02 August 2017

Sommerlektüre: Jo Leinen/Andreas Bummel, „Das demokratische Weltparlament“

Ein demokratisches Parlament für die ganze Menschheit ist für Jo Leinen und Andreas Bummel nicht nur nötig, sondern auch möglich.
Das wesentliche Argument für einen demokratischen Weltföderalismus ist schnell gemacht. Die Menschheit sieht sich heute immer mehr gemeinsamen Herausforderungen ausgesetzt, die jeden einzelnen Staat überfordern: ob nun Klimawandel oder globale Ungleichheit, globale Finanzkrisen, grenzüberschreitende Migrationsbewegungen oder internationaler Terrorismus. All diese Herausforderungen sind nicht naturgegeben, sondern abhängig von menschlichen Verhaltensweisen, und können deshalb politisch gelöst werden. Allerdings ist es dafür notwendig, nicht nur auf nationaler, sondern auch auf globaler Ebene verbindliche und effektive politische Entscheidungen zu treffen. Diese politischen Entscheidungen würden das Leben sehr vieler Menschen stark beeinflussen, sodass für sie die gleichen Maßstäbe politischer Legitimität gelten sollten wie für Entscheidungen auf einzelstaatlicher Ebene. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder Grundrechtebindung müssen also auch auf globaler Ebene verankert werden – und damit führt auf die Dauer kein Weg an einem demokratisch gewählten Weltparlament vorbei.

Ein solches Weltparlament ist natürlich nicht auf die Schnelle zu haben. Insbesondere setzt es voraus, dass alle Staaten freie Wahlen zulassen würden, und auch wenn der weltweite Anteil an demokratischen Staaten tendenziell zunimmt, sind wir davon noch ein gutes Stück entfernt. Dennoch ist das Leitbild einer globalen Demokratie keine reine Kopfgeburt, sondern kann schon heute Inspiration für konkrete Schritte zur Reform der Vereinten Nationen sein. Ein Beispiel dafür ist das 2016 erstmals angewandte transparentere Verfahren zur Wahl des UN-Generalsekretärs, ein anderes die seit längerer Zeit diskutierte, aber bis heute nicht verwirklichte Einrichtung einer Parlamentarischen Versammlung bei den Vereinten Nationen (UNPA).

Naivität, Dystopie und Resignation erschweren die Debatte

Allerdings leidet die Debatte über eine weltweite Demokratie (oder, wenn man so will, eine Demokratisierung der Vereinten Nationen) derzeit oft an den übertriebenen Erwartungen, die sowohl Befürworter als auch Gegner mit dieser Idee verbinden. Auf der einen Seite ergehen sich manche Weltföderalisten gern in naiven Utopien – ganz als ob eine demokratischere politische Ordnung ganz von selbst den Klimawandel stoppen, die globalen Verteilungskonflikte lösen und alle Menschen zu Freunden machen würde.

Auf der anderen Seite löst der Weltföderalismus bei seinen Kritikern bisweilen wilde dystopische Fantasien aus, als müsste jeder Versuch, die globale Ordnung zu demokratisieren, unweigerlich in eine alptraumhafte Weltdiktatur führen. Und wieder eine andere Gruppe hat sich resigniert damit abgefunden, dass die UN nun einmal „nicht zu reformieren sind“ und man deshalb jede Hoffnung auf eine bessere Weltordnung von vornherein aufgeben sollte.

Alle drei Herangehensweisen, die naive, die dystopische und die resignierte, erschweren eine rationale Auseinandersetzung mit weltföderalistischen Vorschlägen ungemein. Umso willkommener ist deshalb der Beitrag, den Jo Leinen und Andreas Bummel mit ihrem im vergangenen Frühling erschienenen Buch Das demokratische Weltparlament zu dieser Debatte leisten.

Dankenswert unaufgeregt

Beide Autoren sind unter Freunden der überstaatlichen Demokratie keine Unbekannten: Jo Leinen ist Europaabgeordneter der SPD (SPE), Vorsitzender der Europäischen Bewegung International und Ehrenpräsident der Union Europäischer Föderalisten; Andreas Bummel hat den Verein Democracy without Borders gegründet und leitet die internationale UNPA-Kampagne.

In ihrem Buch beschreiben sie den historischen Verlauf und den heutigen Stand der Diskussion über eine demokratische Weltordnung. Dabei legen sie dar, weshalb sie die „kosmopolitische Vision“ eines Weltparlaments nicht nur für wünschenswert und notwendig, sondern (wenigstens auf längere Sicht) auch für möglich und realistisch halten.

Vor allem aber vertreten Leinen und Bummel ihre Positionen mit einem schlichten, gut lesbaren und dankenswert unaufgeregten Stil. Zwar schrecken auch sie nicht davor zurück, große welthistorische Linien zu ziehen, in denen das Weltparlament als Fluchtpunkt der aufgeklärten Moderne erscheint. Doch statt sich in der Esoterik des Utopischen zu verlieren, binden die beiden Autoren ihre Argumente immer wieder an konkrete Debatten in Wissenschaft und politischer Praxis zurück – und bieten damit jene Verwurzelung in der Realität, die der Weltföderalismus so dringend benötigt.

Lesenswerter historischer Abriss

Das Buch besteht aus drei Teilen, von denen der erste für sich allein schon die Lektüre lohnt. Auf rund 120 Seiten beschreiben Leinen und Bummel, wie sich die Idee eines „Menschheitsstaats“ historisch entwickelte. Nach kosmopolitischen Vorläufern in der griechischen, indischen und chinesischen Antike erfuhr diese in der neuzeitlichen Aufklärung einen frühen Höhepunkt. Vom Nationalismus des 19. Jahrhunderts zurückgeworfen, fand sie zugleich in der internationalen Zusammenarbeit nationaler Parlamentarier ein neues Bett. Im Zeitalter der Weltkriege erstarkte sie dann noch einmal als Hoffnung auf eine andere, friedlichere Welt, ehe sie schließlich im Kalten Krieg zwischen Ost-West-Konfrontation und UN-Bürokratie zermahlen wurde. Erst mit der Demokratisierungswelle der 1990er Jahre erfuhr die Idee einer demokratischen Weltordnung einen neuen Schub.

Dabei gerät der historische Abriss im ersten Teil des Buches immer mehr zur Zeitlupe, je näher er sich der Gegenwart nähert: Detailliert beschreiben Leinen und Bummel die vielfältigen Akteure und Initiativen, die sich im letzten Vierteljahrhundert auf unterschiedliche Weise für ein Weltparlament stark gemacht haben – ein geradezu enzyklopädischer Überblick über eine oft zersplitterte und nur mühsam zusammengehaltene Debatte.

Die globalen Herausforderungen in den Griff bekommen

Der zweite und mit rund 230 Seiten umfangreichste Teil des Buches beinhaltet das eigentliche politische Argument der Autoren, wie ich es auch am Anfang dieser Rezension kurz skizziert habe: Nur durch ein demokratisches Weltparlament mit echten Durchgriffsrechten kann die Menschheit jene Herausforderungen in den Griff bekommen, mit denen das „Erdsystem“ konfrontiert ist.

Diese Kernthese deklinieren Leinen und Bummel für zahlreiche Einzelprobleme durch – vom Finanzsystem über die Steuerpolitik, künstliche Intelligenz und neue Viren, Atomwaffen und Terrorismusbekämpfung, Datenschutz und internationale Strafverfolgung, Ernährungssicherheit, Wasserpolitik und die Abschaffung von Armut. Immer wieder zeigen die beiden Autoren dabei auf, wie das heutige, auf die freiwillige Zusammenarbeit souveräner Staaten ausgerichtete Völkerrecht nicht in der Lage ist, nachhaltige Lösungen durchzusetzen: Entweder bleiben die Maßnahmen der Weltgemeinschaft zu schwach, worunter oft gerade die Ärmsten zu leiden haben. Oder es kommt (etwa im Kampf gegen Terror und Kriminalität) zu überschießenden Reaktionen, denen es aber an Legitimität und Kontrolle fehlt.

Der Ausweg aus diesem Dilemma ist immer wieder: das demokratische Weltparlament. Während der Leser diesen Dreh recht bald verstanden hat, bleibt es doch beeindruckend, wie viele Einzelbeispiele die Autoren dafür finden – und wie viele Experten sie zitieren, die für ihr jeweiliges Feld die Forderung nach einer effizienteren und demokratischeren Weltordnung erheben.

Die Möglichkeit einer globalen kollektiven Identität

Die letzten Kapitel des zweiten Teils lösen sich von dieser funktionalistischen Perspektive, um stärker die Frage in den Blick zu nehmen, ob die Menschheit zu einer globalen Demokratie überhaupt bereit wäre. In einer der schwächeren Passagen des Buches greifen Leinen und Bummel die „transnationale kapitalistische Klasse“ an, der daran gelegen sei, dass die globalisierten Märkte kein Gegengewicht in Form demokratisch legitimierter globaler politischer Institutionen bekämen – ein an sich bedenkenswertes Argument, das im Buch jedoch leider durch den allzu klassenkämpferischen Tonfall an Überzeugungskraft verliert.

Was die Bereitschaft der breiteren Bevölkerung betrifft, sich auf eine weltweite Demokratie einzulassen, sind Leinen und Bummel optimistischer. Durchaus plausibel legen sie dar, dass nationaler „Gruppennarzissmus“ nicht alternativlos ist und eine globale kollektive Identität – entgegen einem oft wiederholten Klischee – auch ohne Begegnung mit „außerirdischen ‚Anderen‘“ entstehen kann.

So wie die nationalen Identitäten im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts durch politische Mythenbildung konstruiert wurden, gibt es heute die Chance, ein Bewusstsein von der Menschheit als „real existierende Schicksalsgemeinschaft“ zu schaffen, die durch demokratische Weltinstitutionen in kollektiver Selbstbestimmung über ihre eigene Zukunft entscheidet. Als zentrale Akteure sehen Leinen und Bummel dabei nicht zuletzt die Historiker, die mit der Globalgeschichte eine neue Perspektive entwickelt haben, aus der ein „Selbstverständnis als Bürger dieser Welt“ entstehen könne.

Eine UNPA nach Vorbild des Europäischen Parlaments

Den konkreten Aussichten auf Verwirklichung einer Weltdemokratie ist schließlich der dritte Teil des Buches gewidmet, der mit nicht einmal 40 Seiten leider eher knapp ausfällt. Leinen und Bummel geben sich darin als Pragmatiker: Auch wenn ein vollwertiges Weltparlament „so schnell wie möglich gelingen muss“, seien „übereilte und gewagte Experimente“ nicht das Mittel der Wahl. „Bis auf weiteres“ sollte man sich vielmehr „auf einen stufenweisen und evolutionären Prozess einstellen“.

Wenig überraschend schwebt den Autoren dabei das Vorbild des Europäischen Parlaments vor, das 1952 als bloße Parlamentarische Versammlung begann, dessen Mitglieder von den nationalen Parlamenten delegiert wurden und das im Wesentlichen nur beratende Funktionen einnahm – ehe es im Lauf der Zeit nach und nach aufgewertet wurde. Einen ähnlichen Weg sehen Leinen und Bummel auch als Möglichkeit für eine Parlamentarische Versammlung bei den Vereinten Nationen (UNPA). Auch die Sitzverteilung könnte wie beim Europäischen Parlament zunächst mit degressiv-proportionalen Länderkontingenten erfolgen, ehe man eines Tages womöglich zu grenzüberschreitenden Wahlkreisen übergeht.

Ohnehin würde die UNPA, sobald es sie erst einmal gäbe, rasch zum Aktionsfeld der globalen Parteien und könnte dann – als das bestlegitimierte Organ der Weltpolitik – leicht selbst zum Motor weiterer Veränderungen werden. Entscheidend ist für Leinen und Bummel deshalb nicht so sehr die finale Ausgestaltung des Weltparlaments, sondern dass mit der Einrichtung einer UNPA überhaupt der demokratische Reformprozess in Gang gesetzt wird.

Wie ist ein institutioneller Durchbruch möglich?

Bei der Frage, wie es zu einem solchen institutionellen Durchbruch kommen könnte, bleibt das Buch jedoch unvermeidlich etwas schemenhaft. Zu Recht weisen Leinen und Bummel darauf hin, dass historische Ereignisse wie der Berliner Mauerfall 1989 oder der arabische Frühling 2011 oft plötzliche und unerwartete Gelegenheitsfenster öffnen. Auch für die UNPA können sich die Autoren deshalb ganz unterschiedliche Auslöser vorstellen: ein drohender Dritter Weltkrieg, klimabedingte Naturkatastrophen, eine Demokratisierung Chinas. In der Zwischenzeit setzen Leinen und Bummel darauf, in der Zivilgesellschaft und unter den politischen Eliten ein möglichst großes Netz von Unterstützern aufzubauen, damit es dann im entscheidenden Moment zu einer gleichzeitigen „Revolution von unten“ und „von oben“ kommen kann.

Geduldig Überzeugungsarbeit leisten und auf einen passenden politischen Auslöser warten: Auf manchen Zweifler, der den Glauben an eine UN-Reform verloren hat, mag diese Strategie allzu optimistisch wirken. Ob sie wirklich erfolgreich sein kann, wird die Zukunft zeigen. Einstweilen aber bleibt der föderalistische Entwurf eines demokratischen Weltparlaments die schlüssigste Alternative zum heutigen ineffizienten und schwach legitimierten UN-System. Jo Leinen und Andreas Bummel haben mit ihrem Buch einen wichtigen Beitrag geleistet, um die öffentliche Debatte darüber von unfruchtbaren Stereotypen zu lösen und in eine produktive Auseinandersetzung zu überführen.

Jo Leinen / Andreas Bummel: Das demokratische Weltparlament. Eine kosmopolitische Vision, Bonn (Dietz) 2017, 464 Seiten, Broschur: 26,00 Euro, eBook: 23,99 Euro.

Bild: NASA Goddard Space Flight Center; image by Reto Stöckli, enhancements by Robert Simmon [CC BY 2.0], via Flickr.

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