- Hermann Gröhe will Vollbeschäftigung. Jedenfalls in Deutschland: Der Rest von Europa ist wahlkampftaktisch weniger bedeutend.
In den
zwei Wochen, die dieses Jahr nun alt ist, gab es in den deutschen
Medien zwei größere arbeitsmarktpolitische Nachrichten. Die erste
kam von Hermann Gröhe, Generalsekretär der CDU (EVP), der in einem
Interview mit der Welt
ankündigte, dass seine Partei dieses Jahr mit dem Ziel der
Vollbeschäftigung in den Bundestagswahlkampf ziehen werde. Die
zweite war die Veröffentlichung des Europäischen Sozial- und Beschäftigungsberichts (hier im Wortlaut) durch Beschäftigungskommissar
László Andor (MSZP/SPE), der konstatierte, dass die
Arbeitslosigkeit in Europa 2012 auf ein neues Rekordhoch geklettert
war: Die letzten Daten aus dem zweiten Quartal des Jahres betrugen
10,4 Prozent in der EU und sogar 11,2 Prozent im Euroraum.
Die
Ursachen des deutschen Jobwunders
Bemerkenswerterweise
wurden diese beiden Nachrichten (jedenfalls soweit ich gesehen habe)
in keinem großen deutschen Medium in Bezug zueinander gebracht. Dies ist vor
allem deshalb erstaunlich, weil sie sich auf den ersten Blick doch
sehr zu widersprechen scheinen: Wie ist es möglich, dass die
Regierungspartei im größten Land Europas von Vollbeschäftigung
träumen kann, während der Kontinent um sie herum in der Rezession
versinkt? Auf den zweiten Blick bietet der Europäische Sozialbericht
allerdings selbst eine Antwort darauf: Während nämlich die
Arbeitslosigkeit zwar in Europa insgesamt gestiegen ist, geht sie in
Deutschland seit 2005 kontinuierlich zurück. Und nicht nur hier: In
der ganzen Eurozone driften die Beschäftigungszahlen zwischen dem
wirtschaftsstarken „Zentrum“ (neben Deutschland noch Belgien,
Finnland, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande und Österreich,
wobei keines dieser Länder eine mit Deutschland vergleichbare
Dynamik aufweist) und der krisengeschüttelten „Peripherie“ (den
übrigen zehn Ländern) auseinander.
Was
ist der Grund dieser für Deutschland so erfreulichen und für Europa
so fatalen Entwicklung? In der Rhetorik der deutschen
Koalitionsparteien ist dies natürlich die umsichtige Strategie, mit
der die laut Kanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) „erfolgreichste Regierung seit der Wiedervereinigung“ das
Land durch die europäische Finanz- und Wirtschaftskrise geschifft
hat. Die Süddeutsche Zeitung hingegen
sieht als Ursache für das deutsche „Jobwunder“ eher die Agenda
2010, also die im Jahr 2003 beschlossenen Arbeitsmarktreformen der
rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder (SPD/SPE). Von diesen
beiden Interpretationen ist die zweite zweifellos näher an der
Realität – doch über einen wichtigen Aspekt geht auch die
Süddeutsche recht
oberflächlich hinweg. Denn der deutsche Arbeitsmarkt entwickelt sich
nicht nur trotz
der Eurokrise so erfolgreich: Vielmehr beruhen die deutschen Erfolge
und der Absturz der Peripherie wenigstens zum Teil auf denselben
Ursachen.
Deutschland
und die Peripherie in der Krise
- Die Schere öffnet sich: Während die Arbeitslosigkeit in Spanien auf Rekordniveau steigt, entstehen in Deutschland weiterhin neue Jobs.
Wenn man die
letzten Jahre Revue passieren lässt, ist es tatsächlich noch gar
nicht so lange her, dass Deutschland sich in der europäischen
Beschäftigungsstatistik auf den hintersten Rängen befand. Nachdem durch die Euro-Einführung die D-Mark ihre Rolle als europäische Leitwährung verloren hatte, kam es in der ersten Hälfte des letzten
Jahrzehnts zu massiven Kapitalzuflüssen in die „Peripherie“.
Länder wie Irland oder Spanien erfuhren einen Boom und schienen
endlich zum reichen Zentrum des Kontinents aufschließen zu können.
In Deutschland hingegen belasteten die Folgen der Wiedervereinigung,
die teuren Lohnnebenkosten, der Kündigungsschutz und hohe
Zugangsbarrieren für Jobsuchende die Produktivität der Unternehmen
und den Arbeitsmarkt.
Hätte es zu
jener Zeit die D-Mark noch gegeben, so hätte sie gegenüber den
übrigen europäischen Währungen abwerten müssen. Da dies in der
Währungsunion nicht möglich war, griff die Regierung Schröder zu
dem Mittel einer „inneren Abwertung“: eben jener Agenda 2010,
durch die der deutsche Arbeitsmarkt flexibilisiert wurde, die
Reallöhne sanken und (damit verbunden) die Produktivität und die
internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen stieg.
In der Folge trat das Land schließlich ab 2005 vor allem dank
anziehender Exporte in einen kräftigen Wirtschaftsaufschwung mit
deutlich sinkender Arbeitslosigkeit ein.
In
der Peripherie hingegen bildeten sich in dieser Zeit fatale
Wirtschaftsblasen: Während die Preise für Konsumgüter
und Immobilien stiegen, täuschten die anhaltenden Kapitalzuflüsse
darüber hinweg, dass die Produktivität immer weiter hinter jener
des neu erstarkten Zentrums zurückblieb. Mit der Finanzkrise von
2008 schließlich platzten diese Blasen: Nicht zuletzt weil die dortigen Banken mangels einer europäischen Bankenunion weniger Sicherheit zu bieten schienen, zogen die Investoren in kurzer
Zeit sehr viel Kapital aus der Peripherie ab, was einerseits zu einem
Anstieg der Staatsschulden, andererseits zu Unternehmenspleiten,
Massenentlassungen und der heutigen Rekordarbeitslosigkeit führte.
Ziel dieser Kapitalflucht wiederum war meist das Zentrum der
Eurozone, insbesondere Deutschland. In der Folge sank nicht nur der
Zins der deutschen Bundesanleihen auf ein Rekordtief, auch
den deutschen Unternehmen gelang es zum größten Teil, die Krise
ohne schwere Schäden zu überstehen.
Agenda
2010 als Erfolgsmodell?
In gewisser Weise ist die Deutung, die die Agenda 2010 als Trendwende
und entscheidenden Faktor des deutschen Aufschwungs beschreibt, also
gar nicht so falsch. Und doch ist sie nur die halbe Wahrheit – denn
ohne dass darüber viel diskutiert wurde (und wohl auch ohne dass es
den meisten im nationalen Rahmen denkenden Politikern bewusst war),
bestand ein Teil des deutschen Erfolgsrezeptes gerade darin, dass die
peripheren Staaten auf durchgreifende Strukturreformen verzichteten.
Denn wie ich an anderer Stelle bereits ausführlicher beschrieben habe,
hätte der deutsche Produktivitätsanstieg nach der Agenda 2010
eigentlich zu einer starken Aufwertung der deutschen Währung und
damit zu einer Verminderung der deutschen Exporte führen müssen.
Dass der Wert des Euro stabil blieb und die Exporte in die Höhe
schossen, war lediglich der wirtschaftlichen Schwäche der Peripherie
zu verdanken. Der deutsche Arbeitsmarkt profitierte von den niedrigen
Lohnstückkosten im Inland, aber eben auch von den hohen
Lohnstückkosten in den südeuropäischen Staaten. Wären diese
bereits vor zehn Jahren mit eigenen Strukturreformen nachgezogen –
oder wären die Reallöhne in Deutschland weiter gestiegen –, so
wäre die Eurokrise heute vermutlich weit weniger dramatisch.
Zugleich aber hätte auch die Arbeitslosigkeit in Deutschland niemals
den Tiefpunkt erreicht, an dem sie sich heute befindet.
In einer
Währungsunion kann kein Land sich abkoppeln
Überdenkt
man diese Zusammenhänge, so scheint die vollmundige Ankündigung von
Hermann Gröhe, die CDU wolle den „Industriestandort
Deutschland stärken“ und dadurch nationale Vollbeschäftigung
erreichen, weniger eine Verheißung als eine Drohung zu sein. Denn
ein weiteres Absinken der deutschen Arbeitslosigkeit wäre wohl nur
dann denkbar, wenn sich die wirtschaftliche Lage im Zentrum und der
Peripherie der Eurozone noch weiter auseinander entwickelt: wenn die
deutsche Produktivität sich noch schneller von derjenigen der
südeuropäischen Länder entfernt und deshalb Deutschland noch mehr
exportieren kann, ohne daran durch einen steigenden Eurokurs
gehindert zu werden.
Ein solches Szenario aber
ist schon aufgrund der Krise selbst eher unwahrscheinlich. Zum einen
haben die Länder in der Peripherie inzwischen selbst ihre
Arbeitsmärkte reformiert und ihre Löhne drastisch gesenkt. Zum
anderen haben die Spanier und Griechen wegen der grassierenden
Arbeitslosigkeit inzwischen schlicht zu wenig Geld, als dass diese
Länder noch viel importieren könnten. Allmählich beginnen die
Handelsbilanzen deshalb wieder ins Gleichgewicht zu kommen, was
natürlich auch den deutschen Export belastet – und tatsächlich
gab die Bundesagentur für Arbeit nur einen Tag nach Gröhes
Interview bekannt, dass Ende 2012 die europäische
Krise erstmals auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt ihre Spuren hinterließ.
Am Ende ist es in einer Währungsunion eben doch unmöglich, dass
sich ein einzelnes Land (oder eine Gruppe von Ländern) in der Krise
von den übrigen abkoppelt. Auf die Dauer wird auch die günstige
Arbeitsmarktlage in Deutschland nur zu halten sein, wenn die Eurozone
als Ganzes ihre derzeitigen Schwierigkeiten überwindet und auf einen
wirtschaftlichen Wachstumspfad zurückfinden kann.
Nötig
ist ein europäischer Aufschwung
Davon
aber sind wir derzeit weiter entfernt denn je. Denn die massive
Arbeitslosigkeit, die die Peripherie-Staaten derzeit erfahren, führt
dazu, dass dort immer mehr Menschen den Anschluss zum Berufsleben
verlieren: In der erzwungenen Untätigkeit veralten ihre beruflichen
Qualifikationen, die Hoffnungslosigkeit nimmt ihnen den Mut zu neuen
Unternehmungen, und das Auseinanderbrechen des Wohlfahrtsstaates und
die Verelendung immer breiterer Bevölkerungsschichten zerstört das
soziale Gefüge, auf dem auch das wirtschaftliche Leben aufgebaut
ist. Wie der Europäische Sozial- und Beschäftigungsbericht warnt,
ist die kurzfristige, krisenbedingte Arbeitslosigkeit in den
peripheren Ländern dabei, zu einer langfristigen, strukturellen
Arbeitslosigkeit zu werden. Nachdem die akute Gefahr eines
Auseinanderbrechens der Währungsunion inzwischen erfreulicherweise
durch die Europäische Zentralbank abgewendet wurde, scheint mir
dieses Phänomen, das in den Wirtschaftswissenschaften als
„Hysterese“
bekannt ist, die größte ökonomische Bedrohung für die Eurozone zu
sein. Das Einzige, was dagegen hilft, ist ein schneller
Konjunkturaufschwung.
Wenn
die deutsche Bundesregierung also mit einem vernünftigen und
nachhaltigen Wirtschaftsprogramm in die Bundestagswahl gehen will,
dann sollte sie nicht von deutscher Vollbeschäftigung sprechen,
sondern sich stattdessen auf die gemeinsamen europäischen Probleme
konzentrieren. Wir müssten aufhören, in der Eurozone zwischen
„eigenen“ und „fremden“ Arbeitslosen zu unterscheiden; wir
müssten verstehen, dass trotz der derzeit entspannten Lage in
Deutschland die Zukunftsaussichten alles andere als rosig sind,
solange Europa als Ganzes in der Krise steckt. Vor einigen Monaten
habe ich hier geschrieben, dass die Regierung zu einem solchen
Perspektivwechsel aus strukturellen Gründen nicht in der Lage ist,
da sie ihre Politik nun einmal an den kurzfristigen Interessen der
deutschen Wähler ausrichten muss, bei denen Arbeitslosigkeit zurzeit kein besonders wichtiges Thema ist. Ich wäre froh, wenn der
Wahlkampf dieses Jahr mich eines Besseren belehren würde. Aber wenn ich Hermann
Gröhe höre, glaube ich das, offen gestanden, nicht.
Bilder: By Christliches Medienmagazin pro (Flickr: Hermann Gröhe) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons; eigene Grafik (Quelle: Europäischer Sozial- und Beschäftigungsbericht).
Sehr passend: An der CDU Zentrale in Berlin hängt ein Plakat: "Alle 60 Sekunden entstehet ein neuer Job in Deutschland"
AntwortenLöschenIrgendwie muss ich da immer an andere Statistiken denken: z.B. alle sechs Sekunden Stirbt ein Kind an Hunger...
Denken die CDU-Politiker wir würden auf einer Insel leben, die völlig unabhängig ist von ihrer Umgebung? Viel Spaß im nächsten Wirbelsturm!!!