13 Mai 2016

„Wir brauchen vor allem eine Änderung in Stil und Kommunikation“: Ein Interview mit Gesine Schwan

Gesine Schwan.
D(e)F: Wenn Sie eines an der Funktionsweise der Europäischen Union ändern könnten, was wäre es?

Gesine Schwan: Ich würde verlangen, dass während des Europäischen Semesters neben dem Europäischen Rat auch das Europäische Parlament über die zukünftige Wirtschaftspolitik mitentscheiden kann. Derzeit arbeitet die Europäische Kommission die länderspezifischen Empfehlungen immer auf Grundlage einer Entscheidung des Europäischen Rates aus, bevor sie an die nationalen Parlamente gehen. Ich wäre dafür, dass in diesem Verfahren gleich am Anfang des Jahres auch das Europäische Parlament eine Stellungnahme abgibt, die der Europäische Rat einbeziehen muss.

Außerdem wäre ich dafür, dass sich das Europäische Parlament mit Vertretern der nationalen Parlamente zusammensetzt, wenn es sein Votum über das Europäische Semester abgibt. Auf diese Weise gäbe es eine Rückkopplung zwischen der europäischen und den nationalen Öffentlichkeiten. An die Stelle der Idee eines europäischen Zweikammersystems mit dem Europäischen Parlament als erster und dem Ministerrat als zweiter Kammer – die ich für falsch halte – träte so die Kombination aus Europäischem Parlament und nationalen Parlamenten.

Mehr Zusammenarbeit zwischen den nationalen Parlamenten

D(e)F: Nun werden die länderspezifischen Empfehlungen, die am Ende des Europäischen Semesters stehen, bis jetzt von den Mitgliedstaaten oft gar nicht umgesetzt. Müsste man ihnen nicht außerdem noch mehr Biss verleihen, damit sie überhaupt eine Wirkung entfalten?

Schwan: Im Moment gibt es die Idee einer europäischen Wirtschaftsregierung und eines europäischen Finanz- oder Wirtschaftsministers. Das würde aber heißen, dass eine gemeinsame Politik von oben durchgedrückt würde. Daran glaube ich nicht, denn dann halten sich die Länder einfach nicht daran. Man kann ihnen ja (wenn sie nicht gerade hoch verschuldet sind) nicht einfach ihre souveräne Hoheit über die Wirtschaftspolitik nehmen.

Deshalb bin ich eher dafür, durch eine bessere Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten eine breite Basis für die Koordination der Wirtschaftspolitiken zu schaffen. So könnte man auch erreichen, dass die länderspezifischen Empfehlungen nicht alle stromlinienförmig neoliberal sind – schließlich müssten sich die nationalen Parlamente darauf nicht einlassen. Durch diese Freiwilligkeit wäre auch die Wahrscheinlichkeit höher, dass die Empfehlungen tatsächlich befolgt werden.

Politik nicht durch rechtliche Automatismen ersetzen

Natürlich betrifft das nicht nur das Europäische Semester. Spätestens seit der Finanzkrise dominiert nicht nur in der Europäischen Union der Europäische Rat, sondern auch innerhalb des Europäischen Rats die deutsche Bundesregierung. Politische Entscheidungen werden deshalb nicht wirklich ausgehandelt; den unterschiedlichen Positionen – zum Beispiel in der Frage „Sparpolitik oder Investitionspolitik?“ – wird nicht genügend Rechnung getragen. Diese Positionen ließen sich pragmatisch kombinieren. Stattdessen hat die deutsche Regierung aber in den letzten Jahren immer wieder nur versucht, ihre eigene Linie durchzusetzen.

Zudem droht Deutschland immer wieder mit juristischen Sanktionen und versucht, Politik durch rechtliche Automatismen zu ersetzen. Ich denke, dass das ein völlig falscher Weg ist. Stattdessen müsste man viel mehr miteinander über Alternativen diskutieren und auf diesem Weg zu einer gemeinsamen Linie gelangen. Europa wird nur vorankommen mit mehr Zusammenarbeit, mehr Freiwilligkeit, mehr positiven Anreizen.

Aushandlung und Konsensfindung brauchen mehr Raum

D(e)F: Offenbar setzen Sie stark auf Kommunikation und Konsenssuche. Zu einem demokratischen, pluralistischen System gehört aber ja auch das Recht auf Dissens. Angenommen, in einem EU-Mitgliedstaat würde ein Parlament gewählt, dessen Mehrheit grundsätzlich andere wirtschaftspolitische Vorstellungen hat als der Rest, und es gelingt deshalb nicht, zu einem Konsens zu kommen – wie würde man damit umgehen?

Schwan: Ich habe einen Großteil meiner wissenschaftlichen Arbeit, vor allem vor 1989, der Wahrung des Pluralismus gewidmet und bin beim Recht auf Dissens völlig Ihrer Meinung. In den letzten Jahrzehnten habe ich allerdings mehr und mehr den Eindruck, dass die Idee der Mehrheitsregel auch nicht immer funktioniert. Pluralität und Opposition müssen erhalten bleiben, aber auch Aushandlung und Konsensfindung brauchen sehr viel mehr Raum. Wir müssen mehr nach Win-Win-Situationen suchen, was sachlich oft auch möglich wäre.

In der direkten Konfrontationssituation müsste es allerdings möglich sein, dass sich ein einzelnes Land gegebenenfalls ausklinkt – nicht aus der EU, aber aus bestimmten Entscheidungen. Wenn beispielsweise bestimmte Defizitgrenzen bei der Staatsverschuldung durchgesetzt werden sollen, aber das Parlament eines Landes sagt: „Nein, das können wir nicht, das werden wir nicht mitmachen“, dann wird dieses Land einfach abweichen. Was die Verschuldungsquote angeht, kommt das ja auch jetzt schon vor.

Ein Lernprozess

D(e)F: Das Prinzip, dass man miteinander spricht, aber niemanden zu etwas zwingen möchte, hatte man auch früher schon. Da etwa Deutschland dabei vor allem auf Exportüberschüsse, andere Länder dagegen auf mehr Binnenkonsum setzten, hat das zu enormen Ungleichgewichten geführt und zur Eurokrise beigetragen. Wenn man nun auf Freiwilligkeit baut und den Ländern die Möglichkeit lässt, von der gemeinsamen Linie abzuweichen, wäre dann nicht das Risiko groß, wieder genau da zu enden?

Schwan: Mein Lehrer Richard Löwenthal hat immer gesagt: „Demokratie ist das System, in dem man am meisten lernen kann und lernen muss.“ Vor der Krise sind diese Ungleichgewichte vielleicht einigen Theoretikern präsent gewesen, aber nicht der allgemeinen Politik. Zunächst haben davon ja auch alle profitiert, einschließlich Deutschland. In den Jahren seit 2008 ist die Europäische Union dagegen immer mehr in Bedrängnis gekommen, weil die dominante Macht Deutschland nicht solidarisch gehandelt hat. Stattdessen hat sie einer bestimmten Wirtschaftsphilosophie folgend versucht, politische Entscheidungen nach Möglichkeit durch rechtliche Regeln zu ersetzen, und so getan, als wäre das objektiv notwendig und nicht eine politische Option unter anderen.

Wir sind heute weiter als während der Krise

In den letzten Jahren haben wir aber auch erlebt, dass in Europa ein Lernprozess stattgefunden hat: Was während der Krise in Deutschland über Griechenland verbreitet wurde, ging ja auf keine Kuhhaut. Im Fernsehen kamen da immer wieder nur die deutschen Korrespondenten zu Wort, nie ein griechischer Minister. Und welcher Blödsinn wurde da von allen nachgeplappert! Inzwischen sind wir viel weiter und sehen sehr viel genauer hin; inzwischen hat in der Bundesregierung auch die SPD eine andere Meinung als das CDU-geführte Finanzministerium. Es wissen jetzt viel mehr Deutsche, wie hoch die Rentenkürzungen in Griechenland schon waren oder wie stark das Bruttoinlandsprodukt dort zurückgegangen ist. Dieses wechselseitige Kennenlernen ist das, was allmählich eine europäische Öffentlichkeit schafft.

Wir brauchen deshalb vor allem eine Änderung in Stil und Kommunikation. Das sind weiche Aspekte, aber ich denke, dass darin die einzige Chance liegt, die Europäische Union zusammenzuhalten. Nur dadurch können dann auch wieder gemeinsame Interessen erkannt werden und Vertrauen entstehen.

Aus der Flüchtlingskrise eine Wachstumschance machen

D(e)F: Und Sie hoffen darauf, dass mit mehr Vertrauen beispielsweise auch Deutschland bereit wäre, freiwillig solidarisch zu sein?

Schwan: Sicher. Nehmen wir einen konkreten Fall in der jetzigen Flüchtlingssituation. Der italienische Premierminister Matteo Renzi hat vorgeschlagen, gemeinsame EU-Anleihen auszugeben, um die Aufnahme von Flüchtlingen zu finanzieren. Innerhalb Italiens gibt es bereits einen Fonds, für den sich Gemeinden bewerben können, die Flüchtlinge aufnehmen. Auch die Europaabgeordnete Maria João Rodrigues hat für die EU schon einmal einen ähnlichen Vorschlag gemacht. Der Gedanke dahinter ist, aus der Flüchtlingskrise eine Wachstumschance zu machen. Ich halte das für eine sehr gute Idee, weil sich dadurch das Humanitäre mit dem Ökonomischen verbinden lässt.

Frau Merkel hingegen hat das sofort abgelehnt, sie will keine europäischen Anleihen. Letztlich macht sie dadurch – auch wenn sie das nicht ehrlich zugibt – ihre ganze Flüchtlingspolitik davon abhängig, dass die Balkanroute geschlossen bleibt, denn sonst kämen die Flüchtlinge schnell wieder in Deutschland an. Der Versuch, eine europaweite Umverteilung der Flüchtlinge durch Druck auf die anderen Mitgliedstaaten zu erreichen, ist gescheitert. Stattdessen betreibt man nun eine Aussperrpolitik, durch die aber die europäischen Werte vor die Hunde gehen.

An dieser Stelle würde Solidarität für die deutsche Bundesregierung nur bedeuten, dass sie offen sagt: „Ja, wir wollen, dass die anderen Staaten uns in der Flüchtlingskrise unterstützen, und deshalb sind wir auch interessiert daran, dass es dort wieder Wirtschaftswachstum gibt.“ Ich glaube, dass Renzi, aber auch die Griechen, Portugiesen und Spanier dazu bereit wären. Der einzige Weg, Europa zusammenzuhalten, sind solche Verhandlungslösungen.

Die EU nicht in Analogie zum Nationalstaat denken

D(e)F: Offensichtlich sind bei der Wirtschafts- und der Flüchtlingspolitik alle Mitgliedstaaten sehr stark voneinander abhängig. Müsste nach der Idee des Subsidiaritätsprinzips dann nicht eigentlich in diesen Fragen die Kompetenz auf der supranationalen Ebene liegen? Sie hatten am Anfang das Europäische Parlament erwähnt, allerdings nur in einer Art Broker-Funktion zwischen den nationalen Parlamenten. Wenn aber die nationalen Parlamente ohnehin keine Entscheidungen mehr treffen können, ohne alle anderen mit zu beeinflussen, sollte man dann nicht direkt auf die gesamteuropäische Demokratie setzen?

Schwan: Ich denke nicht, dass das die Schlussfolgerung sein muss. Natürlich ist es sehr schwer, die Europäische Union als Gemeinwesen anders als in Analogie zum Nationalstaat zu denken, aber ich glaube, man muss das versuchen. In Straßburg oder Brüssel allein könnten nicht die Besonderheiten aller Länder erkannt werden, einfach weil dafür zu viele Informationen verarbeitet werden müssten. Außerdem würde dadurch eine völlige Entfremdung zwischen der europäischen Gesetzgebung und den Mitgliedstaaten entstehen. Ich halte deshalb die Idee, einen europäischen Zentralstaat zu errichten, für abwegig.

Das Europäische Parlament sollte aber nach meiner Vorstellung auch nicht einfach nur ein Broker, sondern ein Ort sein, an dem sich Vertreter der Mitgliedstaaten treffen, um zu erfahren, was eigentlich in anderen Ländern los ist. Ich denke, dass man gerade jetzt in Europa nicht darauf verzichten kann, geduldig aufeinander zuzugehen, um sich zuzuhören und zu lernen, welche Probleme es anderswo gibt.

Transnationale Verfahren, um transnationale Probleme zu lösen

D(e)F: Trotzdem bleibt es so, dass die nationalen Parlamente jeweils nur ihrer nationalen Wählerschaft verantwortlich sind. Schafft das nicht einen strukturellen Anreiz, grenzüberschreitende Solidarität zu verweigern?

Schwan: Sie sprechen da ein ganz zentrales Problem nicht nur der Europäischen Union, sondern der Globalisierung allgemein an. Bisher sind die nationalen Wahlen die Nadelöhre, durch die in Demokratien alle politische Macht konstituiert wird. Das ist einer der wichtigsten Gründe dafür, dass die globalen Herausforderungen nicht genug angegangen werden. Man muss also nach transnationalen Akteuren, Orten und Verfahren suchen, um die transnationalen Probleme zu lösen.

Aber blicken wir noch einmal auf den konkreten Fall eines möglichen europäischen Fonds für die Aufnahme von Flüchtlingen. Mit einem solchen Fonds könnten wir den europäischen Gemeinden Unterstützung anbieten, wenn sie Flüchtlinge aufnehmen wollen, so wie es Renzi schon jetzt in Italien macht. Dadurch würden nicht die Nationalstaaten entmachtet, aber es würden andere Akteure gestärkt – und zwar, wenn sich die Gemeinden auf diese Weise dann auch noch vernetzen, transnational.

Eine Bottom-up-Lösung in der Flüchtlingspolitik

D(e)F: Und wenn nun eine Regierung wie die von Ungarn oder Polen sich einfach weigert, Flüchtlinge aufzunehmen?

Schwan: Dann bewerben sie sich nicht, und dann bekommen die Gemeinden auch kein Geld aus dem Fonds. Ich kenne aber zum Beispiel in Polen eine sehr dynamische Gemeinde, Słupsk, die wahrscheinlich sofort bereit wäre, Flüchtlinge aufzunehmen und sich auf so einen Fonds zu bewerben. Nun stellt sich die Frage, ob aus rechtlicher Sicht die Nationalstaaten das Einwanderungskontingent bestimmen müssen – das müsste geklärt werden, auch im Licht der schon beschlossenen, aber nicht umgesetzten europaweiten Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen.

Vor allem aber: Wenn es einen Konflikt gibt zwischen der nationalen Regierung und der Gemeinde, dann wird wenigstens deutlich, dass es in einem Land unterschiedliche Positionen gibt. Und wenn sich gleich vier, fünf polnische Gemeinden öffentlichkeitswirksam bei einem europäischen Flüchtlingsfonds bewerben würden, könnte das auch eine politische Dynamik auslösen. Und es würde unseren Eindruck von den Ländern pluralisieren, die ja nicht so homogen sind, wie es von außen wirkt.

Es geht mir nicht darum, den Nationalstaat zu zerstören oder in Frage zu stellen, aber doch darum, eine sinnvolle Bottom-up-Lösung zu erreichen. Immer nur über die Nationalstaaten zu gehen, ist gerade in der Flüchtlingspolitik nicht erfolgversprechend, weil viele nationale Politiker den Aufstieg rechtsradikaler Parteien fürchten. Aber auch eine Marine Le Pen wird schwer etwas dagegen sagen können, wenn französische Gemeinden von sich aus erklären, dass sie Flüchtlinge aufnehmen wollen – weil es vor Ort weniger Vorbehalte gibt und weil die Gemeinden auch ein positives Interesse daran haben, mit den Flüchtlingen etwas Neues zu schaffen.

Gesine Schwan ist Präsidentin der Humboldt-Viadrina Governance Platform sowie Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission. Zuvor war sie unter anderem von 1999 bis 2008 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder sowie von 2005 bis 2009 Koordinatorin der deutschen Bundesregierung für die deutsch-polnische Zusammenarbeit. 2004 und 2009 kandidierte sie für das Amt der deutschen Bundespräsidentin.

Dieses Interview wurde am 9. Mai 2016 geführt.

Bild: By Olaf Kosinsky/Skillshare.eu [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons

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