Von Edoardo Bressanelli, Christel Koop, Francesca Minetto und Christine Reh

- Der Europäische Rat soll Agendasetzer und Krisenmanager sein. Aber er greift auch regelmäßig in den Gesetzgebungsprozess ein.
Der Europäische Rat ist vor allem als strategischer Agendasetzer, als Krisenmanager und als Verfassungsautorität der EU bekannt. Darüber hinaus hat er aber auch eine bisher weitgehend unbekannte Seite: In diesem Artikel stellen wir einen Europäischen Rat vor, der immer wieder aktiv und selbstbewusst in die tägliche Entscheidungsfindung der EU eingreift.
Die Staats- und Regierungschef:innen der EU-Mitgliedstaaten, die Präsident:in der Europäischen Kommission und die Hohe Vertreter:in für Außen- und Sicherheitspolitik treffen sich regelmäßig in Gipfeln. Der erste Gipfel des Europäischen Rates fand vor 50 Jahren, im März 1975, statt. Seit 2009 werden diese hochrangigen Treffen von einer ständigen Präsident:in des Europäischen Rates vorbereitet und geleitet. Gipfeltreffen können formell oder informell sein; nach formellen Gipfeltreffen werden sogenannte „Schlussfolgerungen“ veröffentlicht. Diese Schlussfolgerungen sind rechtlich nicht bindend, enthalten aber die vereinbarten Standpunkte der Staats- und Regierungschef:innen zu Fragen, die für die Union und ihre Bürger:innen von großer Bedeutung sind. Darüber hinaus werden in den Schlussfolgerungen regelmäßig bestimmte Gesetze und Gesetzesvorhaben erwähnt und die anderen EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten damit „beauftragt“, zu diesen Rechtsvorschriften zu handeln.
Wie oft interveniert der Europäische Rat in die Gesetzgebung?
In unserem Forschungsprojekt haben wir mehr als 2.500 Gesetze und Gesetzesvorhaben im Zeitraum von 1999 bis 2024 analysiert, die im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens (oder Mitentscheidungsverfahrens) vorgeschlagen, abgeschlossen oder zurückgezogen wurden. Zudem haben wir 106 Schlussfolgerungen von Gipfeltreffen untersucht und Interviews mit Entscheidungsträger:innen auf nationaler und EU-Ebene geführt, die uns dabei halfen, die Vorbereitung von Schlussfolgerungen und ihre Weiterverfolgung im nachgelagerten Gesetzgebungsprozess besser zu verstehen.
Von den 2.585 analysierten Gesetzen erwähnt der Europäische Rat etwa 17% in seinen Schlussfolgerungen. Insgesamt erwähnen die Staats- und Regierungschef:innen 451 Gesetze zwischen einem und 13 Mal; 168 Gesetze werden einmal erwähnt, 53 Gesetze werden drei- bzw. fünfmal erwähnt, und 12 Gesetze werden mehr als zehnmal erwähnt.
Der Europäische Rat beauftragt EU-Institutionen und Mitgliedstaaten
Die nationalen Staats- und Regierungschef:innen erteilen dabei den anderen EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten häufig Aufträge, die alle Phasen des Gesetzgebungsverfahrens betreffen.
Als Policy-Vorschläge verstehen wir Formulierungen, in denen die Staats- und Regierungschef:innen die Europäische Kommission zu neuen Rechtsvorschriften „auffordern“ oder „einladen“; seit 1999 haben sie der Kommission 216 derartige Aufträge erteilt.
Im Rahmen dessen, was wir Policy-Bekräftigung nennen, „ermutigen“ oder „begrüßen“ die Staats- und Regierungschef:innen Gesetzgebungsvorschläge oder „nehmen sie zur Kenntnis“; dies geschah 352 Mal seit 1999.
Bei Policy-Entscheidungen „drängt“ der Europäische Rat die Ko-Gesetzgeber (den Rat der EU und das Europäische Parlament), „erwartet die Verabschiedung“ oder fordert zur „Beschleunigung“ auf. Mit mehr als 850 Aufforderungen ist dies die Phase mit den meisten Aufträgen.
Die letzte Form des Auftrags schließlich betrifft die Policy-Implementierung, bei der die Staats- und Regierungschef:innen die nationale Umsetzung beschlossener EU-Gesetze fordern. Seit 1999 haben die Staats- und Regierungschef:innen die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten 186 Mal zur Implementierung von Recht aufgefordert.
Welche Art von Gesetzen erwähnt der Europäische Rat?
Basierend auf etablierten Ansätzen und unserer eigenen, bis 2024 aktualisierten Kodierung, unterscheiden wir vier Arten von Gesetzgebung. Umverteilungsgesetze dienen der Zuweisung von Finanzmitteln; Verteilungsgesetze weisen ebenfalls Finanzmittel zu, allerdings ohne Umverteilung; Regulierungsgesetze legen Beschränkungen fest und eröffnen Möglichkeiten, insbesondere für Akteure im Binnenmarkt; verfahrenskonstituierende Gesetze legen die Regeln für Politikgestaltung fest. Der Europäische Rat nimmt auf alle vier Arten von Gesetzen Bezug, erwähnt aber Umverteilungsgesetze am häufigsten. Mit diesen Gesetzen werden Gelder verteilt, die aus den Haushalten der Mitgliedstaaten stammen. Die nationalen Entscheidungsträger:innen, so argumentieren wir, wollen über diese Gesetze offenbar kontrollieren, wie ihre Mittel ausgegeben werden.
Darüber hinaus unterscheiden wir zwischen „expansiven“ und „nicht-expansiven“ Gesetzen. Expansive Rechtsvorschriften erhöhen das Niveau, den Umfang oder die Reichweite von EU-Gesetzen. Ein bekanntes Beispiel aus jüngster Zeit ist das Gesetz über kritische Rohstoffe aus dem Jahr 2023. Der Europäische Rat verweist häufig auf expansive Gesetze: Er erwähnt 27% der expansiven Gesetze, aber nur 10% der nicht-expansiven Gesetze. Auch die Kommission priorisiert expansive Gesetze bei der Festlegung ihrer eigenen Gesetzgebungsagenda.
Wenn Staats- und Regierungschef:innen als Verfechter:innen nationaler Interessen wahrgenommen werden, sollte uns die häufige Erwähnung expansiver Rechtsvorschriften stutzig machen. Wir schlagen zwei mögliche Erklärungen vor: Entweder versuchen der Europäische Rat und die Europäische Kommission gemeinsam, diese Gesetze „anzuschieben“ oder zu „fördern“, oder der Europäische Rat versucht, in festgefahrenen Situationen Blockaden zu überwinden.
Ist der Europäische Rat ein Krisenmanager?
Der Europäische Rat befasst sich öffentlich und gut sichtbar mit wirtschaftlichen, politischen, sicherheitspolitischen und gesellschaftlichen Krisen. Die Tagesordnungen der Gipfeltreffen sind oft krisenorientiert, und die Staats- und Regierungschef:innen erwähnen krisenbezogene Gesetze viel häufiger als „normale“ Rechtsakte. Tatsächlich werden in den Schlussfolgerungen der Gipfeltreffen 37% der krisenbezogenen Gesetze erwähnt, verglichen mit 14% der nicht-krisenbezogenen Gesetze. Die drei Krisen, die relativ gesehen am häufigsten genannt werden, sind Energie, Asyl und Migration sowie die russische Invasion der Ukraine.
Auf dieser Grundlage argumentieren wir, dass der Europäische Rat in Brüssel nicht nur sichtbar Krisenmanagement betreibt (oder zu betreiben versucht). Vielmehr kombinieren die nationalen Staats- und Regierungschef:innen regelmäßig hochrangige Krisenpolitik mit Interventionen in die alltägliche gesetzgeberische Krisenreaktion.
Gesetzgebungsprioritäten: Kooperation mit der Kommission?
Bei der Vorbereitung der Gipfeltreffen wird die Europäische Kommission zum Tagesordnungsentwurf und zum Entwurf der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates konsultiert und erörtert diese mit der Präsident:in des Europäischen Rates und ihrem Kabinett. Während der Gipfeltreffen steht die Kommissionspräsident:in in direktem Kontakt mit den Staats- und Regierungschef:innen. Es stellt sich daher die Frage, ob die Gesetzgebungsprioritäten in den jährlichen Arbeitsprogrammen der Kommission und in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates eng aufeinander abgestimmt sind. Dies ist nicht der Fall.
Unsere Ergebnisse zeigen, dass mehr als 60% der EU-Gesetze weder vom Europäischen Rat noch von der Kommission als vorrangig eingestuft werden. Weniger als 5% sind gemeinsame Prioritäten, mehr als 20% werden nur von der Kommission priorisiert, und weniger als 10% sind alleinige Prioritäten des Europäischen Rates.
Wir bieten zwei mögliche Erklärungen für diese Beobachtung an. Erstens könnte die Europäische Kommission ausdrücklich Aufträge des Europäischen Rates „anfordern“, um hochrangige Unterstützung zu signalisieren, wenn Gesetzesvorschläge feststecken. Zweitens scheint die Kommissionspräsident:in die Gipfeltreffen zu nutzen, um selbst mit den Staats- und Regierungschef:innen der Mitgliedstaaten Optionen zu erkunden. Insgesamt scheint die Kommission – im Gegensatz zum Europäischen Parlament – mit dem Selbstbewusstsein und der Interventionsfreude des Europäischen Rates recht gut zurechtzukommen.
Sind Schlussfolgerungen des Europäischen Rates rechtsverbindlich?
Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, einschließlich ihres Geltungsbereichs und ihrer Rolle, wurden verschiedentlich vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) angefochten. Eine Studie für das Europäische Parlament unterstreicht, wie schwierig es ist, den Europäischen Rat gerichtlich zur Verantwortung zu ziehen: Die Vertragsartikel über den Europäischen Rat sind relativ vage, die EU ist ein Mehrebenensystem, es gibt strenge Zulässigkeitsregeln, und die Entscheidungsfindung im Europäischen Rat erfolgt in der Regel im Konsens.
Dennoch hat der EuGH – ähnlich wie das Generalsekretariat des Rates – argumentiert, dass die Schlussfolgerungen des Gipfels nicht rechtsverbindlich sind, sondern die Akteure nur politisch verpflichten. In zwei Fällen – die von Polen angestrengte Rechtssache C-5/16 zur Marktstabilitätsreserve und die von der Slowakei und Ungarn angestrengten verbundenen Rechtssachen C-643/15 und C-647/15 zur Umsiedlung von Flüchtlingen – hat das Gericht die Befugnis des Europäischen Rates, Leitlinien für die Rechtsetzung der EU festzulegen, ausdrücklich eingeschränkt.
Konkret argumentierte das Gericht, dass die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates die Mehrheitsregel im Rat der EU nicht ändern dürfen. Der EuGH versuchte damit, die Eingriffsmöglichkeiten der Staats- und Regierungschef:innen durch das interinstitutionelle Gleichgewicht des Gesetzgebungsverfahrens einzugrenzen. Diese Urteile haben den Europäischen Rat jedoch nicht davon abgehalten, den anderen EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten weiterhin und häufig Aufträge im Gesetzgebungsprozess zu erteilen.
Fazit
Unsere Untersuchungen zeigen, dass der Europäische Rat am Prozess der alltäglichen Rechtsetzung beteiligt ist, und zwar mit Nachdruck. Die nationalen Staats- und Regierungschef:innen erwähnen in den Schlussfolgerungen ihrer Gipfel etwa 17% der EU-Gesetzgebung, und zwar insbesondere Gesetze, die Mittel umverteilen, EU-Kompetenzen erweitern und/oder krisenbezogen sind. Wenn der Europäische Rat Gesetze erwähnt, so agiert er mit großem Selbstbewusstsein und erteilt über alle Phasen des Gesetzgebungsverfahrens hinweg explizite Aufträge an die anderen EU-Institutionen, insbesondere an die Ko-Gesetzgebungsorgane.
Haben diese häufigen Eingriffe in den Gesetzgebungsprozess Auswirkungen auf das Machtgleichgewicht innerhalb der EU? Der Europäische Rat ist in der Tat ein besonders mächtiger und sichtbarer Akteur, der in Brüssel über weitreichende Befugnisse verfügt. Einige Beobachter:innen aus Wissenschaft und Politik argumentieren, dass die starke Führung durch die Staats- und Regierungschefs:innen notwendig sei, damit die EU effektiv funktionieren kann, insbesondere in Krisenzeiten.
Aus unserer Sicht hingegen verkompliziert das routinemäßige aktive und selbstbewusste Eingreifen der Staats- und Regierungschef:innen die klassische Rollenverteilung der gesetzgebende Akteure im EU-Mitentscheidungsverfahren. Um den Gesetzgebungsprozess vollständig zu verstehen, müssen wir daher vielleicht über das etablierte „institutionelle Dreieck“ hinaus ein neues „institutionelles Quadrat“ andenken.
Übersetzung: Manuel Müller.
Bild: Europäischer Rat: European Union (European Council) [
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European Council newsroom; Porträts Edoardo Bressanelli, Christel Koop, Francesca Minetto, Christine Reh: privat [alle Rechte vorbehalten].