21 Februar 2018

Also was nun – ja oder ja? Zur neuen Debatte über die europäischen Spitzenkandidaten

Emmanuel Macron ist gegen die Spitzenkandidaten bei der Europawahl 2019. Diesen Kampf wird er verlieren.
Über die europäischen Spitzenkandidaten wurde schon viel geschrieben, auch auf diesem Blog. Nachdem die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat den Kommissionspräsidenten früher stets im Alleingang ernannt hatten, nahmen ihnen die europäischen Parteien die Entscheidung über diese Personalie vor einigen Jahren aus der Hand, indem sie vor der Europawahl 2014 Spitzenkandidaten nominierten. Gleichzeitig vereinbarten die größten Fraktionen im Europäischen Parlament, dass sie ausschließlich den Spitzenkandidaten der stärksten Partei zum Kommissionspräsidenten wählen würden.

Nachdem bei der Europawahl die Europäische Volkspartei die meisten Sitze gewonnen hatte, stellte sich die Parlamentsmehrheit deshalb geschlossen hinter deren Kandidaten Jean-Claude Juncker (CSV/EVP). Die nationalen Staats- und Regierungschefs grummelten zwar, gaben aber nach und nominierten den vom Parlament gewünschten Präsidenten.

Neuer Widerstand im Europäischen Rat

Ende gut, alles gut also? Leider noch nicht: Auch nach Junckers Wahl hat sich der Europäische Rat nicht so ganz mit dem neuen Verfahren abgefunden. Einen Vorstoß des Parlaments, die Spitzenkandidaten auch formal im Europawahlrecht zu verankern, ließen die nationalen Regierungen 2016 abprallen. Und im Vorfeld der Europawahl 2019 formiert sich nun erneut Widerstand: Eine Gruppe von Mitgliedstaaten, die neben den Regierungen von Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei auch den französischen Präsidenten Emmanuel Macron (LREM/–) umfasst, lehnt das neue Verfahren ab und wird dabei offenbar auch von Ratspräsident Donald Tusk (PO/EVP) unterstützt.

Die Motivationen der Spitzenkandidaten-Gegner sind dabei recht unterschiedlich. Die notorisch europaskeptischen Regierungen der Visegrád-Gruppe dürften vor allem das Ziel haben, Fortschritte zur supranationalen Demokratie zu verhindern. Macron hingegen geht es wohl eher um seinen eigenen Einfluss: Seine Formation La République en Marche hat sich bis jetzt noch keiner europäischen Partei angeschlossen und hätte deshalb auch keine Mitsprachemöglichkeit bei der Nominierung der Spitzenkandidaten.

Auf der anderen Seite sprach sich die Europäische Kommission vor kurzem noch einmal ausdrücklich für das neue Verfahren aus, und das Europäische Parlament kündigte bereits an, dass es auch 2019 niemanden als Kommissionspräsidenten akzeptieren wird, der nicht zuvor von einer europäischen Partei als Spitzenkandidat nominiert wurde. Insbesondere befürwortet auch die Europäische Volkspartei das Verfahren, auf die es in dieser Angelegenheit besonders ankommt, da sie den Wahlumfragen zufolge recht sicher auch 2019 wieder die stärkste Fraktion im Europäischen Parlament stellen wird.

2014 hatten die Spitzenkandidaten wenig Strahlkraft

Das wichtigste Argument der Spitzenkandidaten-Gegner in dieser neu entbrannten Diskussion bezieht sich auf die Erfahrungen von 2014: Anders als erhofft, konnten die Spitzenkandidaten damals in Bezug auf die sinkende Wahlbeteiligung an Europawahlen keine Trendwende anleiten.

In den Herkunftsländern der Spitzenkandidaten, speziell Deutschland (mit Martin Schulz, SPD/SPE, und Ska Keller, Grüne/EGP) und Griechenland (mit Alexis Tsipras, Syriza/EL), stieg sie zwar etwas an (in Luxemburg und Belgien, wo die Spitzenkandidaten von EVP und ALDE herkamen, herrscht ohnehin Wahlpflicht). Doch offenbar gelang es den Kandidaten nicht, eine gesamteuropäische Strahlkraft zu entwickeln. Die Einschaltquoten bei ihren Fernsehduellen blieben niedrig, die Unterschiede zwischen den Kandidaten blieben blass. An der europaweiten Green Primary beteiligten sich weniger als 25.000 Personen. Und auch wenn Juncker und Schulz 2014 bekannter waren als die meisten Europapolitiker vor ihnen, dürften nur wenige Wähler bei der Entscheidung in der Wahlkabine tatsächlich ihre Gesichter vor Augen gehabt haben.

Wenn nun aber die Spitzenkandidaten tatsächlich kaum etwas zu einer Belebung der europäischen Demokratie beitragen, so das Argument ihrer Gegner, warum dann an dem neuen Verfahren festhalten? Warum den nationalen Regierungen nicht die Handlungsfreiheit zurückgeben, die sie bei der Ernennung der Kommissionspräsidenten früher genossen hatten?

Eine Entscheidung im Hinterzimmer der EVP?

Dieses Argument gewinnt durch die gegenwärtige Konstellation, bei der die Europäische Volkspartei in den Wahlumfragen klar dominiert, noch weiter an Gewicht. Gewiss, auch die Personalentscheidungen des Europäischen Rates vor 2014 lassen sich mit gutem Grund kritisieren: Junckers Vorgänger Jacques Santer (CSV/EVP, 1995-1999), Romano Prodi (Dem/ELDR, 1999-2004) und José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP, 2004-2014) waren allesamt schwache, uncharismatische Präsidenten. Aber immerhin war ihre Ernennung eine Kompromissentscheidung, an der die Regierungen aller Mitgliedstaaten beteiligt waren.

Hingegen wird das Spitzenkandidaten-Verfahren bei der Europawahl 2019 dazu führen, dass sich die Wahl von Junckers Nachfolger de facto bereits auf dem Nominierungsparteitag der Europäischen Volkspartei am 7./8. November 2018 entscheidet. Dagegen wäre aus demokratischer Sicht grundsätzlich nichts einzuwenden: Schließlich liegt das letzte Wort weiterhin bei den Wählern, die sich bei einem unpopulären Kandidaten der EVP ja immer noch bei der Europawahl für eine andere Partei entscheiden könnten. Nur was, wenn die Kandidaten weiterhin so unsichtbar und unbekannt bleiben wie 2014? Am Ende, so die Kritiker, verschöbe das Spitzenkandidaten-Verfahren die politische Macht nur vom Hinterzimmer des Europäischen Rates in das Hinterzimmer einer einzelnen europäischen Partei.

2014 unterschätzten die Medien die Relevanz der Kandidaten

Doch dieses Argument verkennt, dass die Erfahrungen von 2014 kaum aussagekräftig für künftige Europawahlen sind. Damals war das gesamte Verfahren neu und unvertraut – für Parteien, Medien und Wähler gleichermaßen. Neue grenzüberschreitende Formate wie die Green Primary wurden zum ersten Mal erprobt, mit allen damit verbundenen Kinderkrankheiten. Der Widerstand der nationalen Regierungen im Europäischen Rat tat ein Übriges: Selbst renommierte Europapolitik-Experten zweifelten an den Erfolgsaussichten des neuen Verfahrens. In der Süddeutschen Zeitung hieß es dementsprechend einige Wochen vor der Wahl, die Spitzenkandidaten seien „zum Scheitern verurteilt“, im Tagesspiegel war von einer „Farce“ die Rede.

Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, dass die mediale Resonanz auf die Spitzenkandidaten zunächst gering lieb. Die meisten Journalisten unterschätzten schlicht die Relevanz des neuen Verfahrens und gaben deshalb Juncker und Schulz in der Berichterstattung weniger Sichtbarkeit, als sie das unter anderen Umständen getan hätten. Und das bedeutet im Umkehrschluss: Wenn das Spitzenkandidaten-Verfahren in Zukunft erst einmal fest etabliert sein wird, kann es die öffentliche Wahrnehmung des Europawahlkampfs sehr viel stärker prägen und damit auch mehr zu einer echten Demokratisierung beitragen, als das 2014 der Fall war.

Ob es schon 2019 so weit sein wird, ist allerdings fraglich. Der neue Widerstand der nationalen Regierungen lässt jedenfalls befürchten, dass sich die Unsicherheit über das Ernennungsverfahren auch diesmal bis zur Europawahl hinzieht. Selbst wenn es den Gegnern des Verfahrens nicht gelingt, die Spitzenkandidaten selbst zu verhindern, könnten sie auf diese Weise die öffentliche Auseinandersetzung damit sabotieren. Im schlimmsten Fall wird erneut nur der institutionelle Machtkampf zwischen dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament im Vordergrund stehen – und nicht die Kandidaten selbst.

Das Parlament hat auch diesmal die besseren Karten

Für die Befürworter der Spitzenkandidaten geht es jetzt deshalb darum, möglichst wenig Zweifel an der Wiederholung des neuen Verfahrens aufkommen zu lassen. Die Voraussetzungen dafür sind durchaus gut, denn das Europäische Parlament hat in dieser Auseinandersetzung nach wie vor die besseren Karten. An den Faktoren, die 2014 zur Durchsetzung von Jean-Claude Juncker führten, hat sich wenig geändert.

Denn auch 2019 wird das Europäische Parlament bei dem Konflikt mehr zu verlieren als die nationalen Regierungen haben, sodass es bei einer Machtprobe entschlossener agieren würde. Auch 2019 wird der erfolgreiche Spitzenkandidat nach der Europawahl wenigstens eine gewisse öffentliche Bekanntheit besitzen, während der Europäische Rat sich erst einmal auf eine andere Person einigen und deren bessere Eignung plausibel machen müsste. Und auch 2019 wird es auch innerhalb des Europäischen Rats Akteure geben, die sich für das neue Verfahren einsetzen – unter anderem der irische Premierminister Leo Varadkar (FG/EVP), der kroatische Ministerpräsident Andrej Plenković (HDZ/EVP) und der luxemburgische Premier Xavier Bettel (DP/ALDE) –, sodass es den Spitzenkandidaten-Gegnern schwerfallen wird, hier eine geschlossene Front zu bilden.

Macron hat keinen Nutzen von seinem Widerstand

Alles spricht also dafür, dass die europäischen Parteien das neue Verfahren auch dieses Mal erfolgreich durchziehen werden. Die Gegner einer supranationalen Demokratie wird das nicht hindern, bis zuletzt Zweifel zu säen. Für Emmanuel Macron aber wird eine ablehnende Haltung, mit der er nichts zu gewinnen hat, kaum politischen Nutzen bringen – umso mehr, als er damit seinen Ruf als aktivster Europafreund im Europäischen Rat in Frage stellt.

Tatsächlich spekulierten bereits in den letzten Wochen manche Beobachter, dass es sich bei Macrons Kritik an den Spitzenkandidaten lediglich um eine strategische Position handeln könnte, um seiner Forderung nach gesamteuropäischen Listen bei der Europawahl größeren Nachdruck zu verleihen. Diese gesamteuropäischen Listen werden von der Europäischen Volkspartei, die in diesem Jahr ein besonders großes Interesse am Spitzenkandidaten-Verfahren hat, mehrheitlich abgelehnt. Wenigstens theoretisch wäre deshalb ein pro-europäisches Verhandlungspaket zur Wahlrechtsreform denkbar gewesen, bei dem Macron die Spitzenkandidaten und die EVP die gesamteuropäischen Listen akzeptiert.

Doch nachdem vor zwei Wochen eine Allianz aus EVP, Nationalkonservativen, Rechtspopulisten und Linken im Europäischen Parlament die gesamteuropäischen Listen wenigstens für die nächste Europawahl begraben hat, ist dieses Paket vom Tisch. Damit hat Macrons Widerstand gegen die Spitzenkandidaten jeden praktischen Sinn verloren – und wird zunehmend zum Hindernis auch für Macrons eigenes Interesse an einer Vertiefung der EU, weil er dazu beiträgt, dass die Debatte über institutionelle Reformen in einer Auseinandersetzung der Vergangenheit gefangen bleibt.

Es wird Zeit, diese Debatte hinter uns zu lassen

Und auch die europäischen Föderalisten sollten sich jetzt nicht in dem Kampf um die europäischen Spitzenkandidaten verzetteln, den sie eigentlich schon gewonnen haben. Natürlich ist es wichtig, dass die europäischen Parteien und das Europäische Parlament fest bei ihrer Linie bleiben. Aber man tut den Skeptikern im Europäischen Rat zu viel der Ehre, wenn man diesen Konflikt nun in den Mittelpunkt der Diskussion über die EU-Reform rückt.

Denn so sinnvoll die Spitzenkandidaten auch sind, so klar ist auch, dass sie auf dem Weg zu einer demokratischen EU nur ein einzelner Schritt sein können. Viele weitere Schritte sind nötig: Wir brauchen, um nur ein paar Beispiele zu nennen, gesamteuropäische Listen, um die europäischen Parteien weiter zu stärken. Wir brauchen eine Wahl der Europäischen Kommission allein durch das Parlament, damit sich auch auf europäischer Ebene eine Regierungs-Oppositions-Dynamik entfaltet. Und wir brauchen eine Reduzierung der Mehrheitsanforderungen bei EU-Entscheidungen, damit die permanente Große Koalition enden und die Europawahl zu einer echten politischen Richtungsentscheidung werden kann.

All das sind dicke Bretter, an denen wir wohl noch einige Jahre bohren werden. Zugleich sind es aber auch die Zukunftsthemen für die Demokratisierung der EU, über die es sich ernsthaft zu diskutieren lohnt. Zu den Spitzenkandidaten bleibt hingegen nicht viel mehr zu sagen, als dass es sie auch 2019 wieder geben wird und niemand den Fehler begehen sollte, sie nicht ernst zu nehmen.

Bild: Jeso Carneiro [CC BY-NC 2.0], via Flickr.

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