29 Oktober 2020

„Unser Ziel ist es, eine europäische Dimension der politischen Bildung zu entwickeln“: Ein Interview mit Susanne Zels und Sophie Pornschlegel

Susanne Zels ist Gründerin und Managerin der Initiative „Werte verbinden“.

Sophie Pornschlegel ist Gründerin der Initiative „Werte verbinden“ und leitet als Senior Policy Analyst am European Policy Centre das Projekt Connecting Europe.

D(e)F: Ihr habt die Initiative Werte verbinden gegründet, eine Kampagne, die sich für die Schaffung einer Europäischen Agentur für politische Bildung einsetzt. Worum geht es dabei?

Susanne Zels: Unser Ziel ist es, europäische Werte und damit den sozialen und europäischen Zusammenhalt zu stärken. In den vergangenen Jahren haben wir erlebt, wie mehrere EU-Mitgliedstaaten gegen europäische Werte verstoßen haben und die europäischen Gesellschaften unter einer zunehmenden Polarisierung leiden. Um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, sind Investitionen in die Qualität von und den Zugang zu politischer Bildung in ganz Europa notwendig. Wir sind überzeugt, dass aktive und mündige Bürgerinnen und Bürger die europäischen Werte am besten sichern können.

Sophie Pornschlegel: Nur sehr wenige europäische Mitgliedstaaten investieren substanziell in politische Bildung. Viele von ihnen haben keine spezialisierten nationalen Agenturen, und in einigen Ländern gibt es keine non-formale und informelle Bildung. Es gibt auch einen Mangel an Informationen und Forschung zum Thema politische Bildung in der EU27. Wir wissen nicht, was EU-Bürgerinnen und Bürger in welchen Ländern lernen. Eine Agentur wäre in der Lage, Forschung und Monitoring zur politischen Bildung zu koordinieren – und die Mitgliedstaaten dabei zu unterstützen, gleichen Zugang zu qualitativer politischer Bildung zu bieten.

Was wären die genauen Aufgaben dieser Europäischen Agentur? Sollte sie nur die nationalen Agenturen koordinieren und überwachen, oder sollte sie auch selbst eine operative Rolle spielen?

Sophie Pornschlegel: Wir haben sehr schnell erkannt, dass wir eine dezentrale Organisationsstruktur mit einer starken finanziellen und operativen Rolle brauchen. Einige der Aufgaben wären:

  • ein Forschungszentrum für politische Bildung in der EU zu schaffen, um ein besseres Verständnis dafür zu haben, welche Angebote es in den verschiedenen Mitgliedstaaten gibt;
  • eine dauerhafte Plattform einzurichten, auf der sich Pädagoginnen und Pädagogen aus ganz Europa über ihre Methoden und Ansätze zur politischen Bildung austauschen;
  • Programme zur Fortbildung durchzuführen, insbesondere zur europäischen Dimension der politischen Bildung,
  • und einen Fördermechanismus für non-formale und informelle politische Bildung vorzuschlagen, der auch digitale Infrastruktur und digitale Lernmethoden einbezieht.

Susanne Zels: Die Kompetenzen der EU in der Bildungspolitik erlauben es ihr einerseits zu koordinieren und zu überwachen, um zur Entwicklung einer qualitativ hochwertigen Bildung in den Mitgliedstaaten beizutragen, andererseits selbst eine operative Rolle zu übernehmen, um die nationale Politik bei Bedarf zu ergänzen. Bestimmte Initiativen zur Koordinierung und Überwachung gibt es auf EU-Ebene bereits, sie müssen jedoch weiterentwickelt werden und sollten in der neuen Agentur gebündelt werden. Darüber hinaus sind wir der Ansicht, dass die EU den fehlenden Zugang zu politischer Bildung – insbesondere im non-formalen und informellen Bereich – dringend ergänzen muss. Daher sind beides wesentliche Aufgaben.

Ein europäischer Beutelsbacher Konsens

Bleiben wir einen Moment bei den unterschiedlichen Ansätzen zur politischen Bildung in den Mitgliedstaaten. In Deutschland gibt es ein starkes institutionalisiertes Netzwerk mit der Bundeszentrale und den Landeszentralen für politische Bildung. Außerdem gab es als Folge der NS-Erfahrung, aber auch der politischen Polarisierung in den 1970er Jahren viele Expertendebatten darüber, was politische Bildung tun soll und was nicht. Daraus ging der Beutelsbacher Konsens von 1976 hervor, der bis heute in Deutschland enormen Einfluss hat.

In anderen Ländern war die Rolle der politischen Bildung viel stärker politisiert und kontroverser. Als zum Beispiel in Spanien die Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero (PSOE/SPE) im Jahr 2006 das Schulfach Educación para la Ciudadanía einführte, wurde das von der konservativen Opposition heftig bekämpft und von Vertretern der katholischen Kirche als „totalitär“ angeprangert. Nach langen gerichtlichen Auseinandersetzungen schaffte die Regierung von Mariano Rajoy (PP/EVP) das Fach 2016 wieder ersatzlos ab.

In Ungarn schließlich spielte politische Bildung nie eine bedeutende Rolle. Vielmehr machte die Regierung von Viktor Orbán (Fidesz/EVP) im vergangenen Jahr durch öffentliche Informationskampagnen auf sich aufmerksam, die die Europäische Kommission selbst als „Fake News“ und „Verschwörungstheorien“ verurteilte. Gibt es wirklich einen Weg, ein so breites Spektrum von Maßnahmen und Kulturen der politischen Bildung in Europa miteinander in Einklang zu bringen?

Susanne Zels: Du hast Recht, politische Bildung hat aufgrund der einzigartigen Geschichte und politischen Kultur in jedem Mitgliedstaat unterschiedliche Bedeutungen und Konnotationen. In Polen zum Beispiel war sie früher das Schulfach, in dem Regimepropaganda unterrichtet wurde und die Schülerinnen und Schüler lernten, Granaten zur Verteidigung ihres Landes zu werfen. Deshalb haben viele Polen eine negative Haltung gegenüber politischer Bildung und lehnen es ab, dass sich der Staat durch Lehrpläne zu Werten und Politik einmischt. Eine wesentliche erste Aufgabe der Agentur sollte daher darin bestehen, ein gemeinsames Verständnis davon zu entwickeln, was die Ziele und Aufgaben politischer Bildung sind. Sozusagen ein europäischer Beutelsbacher Konsens.

Wir fangen dabei aber nicht bei Null an. Bereits 2015 unterzeichneten die Bildungsminister aller Mitgliedstaaten die Erklärung zur Förderung von Politischer Bildung und der gemeinsamen Werte von Freiheit, Toleranz und Nichtdiskriminierung und einigten sich auf die Kompetenzen, die durch politische Bildung gefördert werden sollen. Auch die Ratsempfehlung von 2018 zur Förderung gemeinsamer Werte, inklusiver Bildung und der europäischen Dimension im Unterricht ebnet den Weg für einen gemeinsamen Ansatz in der politischen Bildung. Es wird sehr wichtig sein, den Unterschied hervorzuheben zwischen dem, was einige Länder unter diesem Begriff in der Vergangenheit erlebt haben, und der Art von Bildung, die wir fördern wollen.

Eine Plattform für Austausch und Dialog

Sophie Pornschlegel: Es geht dabei nicht darum, die politische Bildung von oben nach unten zu harmonisieren und allen EU-Mitgliedstaaten eine Sichtweise aufzuzwingen. Vielmehr geht es darum, eine Plattform für Austausch und Dialog zu schaffen, um diese unterschiedlichen Ansätze und Ansichten zu diskutieren. Nur durch verstärkten Austausch können wir gegenseitiges Verständnis sicherstellen und vertrauensvolle Beziehungen aufbauen – das ist der Kern der europäischen Idee.

Die Agentur würde nicht eine einheitliche Sichtweise der politischen Bildung anstreben, sondern versuchen, zum einen die politische Bildung als solche in der EU27 zu stärken und zum anderen eine europäischere Dimension der politischen Bildung zu fördern. An dieser mangelt es derzeit in den meisten EU-Mitgliedstaaten – obwohl mehrere andere Politikbereiche bereits stark integriert sind und Auswirkungen auf unser tägliches Leben haben. Dieser Austausch ist die Grundlage, um eine bürgernahe Union zu entwickeln und den EU-Bürgerinnen und -Bürgern die Instrumente an die Hand zu geben, um sich aktiver in der Politik zu engagieren, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung. Immerhin haben wir uns in den Verträgen auf eine Reihe von europäischen Werten geeinigt. Es scheint deshalb nur logisch, diese Werte aufzuschlüsseln und sie in unseren Gesellschaften zu fördern.

Und nicht zuletzt ist das Beispiel Ungarn irreführend: Öffentliche Informationskampagnen von Regierungen sind nicht dasselbe wie politische Bildung. Das gilt auch für die Europäische Agentur für politische Bildung: Sie wird nicht die Kommunikationsabteilung der Europäischen Kommission sein.

Informationsmaterial ist nicht genug

Apropos Kommunikationsabteilung: Sowohl die Kommission als auch das Europäische Parlament sind bereits recht aktiv bei der Erstellung von Materialien, um die Funktionsweise und die Werte der Europäischen Union zu erklären.

Um nur einige Beispiele zu nennen, umfassen diese Veröffentlichungen Bücher wie Europa in 12 Lektionen oder 50 Wege vorwärts – Europas größte Erfolge und Broschüren wie Ein kurzer Leitfaden zum Euro oder 52 Schritte zu einer grüneren Stadt. In einer Lernecke auf der EU-Homepage sollen Schülerinnen und Schüler „die EU auf spielerische Weise entdecken, egal ob im Klassenzimmer oder zu Hause“. Und dann gibt es natürlich noch das Comic Trübe Wasser, das die Entstehung einer Umweltrichtlinie mithilfe einer Kriminalgeschichte erklärt. Was sagt ihr zu diesen Bemühungen?

Sophie Pornschlegel: Diese Bemühungen sind lobenswert – aber sie sind nach wie vor Verlautbarungen einer staatlichen Institution. Diese Veröffentlichungen sind weder auf die pädagogischen Bedürfnisse von Lehrerinnen und Lehrern oder in der non-formalen Bildung Tätigen zugeschnitten noch in allen Sprachen und für alle Altersgruppen verfügbar, noch decken sie alle Aspekte der politischen Bildung ab.

Am wichtigsten ist, dass der Aufbau einer Agentur für politische Bildung weit über die Erstellung von Informationsmaterialien hinausgeht. Unser Ziel ist es, sowohl die politische Bildung in allen EU27 zu unterstützen als auch eine europäische Dimension der politischen Bildung zu entwickeln, die bis jetzt so gut wie nicht vorhanden ist. Das erfordert langfristige Förderstrukturen, Programme zum Aufbau von Kapazitäten, die Einrichtung einer Dialogplattform zum Austausch darüber, wie politische Bildung mit einer europäischen Dimension aussehen sollte – also viel mehr als die Produktion von Lehrmaterialien.

Unabhängige Publikationen sind nötig

Susanne Zels: Ich begrüße es, dass die EU Informationsmaterial erstellt. Es ist wichtig, dass Entscheidungsträgerinnen und -träger ihre Politik erklären, und auch, dass die EU-Institutionen das Verständnis für ihre Rolle in der Union fördern. Auch nationale Regierungen produzieren solche Publikationen. Sie können politische Bildung aber nur unterstützen.

Um kritisches Denken und die Auseinandersetzung mit Politik zu fördern, brauchen wir Materialien, die unterschiedliche politische, soziale und wissenschaftliche Positionen zu einer ganzen Reihe von Themen berücksichtigen. Auf der Grundlage ausgewogener Informationen können die Bürgerinnen und Bürger dann ihre eigenen Meinungen und Positionen entwickeln. Regierungsinstitutionen sind naturgemäß nicht dafür ausgerüstet, ihre eigene Rolle und Politik im Austausch mit der Gesellschaft kritisch zu hinterfragen, und es ist auch nicht ihre Aufgabe. Zu diesem Zweck sind unabhängige Publikationen nötig.

Europäische Werte

Ich würde gern noch einmal auf die Idee eines „Europäischen Beutelsbacher Konsenses“ zurückkommen. Der Name Eurer Kampagne bezieht sich auf die gemeinsamen Werte der Europäischen Union, wie sie in Art. 2 EUV definiert sind: „die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören […] in einer Gesellschaft […], die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“.

In den letzten Jahren ist die Bedeutung dieser Werte jedoch von einigen Mitgliedsregierungen in Frage gestellt worden. Viktor Orbáns Verständnis von „Demokratie“ und „Freiheit“ oder Mateusz Morawieckis Vorstellung von einer „unparteiischen, effizienten und unbestechlichen Justiz“ sind geradezu Orwellʼsche Verzerrungen dessen, was die meisten anderen Europäerinnen und Europäer unter diesen Worten verstehen. Wie sollte eine Europäische Agentur mit diesen Unterschieden umgehen? Gibt es eine Chance, einen funktionierenden Konsens über die Aufgaben politischer Bildung zu erreichen, wenn selbst die grundlegendsten Verfassungswerte umstritten sind?

Susanne Zels: Die Agentur kann uns helfen, diese Unterschiede zu überwinden, indem sie den lokalen, nationalen und transnationalen Dialog über unsere Werte erleichtert. Ein solcher Dialog muss mit der Aufklärung darüber kombiniert werden, warum Europa und die nationalen Regierungen diese Werte überhaupt in Verträge und Verfassungen aufgenommen haben und was sie in der Praxis bedeuten. Zum Beispiel, wie sich Gleichheit in Nicht-Diskriminierung übersetzt und wie sich dieses politische Recht auf Bürgerinnen und Bürger im nationalen und europäischen Kontext auswirkt.

Unsere Werte können von der EU nicht in einem Top-down-Ansatz vordefiniert werden. Vielmehr müssen wir gemeinsam ein Verständnis davon entwickeln, auf Basis welcher Werte wir in der EU leben wollen. Im Idealfall würde ich mir wünschen, dass die Agentur einen europaweiten deliberativen Prozess in Gang setzt, um ein gemeinsames Verständnis davon zu entwickeln, was Freiheit, Gleichheit usw. in unserer Gemeinschaft ausmachen soll.

Ein gemeinsames Werteverständnis entwickeln

Sophie Pornschlegel: Du sprichst hier einen der schwierigsten Punkte an, da die europäischen Werte auf EU-Ebene tatsächlich äußerst umstritten und heikel geworden sind. Natürlich instrumentalisieren populistische und autoritäre Regierungen gerne Werte entsprechend ihrer politischen Agenda. Für die Agentur, die wir errichten wollen, sehe ich das aber nicht unbedingt als ein Thema an sich – schließlich gibt es ein klares Verständnis davon, was wir meinen, wenn wir von europäischen Werten sprechen, und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat das in den vergangenen Jahren noch weiter untermauert.

Natürlich gibt es nationale Unterschiede, zum Beispiel in der Frage, wie wir Werte priorisieren. Aber das sollte uns nicht davon abhalten, uns weiterhin über die Werte zu verständigen, die wir gemeinsam in den Verträgen festgeschrieben haben, und es sollte uns ganz sicher nicht davon abhalten, uns auf EU-Ebene über diese Unterschiede auszutauschen. Und schließlich ist auch die Unabhängigkeit der Agentur von politischen Interessen ein entscheidender Punkt, der in ihrer Leitungsstruktur und Budgetierung gewährleistet werden muss.

Ein wahrhaftig europäischer Vorschlag

Werte verbinden ist noch eine recht kleine Kampagne, die erst diesen Herbst gestartet wurde. Was sind Eure nächsten Schritte, und wie können Menschen Euch unterstützen?

Susanne Zels: Wir sind dabei, ein Policy Paper zu verfassen, das unseren Vorschlag ausführlicher dargelegen wird. Zu diesem Zweck befragen wir Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik und Praxis. Wir möchten dies zu einem wahrhaftig europäischen Vorschlag machen, weshalb wir um Feedback und Unterstützung von relevanten Stakeholdern aus ganz Europa bitten.

Sobald der Vorschlag fertiggestellt und das Papier veröffentlicht ist, ist es unser Ziel, eine große Koalition aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft zu bilden, um gemeinsam für die Idee einer Europäischen Agentur für politische Bildung zu werben. Wenn Sie diese Forderung unterstützen möchten, folgen Sie uns bitte und nehmen Sie Kontakt auf.

Die Homepage der Initiative WERTE VERBINDEN ist hier zu finden.

Bilder: WERTE VERBINDEN [alle Rechte vorbehalten].
Übersetzung aus dem Englischen: Manuel Müller.

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