- „Noch 2019 hatten die Fraktionen im Europäischen Parlament untereinander starke Differenzen. Das änderte sich in der Corona-Krise.“
Die Europawahl ordnete im Mai 2019 die europäischen politischen Kräfteverhältnisse neu. Bis sich die Staats- und Regierungschefs auf die personelle Besetzung aller Posten einigten, das endgültige Kollegium der Kommission feststand und vom Europäischen Parlament bestätigt wurde und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 1. Dezember 2019 ihren Dienst antrat, vergingen allerdings noch einmal mehrere Monate. Vorausgegangen war ein tiefgehender Institutionenkonflikt um das Spitzenkandidatenverfahren, gepaart mit politischem Postengeschacher zwischen den führenden Parteifamilien in Europa und Reibereien zwischen den Fraktionen des Europäischen Parlaments bei der Bestätigung der Kommission.
Die EU-Politik war also erst seit wenigen Wochen wieder voll arbeitsfähig, als die nächste schwerwiegende Krise über die Welt hereinbrach. Der weltweite Ausbruch der Covid-19-Pandemie versetzte die europäischen Institutionen spätestens ab Februar 2021 in den Krisenmodus.
Das Parlament an der Seitenlinie
Das Europäische Parlament ist dabei mit denkbar schwierigen Voraussetzungen gestartet, da es besonders stark von globalen Reise- und Kontakteinschränkungen betroffen ist. Der übliche modus operandi der informellen Verhandlungen wurde in der Pandemie deutlich erschwert. Die fehlenden europäischen Kompetenzen im Bereich der Gesundheitspolitik hatten außerdem zur Folge, dass das Europäische Parlament gerade bei den ersten Gegenmaßnahmen zumeist als Zuschauer an der Seitenlinie stand.
Das wirft die Frage auf, wie die Europaabgeordneten 2020 eigentlich mit den Abstimmungen über die Coronapolitik umgingen, die dann doch das Europäische Parlament erreichen. Zeigten sie Zähne und trugen sie weiter ihre politischen Streitigkeiten aus? Ergaben sich bei der ersten politisch sensiblen Krise der Wahlperiode neue Konfliktlinien? Welche Fraktionen brachten die Maßnahmen durch das Parlament, welche übernahmen eine ablehnende Haltung?
Abstimmungsdaten der Europaabgeordneten
Seit dem Vertrag von Lissabon ist das elektronische Roll-Call-Verfahren zunehmend Standard bei Abstimmungen im Europäischen Parlament geworden – das heißt, das Abstimmungsverhalten jedes Mitglieds wird aufgezeichnet und steht später öffentlich zur Verfügung. Im Projekt EPvotetracker@UDE am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Integration und Europapolitik der Universität Duisburg-Essen sammeln wir diese Daten und bereiten sie für die Öffentlichkeit auf. Bisher verfolgt der Lehrstuhl das Abstimmungsverhalten der deutschen Abgeordneten und stellt diese nach Bundesländern und Parteien aufgeschlüsselt zur Verfügung. Außerdem zeigen wir, wie regelmäßig Abgeordnete an Abstimmungen teilgenommen haben und wie loyal sie dabei gegenüber ihrer Fraktion und ihrer nationalen Partei waren.
Aktuell arbeiten wir aber auch daran, das Abstimmungsverhalten aller anderen Parlamentarier:innen automatisiert im Anschluss an die Sitzungswochen zur Verfügung zu stellen. (Das Europäische Parlament macht diese Daten zwar bereits jetzt auf seiner Homepage öffentlich, allerdings in schwer lesbarer Form.) Noch ist das Projekt work in progress, aber aus diesen Versuchen entstand bereits dieser Beitrag.
Bis zur letzten Sitzungswoche im Dezember 2020 gab es im Europäischen Parlament insgesamt 28 (finale) Abstimmungen mit direktem Bezug zur Corona-Pandemie. Mithilfe der Daten, wie jede:r Abgeordnete abgestimmt hat, lassen sich Zustimmungsquoten und Kohäsionswerte errechnen, welche einen tieferen Einblick in das Abstimmungsverhalten bieten.
Ressortaufteilung der Abstimmungen spiegelt Kompetenzen wider
In der ersten Abbildung ist dargestellt, wie sich die Abstimmungen auf die verschiedenen Ressorts verteilten. Die Anzahl der verschiedenen Themenbereiche zeigt den allumfassenden Charakter der Pandemie: Über die Hälfte der 20 Ausschüsse im Europäischen Parlament erarbeitete in den ersten zehn Monaten der Pandemie eine Gesetzesänderung/-neuerung mit direktem Corona-Bezug und brachte sie in das Europäische Parlament ein.
Die Verteilung zwischen den Ressorts zeigt jedoch auch die Einschränkungen des Parlaments. Der größte Teil der Abstimmungen fand in den Bereichen Budget und Wirtschaft und Währung statt. Darin spiegeln sich unmittelbar die Kompetenzen wider, in denen die Europäische Union fähig ist, durchschlagend zu handeln. Dass das Politikfeld Regionale Entwicklung auf Platz 3 der häufigsten Ressorts bei Abstimmungen mit Corona-Bezug lag, passt zu der Förderstruktur der EU-Coronahilfen in den Regionen.
Das Ressort Umweltfragen und öffentliche Gesundheit ist hingegen mit nur einer Abstimmung vertreten. Dieser Politikbereich spielt zwar augenscheinlich in Pandemiefragen eine wichtige Rolle. Die EU hat hier jedoch kaum eigene Kompetenzen und dementsprechend auch wenig im Europäischen Parlament zu entscheiden.
Allseits hohe Zustimmung – besonders bei „Regierungsfraktionen“
- Abb. 2: Mehrheitspositionen der Fraktionen bei Corona-Abstimmungen.
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Eine weitere Beobachtung sind die relativ hohen Zustimmungswerte über alle Fraktionen hinweg (Abbildung 2). Alle Fraktionen haben bei der deutlichen Mehrheit der Abstimmungen für den vorliegenden Text gestimmt. Dies bedeutet auch, dass Mehrheiten gesucht wurden, die über das notwendige Mindestmaß hinausgingen. Das ist im Europäischen Parlament nichts Neues – ein klassisches Regierung-Opposition-Schema gibt es hier nicht. In dieser Deutlichkeit ist es aber doch erstaunlich. Selbst die rechtsnationale Fraktion Identität und Demokratie (ID), welche sonst sehr häufig die vorliegenden Vorschläge ablehnt, befürwortete ca. drei Viertel der Corona-Beschlüsse.
Betrachtet man die einzelnen Fraktionen genauer, so fällt dennoch auf, dass nur die christdemokratisch-konservative EVP, die liberale RE und die sozialdemokratische S&D ausnahmslos allen vorliegenden Texten zugestimmt haben. Diese drei Fraktionen und ihre europäischen Parteifamilien sind es auch, die die meisten Mitglieder der Europäischen Kommission stellen. Bei der Besetzung der Spitzenposten nach der Europawahl 2019 gingen alle Positionen an Mitglieder dieser drei Parteifamilien. Es offenbart sich demnach auf den zweiten Blick doch etwas Ähnliches wie eine Regierungskoalition im Parlament, die trotz der Reibereien nach der Europawahl in der Corona-Krise geschlossen zusammenhielt.
Je stärker am politischen Rand sich eine Fraktion hingegen befindet, desto häufiger stimmten ihre Abgeordneten gegen vorliegende Vorschläge. So weisen die Fraktionen der ID am rechten und der GUE/NGL am linken Rand die geringsten Zustimmungswerte auf.
Fraktionen der politischen Mitte extrem geschlossen
- Abb. 3: Verteilung der Kohärenzwerte der Fraktionen bei Corona-Abstimmungen.
- (Zum Vergrößern auf die Grafik klicken.)
Interessant ist darüber hinaus ein Blick in die Kohärenzwerte der Fraktionen. Hohe Kohärenzwerte zeugen von starker innerfraktioneller Geschlossenheit, während niedrigere Werte eher Zerstrittenheit belegen. Die Ergebnisse werden in Abbildung 3 dargestellt. Je weiter die abgebildeten Kurven an den rechten Rand der Grafik rücken, desto geschlossener trat eine Fraktion auf (sei es für oder gegen einen Vorschlag). Je stärker sich die Kurve in der Mitte orientiert, desto uneinheitlicher stimmten die Mitglieder der Fraktion ab.
Die Ergebnisse verdeutlichen nochmals, wer die treibenden und starken Kräfte im Europäischen Parlament sind. EVP, S&D sowie RE waren nicht nur mehrheitlich für die Gesetzesvorschläge, sondern befürworteten diese auch enorm innerfraktionell geschlossen. Auch die Grünen organisierten sich sehr gut und weisen hohe Kohärenz-Werte auf (zum Teil aber eben auch ablehnend).
Hingegen sind die Fraktionen, die schon 2019 die Kommission lediglich eingeschränkt mitgetragen oder abgelehnt haben, auch in Fragen der Pandemiebekämpfung unentschlossener. Logischerweise weisen die fraktionslosen Abgeordneten, die keiner gemeinsamen Richtung angehören, die durchschnittlich niedrigsten Kohärenzwerte auf. Aber auch ID, EKR und GUE/NGL sind im Vergleich zu den Fraktionen der politischen Mitte deutlich uneinheitlicher in ihrem Abstimmungsverhalten.
Innerfraktionelle Einigkeit im Vordergrund
Vergleicht man diese Werte mit den Werten der gesamten Wahlperiode seit 2019 (Tabelle 1), treten die Fraktionen bei den Abstimmungen zur Pandemiebekämpfung beinahe durchgängig etwas geschlossener auf als sonst. Die einzige Ausnahme bilden die Grünen, die minimal weniger geschlossen auftraten, wenn es um die Pandemie ging.
GUE/ NGL |
Grüne/ EFA |
S&D | RE | EVP | EKR | ID | fʼlos | |
alle Abstimmungen (Juli 2019-Dez. 2020) |
0,87 | 0,98 |
0,97 |
0,94 |
0,94 |
0,87 |
0,80 |
0,73 |
Corona-Abstimmungen (März-Dez. 2020) |
0,89 | 0,97 | 0,99 |
0,97 |
0,98 |
0,93 |
0,84 |
0,80 |
Grundsätzlich sind die Unterschiede im Vergleich zur kompletten Legislatur nicht besonders groß – die Tendenz zeigt dennoch: Bei den Gelegenheiten, bei denen das Europäische Parlament die Chance zur Mitsprache über die Corona-Politik bekam, standen die Fraktionen möglichst einig hinter ihrer Entscheidung.
Fazit
Noch im Jahr 2019 hatten die Fraktionen im Europäischen Parlament untereinander starke Differenzen. Das änderte sich in der Corona-Krise. Während die Pandemie die Arbeitsweise des Parlaments besonders stark traf, führte sie auch 1) zu erhöhter innerparteilicher Geschlossenheit und 2) fraktionsübergreifend zu viel Unterstützung für die vorliegenden Vorschläge zur Pandemiebekämpfung.
Dabei wurden die Vorschläge besonders durch EVP, S&D und RE unterstützt – die Fraktionen, die auch die Mehrheit in der Europäischen Kommission, den wichtigen Top-Positionen und im Rat der EU stellen. Bei Fragen der Pandemiebekämpfung scheint sich also etwas Ähnliches wie eine Regierungskoalition herausgebildet zu haben. Dass auch die anderen Fraktionen den Corona-Beschlüssen meistens mehrheitlich zustimmten, zeigt wiederum, wie wenig politisches Protestpotenzial die Pandemie auf EU-Ebene offenbar bietet.
Das ist vor dem Hintergrund der fehlenden Kompetenzen auf EU-Ebene nicht besonders verwunderlich. Die Pandemie hat aber auch erneut die Notwendigkeit überstaatlicher politischer Steuerung aufgezeigt und darüber hinaus Behörden wie die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) oder das Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) in den Fokus gerückt, die Anfang 2020 noch kaum jemand auf dem Schirm hatte. Zukünftig könnte das Thema durch die Verlagerung von nationalen Kompetenzen auf die EU-Ebene auch im Parlament eine stärkere Politisierung erfahren.
Stefan Haußner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europäische Integration und Europapolitik der Universität Duisburg-Essen. Den Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die Frage, wie man der europäischen Integration mit Daten auf die Schliche kommen kann. |
Mehr Informationen zum Projekt EPvotetracker@UDE sind hier zu finden. Bei Interesse an spezialisierten Daten zum Abstimmungsverhalten des Europäischen Parlaments kontaktieren Sie gerne das Projektteam.
Die für diesen Artikel verwendeten Berechnungen und Grafiken wurden mit der statistischen Programmiersprache R erstellt. Danke vor allem an Hadley Wickham & Jeroem Ooms sowie alle Beitragenden zum „tidyverse“. Alle Daten und die Skripte in Form von RMarkdown-Dokumenten können im GitLab-Repository eingesehen, heruntergeladen und weiter genutzt werden.
Vielen Dank für den Artikel, mich würde stärker interessieren, einen Artikel zu lesen, wie das Europäische Parlament sich wieder stärker behaupten kann. Wie Sie m.E. richtigerweise schreiben, befand sich das EP während der Corona-Pandemie an der Seitenlinie und läuft Gefahr langfristig marginalisiert zu werden. Wie könnte es sich politisch behaupten ohne auf eine Institutionenreform angewiesen zu sein?
AntwortenLöschenDas EP hat kein Mitspracherecht beim Mehrjährigen Finanzrahmen, obwohl Haushaltsrecht eigentlich die Königsdisziplin eines Parlamentes ist.
Das EP hat auch kein Mitspracherecht bei den nationalen Wiederaufbauplänen.
Das EP hat vergebens versucht Druck im Brexit-Streit aufzubauen und einen Vertrag abgelehnt, der nicht hinreichend vor Weihnachten geschlossen wird. Es kam dann doch anders mit einer Einigung an Weihnachten.
Das EP hat kein Initiativrecht.
Die Abgeordneten des EP werden zu 50% alle fünf Jahre ausgetauscht. Es besteht wenig Kontinuität.
Etc. pp.