19 Dezember 2012

Weihnachtliche Spenden und der globale Sozialstaat

Die Wohltätigkeit soll nur die Spalten der Gerechtigkeit füllen, aber nicht die Abgründe der Ungerechtigkeit.
Miguel Delibes, Fünf Stunden mit Mario

Raja Ravi Varma: Eine Dame gibt Almosen.
Wenn gegen Ende der Adventszeit auf den Weihnachtsmärkten die Lichter glänzen und es einem nach dem zweiten Becher Glühwein ganz warm ums Herz wird, dann möchte man die ganze Menschheit lieb haben und denkt sich, wie schön es doch wäre, wenn es auch all den Notleidenden in der Welt ein wenig besser ginge. Gibt man dann bei Google den Suchbegriff „Weihnachtsspende“ ein, kommt man derzeit auf um die 100.000 Treffer. Ganz offensichtlich ist es uns wichtig, kurz vor dem Jahreswechsel noch einmal ein guter Mensch zu sein – und so überbieten sich die diversen Charity-Organisationen in dieser Zeit damit, uns durch Spendenaktionen die Erleichterung des Gewissens zu vereinfachen. Einer Studie des Deutschen Spendenrats zufolge wird im Dezember rund dreimal so viel gespendet wie im Durchschnitt aller übrigen Monate: 2011 zum Beispiel umfasste der deutsche Spendenmarkt insgesamt knapp 4,5 Milliarden Euro, von denen etwa eine Milliarde in den letzten Wochen vor Jahresende umgesetzt wurde.

Nun ist das mit dem Spenden sicher eine wunderschöne und für den Spender ungemein befriedigende Sache. Es geht ganz einfach, man tut etwas Gutes, und man kann auch noch selbst bestimmen, für welche Zwecke das Geld verwendet wird. Aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive fällt das Bild indessen nicht ganz so rosig aus. Und damit meine ich noch nicht einmal, dass eine Menge Spendengelder für sinnlose Projekte in den Sand gesetzt werden oder in dunklen Kanälen versickern. Problematisch ist schon die Art, wie wir überhaupt unsere Spendenentscheidungen treffen.

Wir spenden nur denen, die wir sehen

Denn wenn wir Geld für einen guten Zweck zu verschenken haben, wem geben wir es am liebsten? Natürlich einer Organisation, die wir kennen, der wir vertrauen und mit der wir etwas Positives assoziieren. Und wer ist darauf spezialisiert, Organisationen bekannt zu machen, Vertrauen zu stiften und positive Assoziationen zu wecken? Natürlich die Marketing-Branche. Um optimal von der großen Weihnachtsspenderei zu profitieren, sollte ein gemeinnütziger Verein also möglichst über die nötigen Finanzmittel verfügen, um Werbeplakate an Bahnhöfen und Bushaltestellen aufzuhängen – oder noch besser über die nötigen Beziehungen, um zu den Begünstigten von ZDF-Spendengalas und Sternsinger-Aktionen, oder wenigstens von einem lokalen Sparkassen-Charity-Event zu gehören.

Außerdem sind, insbesondere wenn es um Katastrophen geht, Telegenität und Timing wichtig: Unvergessen ist die Solidarität, die den Opfern des spektakulären Tsunamis vom 26. Dezember 2004 zuteil wurde (bis Ärzte ohne Grenzen öffentlich erklärte, man möge doch bitte von weiteren zweckgebundenen Spenden absehen), und auch das Erdbeben in Haiti am 12. Januar 2010 führte zu einem deutlichen Anstieg des Spendenaufkommens. Die Opfer der ostafrikanischen Hungersnot im Sommer 2011 hingegen hatten das Pech, dass ihr Unglück nur wenige fernsehträchtige Bilder produzierte und außerdem mitten in die europäische Ferienzeit fiel. Unsere Spenden kommen also nicht unbedingt bei denjenigen an, die sie am dringendsten nötig haben – sondern bei denen, deren Leid uns zufällig ins Auge fällt, wenn wir gerade zum Geldgeben aufgelegt sind. Und während jeder Einzelne meint, eine gute Tat zu vollbringen, schaffen wir gemeinsam vielleicht eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.

Der Sozialstaat

Nun sind diese Überlegungen natürlich nichts Neues; und wenn man einen Blick darauf wirft, wie sich die Institutionen menschlicher Solidarität historisch entwickelt haben, kann man klar den Versuch erkennen, den Problemen ungelenkter Mildtätigkeit abzuhelfen. Von entscheidender Bedeutung war dabei die Entstehung des Sozialstaats. Anders als die klassische Barmherzigkeit finanziert er sich nicht aus unzuverlässig fließenden Almosen, sondern aus einer allgemeinen Steuer, und er teilt seine finanzielle Hilfen auch nicht willkürlich dem Nächstbesten zu, sondern folgt dabei einem demokratisch beschlossenen Katalog von Bedürftigkeitskriterien. Für die Betroffenen ist diese Veränderung ohne Zweifel von Vorteil: Wer einen schweren Arbeitsunfall hatte, kann nun eine staatliche Invalidenrente beantragen, statt seine verstümmelten Beine beim Betteln auf der Straße zu präsentieren. Und Maßnahmen wie die staatliche Arbeitslosenhilfe sind auch für die Volkswirtschaft insgesamt von Nutzen, wirken sie doch als automatischer Stabilisator bei konjunkturellen Schwankungen.

Diese Rationalisierung der menschlichen Solidarität durch den Sozialstaat brachte also viele Gewinner hervor. Die Einzigen, für die sie von Nachteil war, sind die großherzigen Spender: Unbestreitbar macht es sehr viel weniger Vergnügen, im Mai die jährliche Steuererklärung auszufüllen, als im Dezember nach eigenem Gutdünken Geldgeschenke zu verteilen. Aber bekanntlich ist Geben ohnehin seliger als Nehmen, und so scheint es mir durchaus gerecht zu sein, wenn im Solidarsystem die Bedürfnisse der Schwachen ein wenig mehr zählen als der Narzissmus der Starken. Weihnachtliches Spenden ist eine schöne Sache, aber es ist doch überaus beruhigend zu wissen, dass es sich dabei zu einem großen Teil nur noch um Folklore handelt, da für die elementare Grundversorgung der Bedürftigsten inzwischen der Staat sorgt.

Transnationale Solidarität

Aber wie das eben so ist mit „dem Staat“: Sobald er an nationale Grenzen stößt, ist es schnell vorbei mit der Solidarität. Schon innerhalb der Landesgrenzen haben es Menschen mit der falschen Staatsangehörigkeit oft schwer, in den Genuss staatlicher Leistungen zu gelangen. Noch drastischer aber werden die Unterschiede, wenn es um transnationale Hilfen geht: Ein echtes überstaatliches Sozialsystem gibt es bis heute nirgendwo auf der Welt, und während beispielsweise innerhalb Deutschlands mehr als ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts durch Sozialleistungen umverteilt wird, beschränken sich die Transfers zwischen den reichen und armen Ländern in Europa auf einen Bruchteil des einen Prozents des BIP, das den Haushalt der EU ausmacht. Und wenn wir uns nun gar erst jenen Teil der Welt ansehen, wo die wirklich Bedürftigen leben …

Um es kurz zu machen: Bereits im April dieses Jahres warnte die OECD vor massiven Kürzungen in der Entwicklungshilfe der europäischen Staaten. Insbesondere die südeuropäischen Länder, die im Zuge der Eurokrise zu scharfen Sparmaßnahmen gedrängt wurden, setzten hier den Rotstift an: Griechenland und Spanien etwa strichen ihre Entwicklungsausgaben um mehr als ein Drittel zusammen. Deutschland, das im Vorjahr noch zu den wenigen Euro-Ländern gezählt hatte, die ihre auswärtige Hilfe erhöhten, zog dann im November nach und kürzte den Etat des Entwicklungsministeriums ebenfalls deutlich. Von dem 1970 im Rahmen der Vereinten Nationen vereinbarten und seitdem häufig bekräftigten Ziel, die Entwicklungshilfe aller Industrieländer auf 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts zu steigern, ist in der Realität kaum etwas übrig geblieben – Deutschland jedenfalls liegt derzeit gerade einmal bei der Hälfte dieses Werts.

Wohin diese Knausrigkeit führt, lässt sich beispielsweise an einem kürzlich veröffentlichten Bericht der Weltgesundheitsorganisation ablesen. Die UN-Gesundheitsbehörde warnte darin, der Kampf gegen Malaria – eines der 2001 feierlich beschlossenen „Millenniums-Entwicklungsziele“ – drohe daran zu scheitern, dass die nötigen Finanzmittel für den Kauf von Moskitonetzen fehlen. Aber bevor nun jemand fragt, wo man denn für Moskitonetze spenden kann (natürlich kann man das: hier zum Beispiel), sollten wir vielleicht kurz innehalten und uns auch ein paar Gedanken über die strukturellen Probleme machen, die dieser Not zugrunde liegen. Es ist das Fehlen eines übernationalen Steuer- und Solidarsystems, das dazu führt, dass Mittel für globale Sozialpolitik bis heute so knapp und ungerecht verteilt sind, wie sie es vor hundertfünfzig Jahren auch auf einzelstaatlicher Ebene noch waren.

Eine Steuer für die Vereinten Nationen?

Wenn gegen Ende der Adventszeit auf den Weihnachtsmärkten die Lichter glänzen und mir ganz warm ums Herz wird, dann stelle ich mir deshalb gerne vor, wie es wäre, in einem globalen Sozialstaat zu leben. Wäre es nicht gerecht, wenn wir angesichts weltumspannender Märkte auch ein weltumspannendes Solidarsystem besäßen? Wäre es nicht vernünftig, wenn die Bekämpfung der Malaria in Afrika nicht davon abhängig wäre, ob in Europa gerade Austeritätspolitik in Mode ist? Und wäre es nicht demokratisch, wenn über die Frage, wie hoch die globale Umverteilung sein und wer davon profitieren soll, nach einem von allen gemeinsam beschlossenen Kriterienkatalog entschieden würde statt nach der Willkür der reichen Geber? Kurz gesagt: Wäre es nicht sinnvoll, wenn außer den einzelnen Nationalstaaten auch die Vereinten Nationen eine eigene Steuer erheben könnten, um aus den daraus entstandenen Einnahmen ein Sozialsystem zu finanzieren, das allen Menschen die Sicherung eines Existenzminimums garantiert?

Nun sehe ich selbst, dass dieser Wunsch noch weit von seiner Erfüllung entfernt ist. Der Grund dafür sind zunächst institutionelle Egoismen der nationalstaatlichen Organe: Selbst in Europa weigern sich die Regierungen der Mitgliedstaaten bislang, der EU ein eigenes Besteuerungsrecht zuzugestehen. Bei den Vereinten Nationen kommt noch hinzu, dass diese nicht einmal demokratisch organisiert sind, was immerhin ein guter Grund dafür ist, ihnen fürs Erste nicht allzu viel fiskalische Macht in die Hand zu legen. Die logische Konsequenz daraus kann in meinen Augen aber nicht sein, vom Ziel eines steuerfinanzierten globalen Sozialstaats abzurücken – sondern vielmehr, uns erst recht für die Überwindung nationaler Selbstherrlichkeit und für eine Demokratisierung der UN einzusetzen. So weit der Weg noch ist: Mir scheint, dass wir ihn gehen müssen, wenn wir eines Tages in einer Welt leben wollen, in der sich Solidarität nicht nur auf Umverteilung innerhalb der zufälligen Grenzen des Nationalstaats und ein paar Almosen für den Rest beschränkt, sondern jeden Menschen unabhängig von seiner Herkunft und Geburt als Gleichen behandelt.

Und in der Zwischenzeit müssen wir eben weiterspenden.

Bild: Raja Ravi Varma [Public domain], via Wikimedia Commons.

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