale, sondern über gesamteuropäische Listen gewählt werden sollte.

Leider verlief dieses Vorhaben später im Sand; eine Abstimmung im Plenum wurde vertagt und dann niemals durchgeführt. In der Wahlperiode, die nun begonnen hat, sollte das Parlament sich die Wahlrechtsreform deshalb erneut vornehmen. Damit bei der Europawahl 2019 dann auch wirklich die Partei mit den meisten Stimmen der Sieger ist.

Bilder: by European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; eigene Grafik.

20 Oktober 2014

Der Weltstaat und die Vereinten Nationen: Nicht, ob wir ein globales Regime wollen, sondern wie es aussehen soll

Wenn der Weltstaat eine Flagge hätte, sollte sie himmelblau sein.
Der Weltstaat hat keine gute Konjunktur. Betrachtet man die Verwendung des Begriffs über die Zeit, so zeigt sich ein recht deutliches Muster: Intensive Diskussionen über ein globales Regime gab es vor allem dann, wenn gerade ein Weltkrieg die Erde verwüstete (oder, wie Anfang der 1960er Jahre, die Konfrontation der Supermächte eine solche Verwüstung wenigstens wahrscheinlich erscheinen ließ) und die Überwindung der souveränen Nationalstaaten als Lösung für einen dauerhaften Frieden gesehen wurde. Auch in den Jahren nach 1990, als nach dem Ende des Ost-West-Konflikts plötzlich alles möglich schien, war die Idee eines Weltstaats noch einmal populär. Seit der Jahrtausendwende aber ist es ruhiger geworden um sie.

Und nicht nur, dass der Weltstaat als unrealistisch angesehen wird – auch über die Frage, ob er überhaupt wünschenswert sei, besteht alles andere als Konsens. Eine globale Zentralgewalt, deren Gesetze auf dem gesamten Erdball gelten würden, erscheint vielen jedenfalls eher als Alptraumszenario denn als friedenspolitische Verheißung.

Globale Verflechtungen schaffen Regelungsbedarf

Womöglich aber ist die Frage nach dem Weltstaat ohnehin falsch gestellt. Denn tatsächlich sind die gesellschaftlichen Verflechtungen auf globaler Ebene heutzutage so groß, dass kaum jemand ernsthaft die Notwendigkeit eines Mindestmaßes gemeinsamer globaler Regeln in Zweifel ziehen würde: Der rapide Anstieg des Welthandels und seine Auswirkungen auf die nationalen Lohn- und Sozialordnungen, die Stabilität des internationalen Finanzsystems, die neuen Migrations- und Flüchtlingsströme, Steuerflucht und Steuerhinterziehung, der internationale Terrorismus und die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, der Klimawandel und die beschleunigte globale Verbreitung von Epidemien sind nur einige der Themen, mit denen jeder Einzelstaat notwendigerweise überfordert ist. Nicht zufällig hat sich deshalb (gleichzeitig zum Niedergang des Begriffs Weltstaat) seit den 1990er Jahren das Schlagwort der Global Governance verbreitet: also die Vorstellung, dass es im Zusammenspiel verschiedener politischer Akteure zu einem „weltweiten Regieren“ kommen muss, auch ohne dass dafür eine formale „Weltregierung“ nötig wäre.

Der wichtigste Ort für dieses „weltweite Regieren“ sind die Vereinten Nationen, die im kommenden Jahr ihren 70. Gründungstag feiern werden. Als weltumspannende Organisation versuchen sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, politische Antworten auf globale Fragen zu geben – ganz wie es sich die frühen Verfechter eines Weltstaats gewünscht hätten. Die Frage ist heutzutage also längst nicht mehr, ob wir ein globales Regime wollen, sondern wie wir dieses globale Regime ausgestalten. Erfüllt es die Kriterien von Effizienz, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die wir an politische Systeme auch auf nationaler oder europäischer Ebene anlegen würden?

Die Hilflosigkeit der Vereinten Nationen

Betrachtet man die Vereinten Nationen unter diesem Aspekt, dann werden schnell ganz andere Probleme deutlich, als man nach der Lektüre klassischer dystopischer Weltstaatsromane vermuten könnte. Der Hauptvorwurf, dem sich die globale Instanz staatlicher Ordnung ausgesetzt sieht, ist nämlich keineswegs ihre übermäßige Macht – sondern, ganz im Gegenteil, ihre frappierende Hilflosigkeit im Auge drängender Probleme. Wenn die Vereinten Nationen kritisiert werden, dann meistens nicht für das, was sie tun, sondern für das, woran sie scheitern: Wenn es wieder einmal zu Krieg und Gewalt kommt, ohne dass der UN-Sicherheitsrat es verhindern konnte. Wenn wieder einmal eine UN-Klimakonferenz endet, ohne dass eine Einigung erreicht wurde. Wenn sich wieder einmal eine Krankheit über den Planeten ausbreitet, ohne dass die Vereinten Nationen Geld zu ihrer Bekämpfung auftreiben können.

Der Grund für diese frappierende Ineffizienz des globalen politischen Systems ist natürlich die fehlende Durchgriffsmacht der UN-Organe. Die regulären Finanzmittel der Vereinten Nationen (einschließlich der sogenannten Pflicht-Beitragsumlagen) betragen nicht einmal 15 Milliarden Dollar im Jahr; alle weiteren Kosten müssen aus freiwilligen Beiträgen der Mitgliedstaaten bestritten werden. Und anders als etwa die EU hat die UN-Generalversammlung auch keine supranationalen Gesetzgebungskompetenzen: Sie kann zwar Resolutionen verabschieden und internationale Verträge entwerfen, aber völkerrechtlich verpflichtend werden diese nur, wenn sie von den Mitgliedstaaten selbst ratifiziert werden.

Eine schwache UNO macht die Mitgliedstaaten nicht freier

Unmittelbare Bindungswirkung haben lediglich die Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats, der sein Mandat zur „Wahrung des Weltfriedens“ in den vergangenen Jahren immer wieder recht weit interpretierte. Doch erstens ist auch dieser für die Umsetzung seiner Resolutionen in aller Regel auf die Kooperation der Nationalstaaten angewiesen. Und zweitens gibt es natürlich die fünf Vetomächte USA, Frankreich, Großbritannien, Russland und China, die immer wieder aus nationalen Eigeninteressen wichtige Entscheidungen blockieren und damit dazu beitrugen, dass die Vereinten Nationen in den größten internationalen Konflikten der letzten Jahre, von Syrien bis zur Ukraine, nur eine Nebenrolle spielten.

Anders als ein begeisterter Anhänger der nationalen Souveränität glauben könnte, ist die Folge dieser Schwäche der UNO aber natürlich nicht etwa eine größere Handlungsfreiheit der einzelnen Mitgliedstaaten. Denn die globalen Probleme verschwinden ja nicht einfach, nur weil es keine globale Instanz gibt, die sich darum kümmern kann. Gewiss, es würde keinem Staat gefallen, wenn er bei den weltweiten Klimaschutzverhandlungen überstimmt werden könnte oder die Vereinten Nationen ihm verbindliche Vorschriften zur Bankenregulierung machen würden. Aber ohne eine handlungsfähige UNO fehlt eben auch ein Akteur, der auf das globale Gesamtinteresse verpflichtet ist – und im Konflikt zwischen den nationalen Eigeninteressen bleiben die Probleme dann entweder ungelöst oder lösen sich auf Kosten der Schwächsten. Das Rodrik-Trilemma, dem zufolge eine nur nationale Demokratie unter den Bedingungen staatenübergreifender gesellschaftlicher Verflechtungen nicht funktionieren kann, gilt für die globale Ebene nicht weniger als für die EU.

Die Macht des Sicherheitsrats und der Grundrechtsschutz

Die Hilflosigkeit der Vereinten Nationen gegenüber der Souveränität ihrer Mitgliedstaaten ist aber nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht ihre schon heute oft erschreckende Macht gegenüber den einzelnen Menschen, die sich unter ihrer Kontrolle befinden. So kam es in den letzten Jahren immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen durch UN-Personal und Angehörige von UN-Friedenstruppen. Immerhin aber besteht Einigkeit darüber, dass es sich dabei um ein Übel handelt, das bekämpft werden muss. 2007 richteten die Vereinten Nationen dafür eine Conduct and Discipline Unit ein, die in entsprechenden Fällen ermittelt und gegebenenfalls Disziplinarmaßnahmen ergreift. (Die Strafverfolgung hingegen bleibt mangels Kompetenz der UNO den jeweiligen Nationalstaaten überlassen.)

Von einem rechtspolitischen Standpunkt noch gravierender dürfte deshalb eine andere Entwicklung sein: nämlich die Resolutionen, die der UN-Sicherheitsrat seit 2001 zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus verabschiedet hat. Unter anderem enthalten diese eine Liste von Personen, die der Sicherheitsrat für Al-Qaida-Mitglieder hält, und die völkerrechtlich bindende Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, sämtliche Finanzmittel von allen Personen auf dieser Liste einzufrieren. Eine Möglichkeit, gegen diese Einstufung als Terroristen gerichtlich vorzugehen, haben die Betroffenen wenigstens auf UN-Ebene nicht – was natürlich gegen grundlegende Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstößt.

In den berühmten Kadi-Urteilen, über die ich in diesem Blog bereits ausführlicher berichtet habe, beschloss der Gerichtshof der Europäischen Union deshalb, Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats unter eine Art generellen Grundrechtsvorbehalt zu stellen. Das aber löst das Problem natürlich allenfalls für die Bürger der EU. Die Vereinten Nationen (speziell der Sicherheitsrat) selbst zeigen hingegen bis heute nur wenig Sensibilität, wenn es um das Austarieren zwischen Terrorbekämpfung und Grundrechtsschutz geht.

Weltverfassungsgericht und Weltparlament

Je mehr supranationale Macht man an die Vereinten Nationen übertragen möchte, desto wichtiger wird es auch, sie demokratisch und rechtsstaatlich auszugestalten. Das bedeutet zum einen, dass es auch auf UN-Ebene eine wirksame Gewaltenteilung mit Grundrechtsschutz geben muss: Der Sicherheitsrat kann nicht Legislative, Exekutive und Judikative in einem sein. Stattdessen bräuchten wir eine Art Weltverfassungsgericht, das dem Einzelnen einen Rechtsweg gegen UN-Beschlüsse eröffnet und darauf achtet, dass die Organe der Vereinten Nationen ihr Mandat nicht überschreiten.

Zum anderen müssten die Bürger auch selbst mehr Möglichkeiten bekommen, ohne Vermittlung durch die nationalen Regierungen an der Ausgestaltung der UN-Rechtsordnung teilzuhaben. Ein Mittel dafür könnten die globalen Parteien (oder „Internationalen“) sein, die ein System der politischen Repräsentation auf Grundlage weltanschaulicher Überzeugungen anstelle nationaler Staatsangehörigkeiten ermöglichen würden. Damit die globalen Parteien ihr heutiges Schattendasein überwinden können, benötigen sie allerdings zunächst einmal ein Forum, auf dem sie politisch wirksam sein könnten – ein UN-Parlament oder wenigstens eine globale Parlamentarische Versammlung.

Hat hier jemand Weltstaat gesagt? Wir brauchen den Weltstaat nicht als Wert an sich oder als abstrakten, utopischen großen Wurf. Was wir brauchen, ist eine stärkere, handlungs- und durchsetzungsfähigere UNO, die es uns ermöglicht, globale Probleme zu lösen, und die gleichzeitig bestimmte rechtsstaatliche und demokratische Minimalstandards erfüllt. Aber wenn das, was dabei herauskommt, dann Ähnlichkeit mit dem hat, was wir als einen „föderalen Weltstaat“ bezeichnen würden, so sollten wir uns jedenfalls auch nicht deshalb von unserem Vorhaben abbringen lassen.

Am 24. Oktober ist der Tag der Vereinten Nationen. Vom 17. bis 26. Oktober 2014 findet deshalb die zweite „Globale Aktionswoche für ein Weltparlament“ statt, mit rund vierzig Veranstaltungen auf fünf Kontinenten. Mehr Informationen dazu sind hier zu finden (oder auf Twitter unter dem Hashtag #worldparlnow).

Bilder: by Angelina Earley (daedrius) [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; by organisers of the Global Week of Action for a World Parliament, via worldparliamentnow.org.

10 Oktober 2014

Der Fall Fajon: Auf dem langen Weg zu einer parlamentarischen EU-Regierung

Tanja Fajon (SD/SPE) hat die Mehrheit im Europäischen Parlament hinter sich. Ob das reicht, um Kommissarin zu werden?
Im Europäischen Parlament geht eine turbulente Woche ihrem Höhepunkt entgegen. Die Anhörungen der designierten Mitglieder der neuen EU-Kommission, schon in der Vergangenheit wiederholt Anlass zu heftigen Debatten, wurden dieses Jahr mit noch mehr Eifer geführt als sonst. Nach einigen Aufwallungen rauften sich zuletzt die beiden großen Fraktionen, die christdemokratische EVP und die sozialdemokratische S&D, erwartungsgemäß zu einer gemeinsamen Linie zusammen. Daraus entstand allerdings gleich der nächste Streit, diesmal mit der liberalen Fraktion ALDE und der slowenischen Regierung. Am Ende aber könnte es sein, dass dem Parlament mit all den Diskussionen ein kleiner, aber wichtiger Schritt in Richtung einer demokratischeren EU gelingt.

Die Anhörungen im Europäischen Parlament

Die Hintergründe für die jüngsten Debatten habe ich an dieser Stelle erst vor einigen Tagen näher beschrieben. Bevor die neue EU-Kommission ihr Amt übernimmt, müssen sich ihre vom Ministerrat designierten Mitglieder einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments unterziehen. Die Abgeordneten nutzen dies traditionell, um die Bewerber auf einen Kommissarsposten ausführlich zu befragen und ihnen einige inhaltliche Zugeständnisse abzuringen. Außerdem können sie den Rat informell auffordern, ganz inakzeptabel erscheinende Kandidaten auszutauschen, was 2004 und 2010 auch schon vorgekommen ist. Die entscheidende Rolle spielen dabei stets die beiden großen Fraktionen EVP und S&D, da es faktisch unmöglich ist, ohne sie eine Mehrheit für die neue Kommission zu bilden.

Dieses Jahr nun verwehrten die Abgeordneten zunächst gleich einer ganzen Reihe von Kommissarsanwärtern ihre Zustimmung. Dahinter verbargen sich allerdings in erster Linie parteitaktische Spiele: Unter den Kandidaten gab es sowohl einige EVP-Mitglieder (etwa den Spanier Miguel Arias Cañete) als auch einige Sozialdemokraten (etwa den Franzosen Pierre Moscovici), die für die Anhänger der jeweils anderen Partei nur schwer zu akzeptieren waren. Die Fraktionen stellten deshalb die Bestätigung für diese Kandidaten zunächst zurück, um sie schließlich in einem Gesamtpaket geschlossen durchzuwinken. Lediglich Tibor Navracsics (Fidesz/EVP), in dessen Ressort auch der Bereich „Unionsbürgerschaft“ fallen sollte, erhielt keine komplette Freigabe: Als Ex-Mitglied der umstrittenen ungarischen Regierung unter Viktor Orbán hielten ihn die Parlamentarier zwar grundsätzlich als Kommissar geeignet, aber nicht für ein „wertebasiertes Portfolio“.

Kandidatur und Rückzug der Alenka Bratušek

Zum eigentlichen Politikum aber wurde die Kandidatin für das Amt der Vizepräsidentin für die Energieunion, die Slowenin Alenka Bratušek (ZaAB/ALDE). Anders als Cañete, Navracsics oder Moscovici gehört Bratušek keiner der beiden großen Parteien an, sondern der liberalen ALDE – die zwar eng mit EVP und S&D zusammenarbeitet, für eine Mehrheit im Parlament jedoch nicht zwingend notwendig ist.

Hinzu kam eine etwas dubiose Vorgeschichte der Kandidatin: Diese war bis vor wenigen Monaten noch slowenische Premierministerin, hatte dann jedoch im Juli krachend die nationalen Parlamentswahlen verloren. Bevor ihr Nachfolger Miro Cerar (von der erst 2014 gegründeten, auf europäischer Ebene nicht vernetzten Partei SMC) die Regierungsgeschäfte übernahm, musste Bratušek als eine ihrer letzten Amtshandlungen allerdings noch das slowenische Mitglied der neuen EU-Kommission vorschlagen. Dafür schickte sie dem Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) eine Liste mit drei Namen, von denen er einen aussuchen sollte: die Europaabgeordnete Tanja Fajon (SD/SPE), der slowenische Außenminister Karl Erjavec (DeSUS/ALDE-nah) – und Bratušek selbst. In Slowenien stieß diese Selbstnominierung teils auf heftige Kritik. Juncker jedoch entschied sich tatsächlich für sie und stellte sie als Energie-Vizepräsidentin auf.

Zum eigentlichen Verhängnis aber wurde der Kandidatin ihre mangelnde Vorbereitung bei der Anhörung im Umweltausschuss des Parlaments. Die Abgeordneten (ohnehin schon verärgert darüber, dass in der neuen Kommission das Ressort Klima dem Energiebereich untergeordnet werden soll) warfen ihr vor, auf entscheidende Fragen keine Antworten zu geben, und stimmten mit großer Mehrheit gegen sie. Und obgleich sowohl Juncker als auch die ALDE-Fraktion Bratušek bis zuletzt zu retten versuchten, erklärte sie am gestrigen Donnerstagnachmittag schließlich ihren Rückzug von der Kandidatur.

Der Vorstoß von EVP und S&D

Damit aber gab sich die Parlamentsmehrheit noch nicht zufrieden. Denn nach dem Aus für Bratušek wird natürlich die Nominierung eines neuen slowenischen Kandidaten notwendig (bzw. einer Kandidatin, um die mühsam erreichte Quote von neun weiblichen Kommissionsmitgliedern zu halten). Und die beiden großen Fraktionen präsentierten auch gleich einen Namen dafür: Tanja Fajon, sozialdemokratische Europaabgeordnete und die zweite Frau auf der ursprünglichen slowenischen Vorschlagsliste. So erklärte die EVP in einer Pressemitteilung, dass Fajon „die Bedingungen perfekt erfüllen“ würde. Die S&D ging sogar noch weiter und kündigte an, „[j]ede andere Option“ würde „der Sozialdemokratischen Fraktion nicht sinnvoll erscheinen“. Was das heißt, ist nicht schwer zu verstehen: Jede andere Kandidatin als Fajon muss damit rechnen, bei der Anhörung ebenso durchzufallen wie Bratušek.

Für eine solch klare Position des Europäischen Parlaments gibt es nur einen einzigen Präzendenzfall: das Spitzenkandidatenverfahren bei der vergangenen Europawahl, wo die Abgeordneten ebenfalls ankündigten, dass sie keinen anderen als den Wahlsieger Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsidenten akzeptieren würden. Doch während damals das Parlament nahezu geschlossen hinter dieser Forderung stand, stieß sie diesmal auf heftige Kritik von Seiten der ALDE-Fraktion. Denn schließlich würde der Wechsel von Bratušek zu Fajon auch bedeuten, dass die Liberalen einen Kommissarsposten weniger, die Sozialdemokraten einen mehr besetzen würden.

Uneinigkeit in der slowenischen Regierung

Und dann gibt es da natürlich auch noch die neue slowenische Regierung unter Miro Cerar. Dieser war bereits im Sommer verärgert gewesen, dass Bratušek sich selbst als Kandidatin aufgestellt hatte. Ihre Ablehnung im Umweltausschuss des Parlaments ist für ihn deshalb auch die Chance, eine eigene, ganz neue Kandidatin ins Spiel zu bringen: Violeta Bulc (SMC/–), Parteifreundin Cerars und seit Mitte September Vizepräsidentin in seiner Regierung. Sofort nachdem die Forderungen der EVP- und S&D-Fraktion bekannt wurden, erklärte er deshalb, er werde kein „Ultimatum“ akzeptieren und selbst über das neue slowenische Kommissionsmitglied entscheiden.

Doch auch in Cerars Kabinett ist die Nominierung umstritten, denn die SMC regiert nicht allein, sondern in einer Koalition mit der ALDE-nahen Rentnerpartei DeSUS – und mit eben jenen Sozialdemokraten, denen auch Tanja Fajon angehört. Noch am heutigen Freitagmorgen gab es deshalb keine klare Entscheidung, wie sich die slowenische Regierung letztlich positionieren würde. Allerdings lief das Gerücht, dass sich Cerar über seine Koalitionspartner hinwegsetzen und Bulc im Alleingang nominieren wolle.

Aus verfassungsrechtlicher Sicht unlösbar

Was ist nun von alledem zu halten? Aus verfassungsrechtlicher Sicht scheint der Konflikt um Fajon und Bulc ebenso wenig zu beantworten wie die Frage der Spitzenkandidaten im Frühsommer. Nach Art. 17 Abs. 7 EU-Vertrag werden die Kommissarskandidaten auf Vorschlag der nationalen Regierungen vom Ministerrat nominiert und vom Europäischen Parlament bestätigt. An welche politischen Bedingungen das Parlament diese Bestätigung knüpft, bleibt hingegen ganz den gewählten Abgeordneten überlassen: Wenn sie sich darauf verlegen wollen, jede Kommission ohne Fajon abzulehnen, so wäre das ihr gutes Recht. Notfalls müsste dann die alte Kommission Barroso weiter die Geschäfte führen, bis der politische Konflikt gelöst ist.

Umgekehrt scheint die Forderung Cerars, das slowenische Kommissionsmitglied selbst zu bestimmen, rechtlich weniger gut gestützt. Selbst wenn es den bisherigen Gepflogenheiten entspricht, dass jede nationale Regierung sich ihren Kommissar frei aussuchen darf: De jure ist es der Ministerrat, der die Kandidaten nominiert. Dies erfolgt zwar „auf der Grundlage der Vorschläge der Mitgliedstaaten“ – doch da Slowenien im Sommer ja bereits eine Vorschlagsliste unterbreitet hat, könnte Cerar sich nicht beklagen, wenn der Rat nun mit Fajon eine der anderen Personen auf dieser Liste auswählt.

Allerdings werden die übrigen Regierungen im Rat nur wenig Interesse daran haben, ihren slowenischen Kollegen solcherart vorzuführen (und überdies einen Präzedenzfall zu setzen, der sich irgendwann gegen sie selbst wenden könnte). Und damit stehen nun alle Zeichen auf eine Machtprobe zwischen der slowenischen Regierung und der Großen Koalition im Europäischen Parlament.

Und die Demokratie?

Und wenn man die verfassungsrechtliche Perspektive verlässt und den Konflikt unter demokratischen Gesichtspunkten betrachtet? Im ersten emotionalen Aufwallen gestern gab es nicht wenige Kommentatoren, die EVP und S&D ein undemokratisches Verhalten vorwarfen; der slowenische ALDE-Abgeordnete Ivo Vajgl (DeSUS) sprach in einer Presseerklärung gar von einer „Kampfansage an die Souveränität Sloweniens“. Denn natürlich sind die Forderungen der Parlamentsmehrheit eine deutliche Veränderung gegenüber dem, was bisher bei der Ernennung der Europäischen Kommission üblich war. Und anders als das Spitzenkandidatenverfahren bei der Europawahl wurden sie auch nicht schon Monate im Voraus angekündigt und öffentlich diskutiert.

Andererseits: Ich selbst habe dem Parlament auf diesem Blog bereits Ende 2012 einmal fast genau diese Vorgehensweise vorgeschlagen (allerdings nicht nur in Bezug auf eine einzelne Kommissarin, sondern auf die gesamte Kommission). Denn in Wirklichkeit ist der Kurs, den die Große Koalition gerade einschlägt, keineswegs undemokratisch, sondern schlicht der Versuch, die Modalitäten eines parlamentarischen Regierungssystems auf europäischer Ebene zu etablieren.

Nur das Parlament ist von allen Unionsbürgern gewählt

Der EU-Vertrag verpflichtet die Mitglieder der Europäischen Kommission auf das europäische Gesamtinteresse. Die nationalen Regierungen hingegen sind durch die demokratischen Wahlmechanismen lediglich ihrer jeweils eigenen nationalen Wählerschaft Rechenschaft schuldig. Die Nominierung der Kommissare durch die Regierungen ist damit an sich bereits ein latenter Widerspruch (was übrigens auch ein europaskeptischer Abgeordneter in einer der Anhörungen letzte Woche treffend zum Ausdruck brachte). Das Europäische Parlament hingegen ist von allen Unionsbürgern gemeinsam gewählt und damit strukturell allen Europäern verantwortlich. Was also läge näher, als dass die Abgeordneten auch die Namen der Kommissionsmitglieder bestimmen sollten?

Auf den konkreten Fall bezogen: Als deutscher, polnischer oder portugiesischer Bürger habe ich keinerlei Einfluss darauf, welche Entscheidung Miro Cerar bezüglich des slowenischen Kommissionsmitglieds trifft. Wie sich die sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament in dieser Frage verhält, kann ich hingegen in meine nächste Europawahlentscheidung einfließen lassen – und bekomme dadurch eine Möglichkeit zur demokratischen Mitbestimmung.

Das Parlament braucht Macht, um Verantwortung zu tragen

Und das gilt natürlich nicht nur für Fajon, sondern auch für die übrigen umstrittenen Kandidaten – seien es die Christdemokraten Miguel Arias Cañete und Tibor Navracsics oder der Sozialdemokrat Pierre Moscovici. Sie alle entziehen sich meinem Einfluss, wenn ich das Prinzip akzeptiere, dass sie ihr Amt in der Europäischen Kommission in erster Linie ihren nationalen Regierungen verdanken. Wenn ich die Verantwortung für ihre Ernennung hingegen im Europäischen Parlament verorte, so wird schnell deutlich, wie ich bei meiner nächsten Wahlentscheidung zu ihnen Stellung beziehen und sie gegebenenfalls abwählen kann.

Nur: Dafür muss die Mehrheit im Europäischen Parlament auch die Macht haben, diese Verantwortung zu tragen. Solange sich die Große Koalition darauf herausreden kann, dass sie nun einmal die Namen akzeptieren musste, die ihr von den nationalen Regierungen vorgelegt wurden, können die übrigen Parteien ihr diese Personalentscheidungen nur schwer zum Vorwurf machen. Die Ernennung Fajons hingegen fiele voll und ganz in die Verantwortung von S&D und EVP. Und gleichgültig, ob Fajon für das Amt besonders gut geeignet ist oder nicht: Allein schon aus diesem Grund täten die ALDE, die übrigen Fraktionen und die demokratisch interessierte Öffentlichkeit gut daran, sich in dem jetzt womöglich anstehenden institutionellen Machtkampf nicht auf die Seite Miro Cerars zu schlagen.

Bilder: by Friends of Europe [CC BY 2.0], via Flickr.

06 Oktober 2014

Koalitionsgespräche auf Europäisch: Zu den Anhörungen der Kommissionskandidaten im Europäischen Parlament

Der designierte Klimakommissar Miguel Arias Cañete (PP/EVP) hat es zuletzt auch auf Twitter zu einiger Bekanntheit gebracht.
Nein, ein triumphaler Durchmarsch ist es nicht gerade, was die designierten Mitglieder der neuen Europäischen Kommission im Europäischen Parlament derzeit erleben. Bei den Anhörungen, die am vergangenen Montag begonnen haben und noch bis zum morgigen Dienstag andauern (mit Livestream auf der Website des Parlaments), stellten sich bislang 21 der 27 Kommissarsanwärter den Fragen der Abgeordneten – und in nicht weniger als sechs Fällen beschlossen diese, ihre Zustimmung zur Ernennung der Kandidaten zunächst zurückzuhalten und von weiteren Informationen abhängig zu machen. Die Aufregung ist deshalb groß, die Sorge vor einem Fehlstart der Kommission macht die Runde. Zugleich sehen sich aber auch die Parlamentarier Kritik ausgesetzt: Verbirgt sich hinter ihrem Zögern nur ein Machtspiel? Dass es bei den Anhörungen nicht immer nur um die fachliche Kompetenz der Kandidaten geht, scheint offensichtlich zu sein. Aber andererseits: Wäre das wirklich ein Problem?

Die Anhörungen im Europäischen Parlament

In aller Kürze zu den Hintergründen des Verfahrens: Nach Art. 17 Abs. 7 EU-Vertrag werden die Mitglieder der neuen Europäischen Kommission von den nationalen Regierungen vorgeschlagen und vom EU-Ministerrat nominiert. Anschließend verteilt der designierte Kommissionspräsident zwischen ihnen die Zuständigkeitsbereiche. Und schließlich müssen sich alle Kandidaten noch einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments stellen. Dabei können die Abgeordneten formal nur das Kollegium als Ganzes annehmen oder ablehnen. Wenn es nur mit einzelnen Kommissaren unzufrieden ist, kann es den Rat vor der Abstimmung aber auch informell auffordern, seinen Vorschlag abzuändern.

Zu diesem Zweck finden die Anhörungen statt, bei denen jeder einzelne Kommissarsanwärter jeweils drei Stunden lang von Mitgliedern der Parlamentsausschüsse befragt wird, die für sein jeweiliges Ressort zuständig sind. Die Ausschüsse geben dann eine Empfehlung, ob sie den Kandidaten für geeignet halten. Auf dieser Grundlage erfolgt zuletzt die entscheidende Abstimmung im Parlamentsplenum. Nach dem derzeitigen Zeitplan ist sie für den 22. Oktober angesetzt – anderthalb Wochen, bevor die neue Kommission am 1. November ihr Amt antreten soll.

In der Vergangenheit nutzte das Parlament sein Zustimmungsrecht bereits mehrfach, um kleinere Änderungen in der Besetzung der Kommission zu erzwingen. 2004 verhinderte es die Ernennung des designierten Justizkommissars Rocco Buttiglione (FI/EVP), der zuvor durch homophobe und sexistische Äußerungen aufgefallen war. 2010 war es die designierte Kommissarin für humanitäre Hilfe, Rumjana Schelewa (GERB/EVP), die vom Parlament wegen unklaren Informationen zu ihren finanziellen Verhältnissen abgelehnt wurde. Daneben musste 2010 auch die Kommissarin für digitale Agenda Neelie Kroes (VVD/ALDE) „nachsitzen“. Nach einer zweiten Anhörung erhielt sie aber doch noch die Bestätigung des Parlaments.

Die Wackelkandidaten

In diesem Jahr allerdings ist die Zahl dieser Nachsitzer so hoch wie noch nie zuvor. Dabei sind die Vorwürfe, mit denen sich die betreffenden Kandidaten auseinandersetzen müssen, durchaus vielfältig:

● Dass der Brite Jonathan Hill (Cons./AECR) als Finanzmarktkommissar designiert wurde, stieß im Parlament von Anfang an auf Kritik. Nicht nur, dass Großbritannien in der Bankenpolitik sehr starke Eigeninteressen hat – der britische Premierminister David Cameron (Cons./AECR) hatte bei seiner Nominierung auch noch explizit erklärt, dass Hill „die britischen Interessen in Brüssel voranbringen“ solle. In seiner Anhörung musste Hill deshalb mehrmals betonen, dass er sich natürlich in erster Linie dem europäischen Gesamtinteresse verpflichtet sehe. Zu seinen konkreten politischen Absichten als Kommissar blieben jedoch zahlreiche Fragen offen, weshalb die Parlamentarier eine neue Anhörung verlangten.

● Auch der Spanier Miguel Arias Cañete (PP/EVP) hatte von Beginn an einen schlechten Stand, nachdem er als nationaler Spitzenkandidat seiner Partei im Europawahlkampf im Mai mit sexistischen Äußerungen aufgefallen war. Hinzu kam, dass der designierte Kommissar für Klima und Energie bis vor kurzem selbst an einem Ölunternehmen beteiligt war – und einige seiner Familienmitglieder dies noch immer sind. In einer turbulenten Anhörung entschuldigte sich Cañete (zum wiederholten Mal) für seine Äußerungen im Wahlkampf, wies den Vorwurf eines Interessenkonflikts jedoch zurück. Die Abgeordneten beschlossen deshalb, den Fall zunächst vom Rechtsausschuss überprüfen zu lassen und ihre Zustimmung bis dahin zurückzustellen.

● Dem Ungar Tibor Navracsics (Fidesz/EVP), designierter Kommissar für Bildung, Kultur, Jugend und Unionsbürgerschaft, wird vor allem seine bisherige Rolle in der ungarischen Regierung unter Viktor Orbán (Fidesz/EVP) vorgeworfen. Als Justizminister und Vizeregierungschef war er seit 2010 an zahlreichen umstrittenen Reformen beteiligt, von denen er sich nun nur mit Mühe distanzierte.

● Der Franzose Pierre Moscovici (PS/SPE) war als Kommissar für Wirtschaft und Finanzen bereits umstritten, bevor er überhaupt offiziell für dieses Amt nominiert worden war: Bereits im Sommer versuchte die deutsche Bundesregierung seine Ernennung zu hintertreiben. Hauptgrund dafür sind unterschiedliche wirtschaftspolitische Überzeugungen. Während Moscovici (ebenso wie die französische Regierung und die meisten europäischen Sozialdemokraten) für die Überwindung der Eurokrise mehr öffentliche Investitionen anstrebt und dafür auch eine höhere Verschuldung der Mitgliedstaaten akzeptieren will, setzt die Bundesregierung (in Übereinstimmung mit den europäischen Christdemokraten) weiterhin auf einen harten Sparkurs und Strukturreformen. Entsprechend war Moscovici auch im Parlament vor allem konservativer Kritik ausgesetzt; schließlich wurde eine zweite Anhörung anberaumt.

● Die designierte Justizkommissarin Věra Jourová (ANO/ALDE) und die Kommissarin für Regionalpolitik Corina Crețu (PSD/SPE) schließlich sahen sich vor allem dem Vorwurf mangelnder Vorbereitung ausgesetzt: Zu unkonkret und unklar seien ihre Antworten geblieben. In beiden Fällen forderten die Abgeordneten deshalb noch weitere Informationen, bevor sie grünes Licht geben.

Was ist von all dem Streit zu halten?

Was also ist von all dem Streit zu halten? Ist die neue Kommission weniger kompetent als ihre Vorgänger? Ist die Strategie des Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) gescheitert, der viele Ressorts gerade an jene Kandidaten verteilte, die dafür wegen ihres nationalen oder politischen Hintergrunds zunächst eher unplausibel erschienen? Oder zerlegt sich gerade die Große Koalition, die sich nach der Europawahl deutlich als altes und neues Machtzentrum im Europäischen Parament abzeichnet hatte?

In meinen Augen sind die Vorgänge, die derzeit in den Anhörungen zu beobachten sind, weitaus weniger dramatisch: Wie die Neue Zürcher Zeitung vor einigen Tagen formulierte, handelt es sich dabei in erster Linie um „parteipolitische Muskelspiele“ – und es ist sehr gut möglich, dass am Ende kein einziger der jetzt umstrittenen Kandidaten auf das Amt, für das er vorgesehen ist, verzichten muss.

Politische Geiselnahme

Betrachtet man den Verlauf der Debatte in den letzten Wochen, wird die parteitaktische Dimension der verzögerten Bestätigungen sehr deutlich. Die beiden Kandidaten, die in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit auf die größte Ablehnung stießen, waren zunächst Cañete und Navracsics. So wandten sich sowohl das European Civic Forum als auch die Junge Europäische Bewegung in offenen Briefen gegen die Ernennung Navracsicsʼ; gegen Cañete gab es unter anderem eine öffentliche Demonstration auf dem Vorplatz des Europäischen Parlaments, eine Online-Petition und den recht erfolgreichen Twitter-Hashtag StopCanete.

Nun gehören Cañete und Navracsics jedoch beide der christdemokratischen Europäischen Volkspartei an – ebenso wie Rocco Buttiglione und Rumjana Schelewa, die 2004 und 2010 in den Anhörungen durchfielen. Hätte das Parlament einem von ihnen die Zustimmung versagt, so wäre dies also bereits das dritte Mal in Folge gewesen, dass ein christdemokratischer Kandidat in den Anhörungen scheitert. Es ist nachvollziehbar, dass die EVP dies nicht auf sich sitzen lassen wollte. Und da Pierre Moscovici mit seiner „linken“ wirtschaftspolitischen Agenda vielen Konservativen ohnehin ein Dorn im Auge ist, nahmen sie ihn nun gewissermaßen als politische Geisel: Sollten die europäischen Sozialdemokraten Cañete oder Navracsics stürzen wollen, so müssten sie damit rechnen, dass im Gegenzug die EVP auch einem der ihren die Zustimmung versagt.

Eine Eskalation würde die ganze Kommission in Frage stellen

Die übrigen „Nachsitzer“ komplettieren dieses Bild: Mit Jourová und Hill sind darunter noch zwei Vertreter der beiden anderen europäischen Parteien, die an der Kommission beteiligt sind (die liberale ALDE und die nationalkonservative AECR). Auch deren Fraktionen wissen also, dass sie bei einem Votum gegen Cañete, Navracsics oder Moscovici mit einem Gegenschlag gegen einen ihrer Parteifreunde rechnen müssten.

Dass es zuletzt soweit kommt, ist aber eher unwahrscheinlich: Schließlich wissen alle Parteien, dass eine Eskalation schnell die Kommission Juncker insgesamt in Frage stellen würde. Insbesondere Moscovici dürfte schlicht zu wichtig für das politische Gleichgewicht sein, um an parteitaktischen Spielen zu scheitern: Neben dem Ersten Vizepräsidenten Frans Timmermans (PvdA/SPE) und der Außenkommissarin Federica Mogherini (PD/SPE) ist er der prominenteste Vertreter der europäischen Sozialdemokraten in der neuen Kommission – und zudem der einzige mit einem bedeutenden wirtschaftspolitischen Ressort. Ohne ihn ist es deshalb fraglich, ob die Sozialdemokraten der Kommission insgesamt zustimmen werden. Ohne die Sozialdemokraten aber gäbe es in der Schlussabstimmung wohl keine Mehrheit. Und daran hat keine einzige der großen Parteien ein Interesse.

Ein ganz normaler politischer Prozess

Womit wir es bei den jüngsten Vorfällen in den Anhörungen zu tun haben, ist also ein ganz normaler politischer Prozess: Damit die Kommission ins Amt kommen kann, braucht sie die Zustimmung der großen europäischen Parteien. Diese müssen sich also zu einer Art Koalition zusammenfinden, wobei jede Seite versucht, die Posten ihrer eigenen Parteimitglieder zu sichern. Dabei mag die Parteibasis (und die Öffentlichkeit) einzelne Kandidaten der jeweils anderen Partei ablehnen: Hill und Navracsics mögen den Sozialdemokraten und Liberalen zu „rechts“, Moscovici den Christdemokraten und Konservativen zu „links“ sein. Aber wenn man Kandidaten des Koalitionspartners verhindern will, dann muss man in Kauf nehmen, dass sich dieser auch in die eigenen Personalia einmischt. Und deshalb kommt man am Schluss meist zu einer Einigung, bei der jeder einfach die Kandidaten der Gegenseite akzeptiert.

Dass dieser recht alltägliche Vorgang auf europäischer Ebene solch hohe Wellen schlägt, liegt an einigen Besonderheiten des EU-Systems – insbesondere daran, dass die Kandidaten in erster Linie von ihren nationalen Regierungen ausgewählt wurden und nicht von ihren europäischen Parteien. Die Verhandlungen zwischen den Fraktionen im Europäischen Parlament beginnen deshalb erst, wenn die Namen bereits auf dem Tisch liegen. Vieles, was in nationalen Koalitionsgesprächen diskret hinter verschlossenen Türen geklärt wird, wird deshalb auf EU-Ebene in aller Öffentlichkeit ausgetragen. Die wesentliche politische Logik dahinter aber bleibt dieselbe.

Die Vorstellung, dass die Anhörungen im Europäischen Parlament in erster Linie dazu dienen würden, die fachliche Eignung der Kommissare zu überprüfen, ist naiv. Sowohl die Kommission als auch das Parlament sind politische, nicht technokratische Organe, und darum werden sie eben auch politisch besetzt. Wenn wir Bürger Cañete, Moscovici oder irgendeinen anderen Kandidaten für ungeeignet halten, dann sollten wir also nicht darüber klagen, wen uns die EU da schon wieder als Kommissar vorsetzt. Sondern wir sollten darauf achten, welcher europäischen Partei sie angehören – und bei der nächsten Europawahl gegebenenfalls eine andere wählen.

Bilder: by La Moncloa Gobierno de España (lamoncloa_gob_es) [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.