Natürlich: Jede größere EU-Reform, ob mit oder ohne Vertragsänderung, hat
ihre eigenen Themen, ihre eigenen Auslöser, ihre eigenen Hindernisse
und ihre eigene, besondere Dynamik. Die Weiterentwicklung der
europäischen Institutionen erfolgt nicht nach einem Masterplan, sondern oft in Reaktion auf die jeweils aktuellen Krisen,
und ihr Verlauf ist von zahlreichen externen Faktoren abhängig, die
eindeutige Vorhersagen verbieten. So kommt es vor, dass
Reformen jahre-, ja jahrzehntelang diskutiert werden,
ohne dass sich jemals die notwendigen Mehrheiten für ihre Umsetzung ergeben. Und dann wieder geht es
manchmal ganz schnell, und was eben noch utopisch anmutete, wird
in kürzester Zeit verwirklicht.
Dennoch
gibt es für das Zustandekommen europäischer
Integrationsfortschritte einige typische Muster, die mit der
Rollenverteilung der verschiedenen europäischen Institutionen
zusammenhängen: Das Europäische Parlament, die Europäische
Kommission und die nationalen Regierungen haben jeweils eigene
Interessen und Kompetenzen, durch die sie bei der Reform der EU zu
unterschiedlichen Stadien eine Rolle spielen. Diese Muster können
Hinweise darauf geben, wie nahe eine Reform bereits an ihrer
Verwirklichung ist.
Das Europäische Parlament als Frühindikator
Die
Debatten im Europäischen Parlament können dabei oft als eine Art
Frühindikator für zukünftige Integrationsschritte dienen.
Historisch setzte sich das Europäische Parlament zu einem großen
Teil aus politischen Idealisten zusammen, die kaum Einfluss auf die
konkrete Tagespolitik nehmen konnten und deshalb viel Energie in die
Entwicklung langfristiger, oft föderalistisch inspirierter
Zukunftsdiskurse setzten.
Durch
den Machtgewinn des Parlaments seit den 1980er Jahren hat sich dies
zwar etwas geändert. Doch angesichts der unvollständigen
Demokratisierung der EU ist das Parlament bis heute die Institution,
die von Reformen am meisten gewinnen kann und deshalb am ehesten auf
eine Weiterentwicklung der europäischen Institutionen drängt. Zudem
sind die direkt gewählten Abgeordneten zwar von ihren nationalen
Parteien abhängig, nicht aber von den nationalen Regierungen, sodass
sie oft Meinungen äußern können, die nicht einem eng definierten
„nationalen Interesse“ entsprechen. Und schließlich hat das
Parlament bis heute bei der wirklichen Umsetzung institutioneller
Reformen nur wenig Mitentscheidungsrechte. Die Abgeordneten können
in dieser Hinsicht deshalb oft nur Forderungen formulieren, ohne sich
um die Details der Realisierung kümmern zu müssen.
Reformen werden oft zuerst vom Parlament gefordert
All
dies führt dazu, dass das Parlament meist die ambitioniertesten und
intellektuell interessantesten Reformdebatten unter den europäischen
Institutionen führt. Oft waren die Europaabgeordneten die Ersten,
die eine später tatsächlich umgesetzte Maßnahme in einem
Initiativbericht gefordert haben. Allerdings kann der Zeitraum
zwischen Forderung und Umsetzung sich zuweilen sehr lange hinziehen:
Da die Initiativberichte des Parlaments unverbindlich sind, werden
sie von den übrigen Institutionen oft erst einmal in die Schublade
gelegt und (falls überhaupt) nur dann wieder hervorgezogen, wenn ein
besonderer Anlass dies opportun erscheinen lässt.
Dennoch
wäre es ein Fehler, Reformvorschlägen des Parlaments keine
Beachtung zu schenken. Die Abgeordneten spielen eine wichtige Rolle,
wenn es darum geht, Weichen zu stellen und die Themen zu setzen, die
bei der EU-Reform in Zukunft relevant sein werden. Alle großen
europäischen Demokratisierungsschritte der Vergangenheit – seien
es die europäischen Direktwahlen, die Unionsbürgerschaft oder die
Spitzenkandidaten für die Kommissionspräsidentschaft – wurden
über das Europäische Parlament in die Debatte eingespeist, nicht
von einer nationalen Regierung lanciert.
Die
Kommission will konkrete Erfolge
Etwas
anders ist die Rolle der Europäischen Kommission. Auch diese
vertritt zwar wie das Europäische Parlament ein europäisches
Gesamtinteresse. Doch die unterschiedliche Legitimationsgrundlage von
Parlament und Kommission führt letztlich auch zu etwas
unterschiedlichen Interessen: Für die gewählten Abgeordneten kann
es sinnvoll sein, ihre Integrationsvorschläge in die Öffentlichkeit
zu tragen, auch wenn diese nur langfristig eine Realisierungschance
haben. Hingegen ist die Kommission, deren Mitglieder von den
nationalen Regierungen nominiert werden und die bis heute oft ein
technokratisches Selbstverständnis pflegt, stärker an konkreten
Erfolgen interessiert.
In
Situationen, in denen große Integrationsschritte ohnehin keine
Chance auf Umsetzung haben, wird die Kommission deshalb oft
vermeiden, sich damit zu verzetteln – selbst wenn diese Schritte
noch so sinnvoll und notwendig erscheinen. Und umgekehrt gilt
natürlich auch: Wenn die Kommission sich mit vollem Nachdruck hinter
einen Reformvorschlag stellt, dann bedeutet das in der Regel, dass
sie dafür ernsthafte Realisierungschancen sieht.
Türwächter
sind die nationalen Regierungen
Die
eigentlichen Türwächter bei der EU-Reform aber sind natürlich die
nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten. Dies liegt nicht nur
daran, dass sie – als „Herren der Verträge“ – formal die
größte Macht über das Verfahren haben: Institutionelle Reformen,
ob mit oder ohne Vertragsänderung, erfordern fast immer die
einstimmige Zustimmung sämtlicher Mitgliedstaaten.
Hinzu
kommt, dass europäische Integrationsschritte oft mit einer
Übertragung nationaler Hoheitsrechte einhergehen und deshalb
wenigstens vordergründig einen Machtverlust für die nationalen
Regierungen bedeuten, der deren institutionellem Eigeninteresse
widerspricht. Damit die nationalen Regierungen zu einer größeren
EU-Reform bereit sind, ist deshalb in der Regel ein besonderer
Auslöser notwendig – oft eine wirtschaftliche oder politische
Krise, die ihnen deutlich vor Augen führt, dass die Nationalstaaten
allein mit der Lösung eines bestimmten Problems überfordert sind.
Deutsch-französische
Kompromisse führen oft zum Durchbruch
Allerdings
kommt den nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten bei der
Weiterentwicklung der europäischen Integration nur formal allen
dieselbe Bedeutung zu. In der Praxis sind es vor allem Deutschland
und Frankreich, die (als „deutsch-französischer Motor“ auch von
den Medien vielbeachtet) Reformen entscheidend zum Durchbruch
verhelfen können.
Das
hat verschiedene Gründe: Zum einen handelt es sich schlicht um die
größten und damit wirtschaftlich und politisch einflussreichsten
EU-Mitgliedstaaten. Zum anderen besaßen und besetzen Deutschland und
Frankreich – trotz der vielbeschworenen „Freundschaft“ zwischen
beiden Ländern – in europapolitischen Schlüsselfragen oft
entgegengesetzte Pole: zwischen NATO-Treue und europäischer
Eigenständigkeit in der Außen- und Verteidigungspolitik, zwischen
Ordoliberalismus und Interventionismus in der Wirtschaftspolitik,
zwischen Ost- und Südorientierung in der Erweiterungs- und
Nachbarschaftspolitik, historisch auch zwischen Supranationalismus
und Intergouvernementalismus bei der Ausgestaltung der europäischen
Institutionen.
Ist die kritische Masse erreicht, geben Skeptiker ihre Blockade auf
Diese
Kombination aus inhaltlichen Differenzen und enger Zusammenarbeit
führt dazu, dass Kompromisse zwischen Deutschland und Frankreich
häufig auch von anderen Regierungen als Basis für einen
gesamteuropäischen Kompromiss anerkannt werden. Eine gemeinsame
deutsch-französische Linie zu einem neuen Integrationsschritt stößt
im Europäischen Rat deshalb oft auch auf Unterstützung zahlreicher
weiterer Regierungen, die grundsätzlich reformbereit sind –
historisch häufig Italien, Spanien oder die Benelux-Länder.
Sobald
diese Gruppe schließlich eine kritische Masse erreicht hat, ist es
sehr schwer, eine Reform noch aufzuhalten. Selbst wenn es unter den
übrigen Regierungen noch Gegner des Vorschlags gibt, werden diese
sich genau überlegen müssen, ob sie ein Veto dagegen einlegen. Denn
zum einen ist schon aus Imagegründen kein Mitgliedstaat im
Europäischen Rat gerne isoliert; und zum anderen kann eine Gruppe
reformwilliger Staaten oft damit drohen, eine Maßnahme notfalls
alleine umzusetzen, wodurch die Außenseiter weiter an Einfluss
verlieren würden.
Auch
für integrationsskeptische Regierungen ist es deshalb ab einem
bestimmten Punkt sinnvoller, eine Reform nicht zu blockieren, sondern
sie allenfalls bei der konkreten Umsetzung zu bremsen – oder sich
die Zustimmung dafür mit Zugeständnissen in anderen Bereichen
abkaufen zu lassen.
Und
heute?
Vorschläge
aus dem Europäischen Parlament, fokussiert durch die Europäische
Kommission, zusammengeschnürt in einem deutsch-französischen
Kompromiss, in dem eine Mehrheit der nationalen Regierungen sich
wiederfindet und mit dem sich schließlich auch die Bremser
abfinden – das ist der Verlauf, den größere EU-Reformen häufig
nehmen. Exemplarisch habe ich diese Entwicklung hier
vor einigen Jahren am Vertrag von Maastricht beschrieben. Aber
wie sieht es damit eigentlich heute aus?
Was
das Europäische Parlament betrifft, ist die Bereitschaft zu Reformen
offensichtlich. Mit dem Brok/Bresso-Bericht
(über institutionelle
Reformen im Rahmen der bestehenden Verträge) Verhofstadt-Bericht
(über mögliche
Vertragsänderungen) hat es im Februar 2017 zwei umfassende
Kataloge mit teils sehr pragmatischen, teils eher visionären
Vorschlägen vorgelegt. Zu den großen Themen darin gehören der
Abbau nationaler Vetorechte, die Vertiefung der Währungsunion, eine
engere Zusammenarbeit in der Außen-, Innen- und Migrationspolitik.
Und bereits 2015 verabschiedete das Parlament den
Leinen/Hübner-Bericht
zur Reform
des Europawahlrechts.
Die
Europäische Kommission wiederum zögerte lang, sich voll auf die
Idee einer umfangreichen EU-Reform einzulassen. Ihr im März 2017
vorgelegtes „Weißbuch
zur Zukunft Europas“ beschränkte sich auf die Präsentation
von „Überlegungen und Szenarien“ und ging
den wichtigen institutionellen Fragen gänzlich aus dem Weg. Im
September bekannte sich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker
(CSV/EVP) mit seiner Rede
zur Lage der Union jedoch zu einer durchaus ambitionierten Agenda
und verdeutlichte damit, dass es auch
die Kommission nun ernst meint mit der Reform.
Macron
will die „Neugründung Europas“
Am
zögerlichsten sind wie üblich die nationalen Regierungen, wobei die
Positionen je nach Land weit auseinander gehen. Während vor allem
die südeuropäischen Regierungen, etwa Italien oder Spanien, sehr
aufgeschlossen gegenüber einer Vertiefung der europäischen
Zusammenarbeit sind, steht die mitteleuropäische „Visegrád-Gruppe“
(Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) eher auf der Bremse.
Wenig
überraschend richten sich deshalb viele Augen auf Deutschland und
Frankreich, die nun die Chance haben, mit einer entschlossenen
gemeinsamen Linie die anstehenden Reformen weiter voranzutreiben. Und
tatsächlich erklärte der französische Staatspräsident Emmanuel
Macron (LREM/–) in einer europapolitischen
Grundsatzrede Anfang September seine Unterstützung für eine
„Neugründung Europas“.
Der
Ball liegt in Berlin
Damit
liegt der Ball nun bei der deutschen Bundesregierung – die seit der
Bundestagswahl am 24. September freilich nur noch geschäftsführend
tätig ist. Seit einigen Wochen laufen nun immerhin
Koalitionsgespräche zwischen CDU/CSU (EVP), FDP (ALDE) und Grünen
(EGP). Doch die Verhandlungen laufen
stockend und dürften sich mindestens bis Ende des Jahres hinziehen. Die
ersten Sondierungen zur Europapolitik brachten Ende Oktober noch
wenig
Konkretes; am heutigen Dienstag steht das Thema wieder
auf der Tagesordnung der Gespräche.
Unterdessen
wächst der öffentliche Druck: Kommentatoren wie der Philosoph
Jürgen Habermas, der Zeit-Kolumnist
Matthias Naß oder der SZ-Korrespondent
Daniel Brössler forderten zuletzt eine entschiedenere deutsche Unterstützung für
die Pläne von Emmanuel Macron. Gleichzeitig mehren sich jedoch auch
die Zweifel, ob bei den Koalitionspartnern in spe überhaupt
der politische Wille besteht, sich auf eine ambitionierte
Europapolitik einzulassen.
Die
Gelegenheit zu einer größeren EU-Reform ist zweifellos vorhanden.
In den nächsten Wochen wird sich zeigen, ob die deutsche Bundesregierung bereit ist, sie zu nutzen.
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