11 Mai 2012

Wachstum durch Strukturreformen als Weg aus der Krise?

Auch Angela Merkel verwendet jetzt das neue europäische Zauberwort.
Nun hat die neue Wachstumsrhetorik, die durch die Wahl François Hollandes (PS/SPE) zum französischen Präsidenten in die europäischen Institutionen eingezogen ist, auch den Deutschen Bundestag erreicht. In ihrer gestrigen Regierungserklärung bekannte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) zur „Stärkung von Wachstum und Beschäftigung“ bei der Bekämpfung der Euro-Krise. Zugleich nahm sie aber auch eine raffinierte Differenzierung vor: „Wachstum durch Strukturreformen, das ist sinnvoll, das ist wichtig, das ist notwendig. Wachstum auf Pump würde uns jedoch an den Anfang der Krise zurückführen, deshalb werden wir das so nicht machen.“

Die Koalitionsfraktionen applaudierten natürlich, und irgendwie klingt es ja auch wunderbar: ein bisschen reformieren, und mit der Wirtschaft geht es wieder aufwärts, ohne dass dafür Geld ausgegeben werden muss. Aber kann ein solcher Plan aufgehen? Dazu einige Anmerkungen.

Erstens: Reformen sind gut, aber gute Reformen nicht billig

Grundsätzlich ist die ökonomische Logik hinter Merkels Forderung nach Strukturreformen natürlich richtig. In einer Wirtschaft, die sich nicht zuletzt aufgrund des technischen Fortschritts immer schneller verändert, müssen auch die ökonomischen Akteure flexibler werden. Bestes Beispiel ist der Kündigungsschutz: Zu einer Zeit, wo sich die Geschäftsmodelle von Unternehmen über Jahrzehnte kaum veränderten, konnte man auch noch lebenslange Arbeitsplätze garantieren. Wenn inzwischen aber innerhalb weniger Jahre ganze Branchen aussterben oder neu entstehen, sorgt ein hoher Kündigungsschutz dafür, dass Arbeitnehmer auf wirtschaftlich nicht mehr sinnvollen Arbeitsplätzen sitzen bleiben – was natürlich ineffizient ist und das Wachstum hemmt.

Die Europäische Union vertritt deshalb bereits seit Verabschiedung der Europäischen Sozialagenda von 2000 eine generelle Lockerung des Kündigungsschutzes, allerdings verbunden mit einer gleichzeitigen Erhöhung der Arbeitslosenhilfe und aktiver Unterstützung von Arbeitslosen bei der Suche nach einem neuen Job. Allerdings ist es wichtig, den zweiten Bestandteil dieses sogenannten Flexicurity-Konzepts nicht einfach wegzulassen: Wenn – wie in der Krise immer wieder geschehen – der Kündigungsschutz abgebaut und gleichzeitig an den Sozialleistungen gespart wird, dann wird die Last des wirtschaftlichen Strukturwandels allein auf die einzelnen Arbeitnehmer bzw. Arbeitslosen abgewälzt, und es ist kaum verwunderlich, dass sich diese dagegen auflehnen. Sinnvoll durchgeführte Strukturreformen können den Staat also erst einmal eine ganze Menge Geld kosten, das den hoch verschuldeten Krisenländern in Südeuropa derzeit fehlt. Solange Merkel hierfür keine Lösung anbietet (etwa in Form von Eurobonds oder eines europäischen Finanzausgleichs), wird es kaum ein Ende der Proteste in Griechenland und anderswo geben.

Zweitens: Kapitalismus ist immer „Wachstum auf Pump“

Unsinnig ist außerdem der zweite Teil von Merkels Analyse, in dem sie „Wachstum auf Pump“ ablehnt: Kreditfinanzierte Investitionen sind gerade der Kern jeder marktwirtschaftlichen Ökonomie. Da kaum ein Unternehmer so reich ist, dass er aus eigener Tasche alle Maschinen bezahlen könnte, die er zur Herstellung seiner Produkte benötigt, gibt es Banken, die ihm Geld leihen – im Vertrauen darauf, dass er es wieder zurückbezahlen wird, sobald er seine Waren produziert und mit einem Mehrwert verkauft hat. Das ist nichts anderes als „Wachstum auf Pump“, und zugleich völlig alltäglich.

Eine der Aufgaben des Staates ist es, dabei das richtige Gleichgewicht zu halten: Wenn die Wirtschaft boomt, werden durch weitere Kredite oft nur Blasen finanziert; der Staat muss dann bremsend einschreiten, etwa indem das Parlament die Steuern oder die Zentralbank die Zinsen erhöht. Das Gegenteil ist der Fall, wenn sich die Wirtschaft wie jetzt in einer Depression befindet: Da die Aussichten für die nächsten Jahre schlecht sind und die Banken Angst haben, dass Unternehmen Pleite gehen und ihre Kredite nicht zurückzahlen, bleiben langfristig eigentlich sinnvolle und notwendige Investitionen aus. In dieser Situation muss der Staat zu einer konjunkturellen Wiederbelebung beitragen – und sei es, indem er selbst neue Schulden aufnimmt (die er dann natürlich in der nächsten Boom-Phase wieder abbauen muss). Das ist das Einmaleins antizyklischer Wirtschaftspolitik und würde uns ganz sicher nicht „an den Anfang der Krise zurückführen“.

Drittens: Vorbild Hartz-Reformen?

Gerne wird von der Bundesregierung auch darauf verwiesen, dass Deutschland selbst in den vergangenen zehn Jahren gewaltige Reformanstrengungen durchgeführt hat, um seine Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern – mit dem Ergebnis, dass es heute von allen europäischen Ländern wirtschaftlich am besten dasteht. Könnte die Agenda 2010 also das leuchtende Vorbild für Südeuropa sein? Davon abgesehen, dass auch Hartz IV mit einer Senkung des sozialen Schutzes verbunden war und damit nicht ganz das Ideal der Flexicurity erfüllte: Paul Krugman erklärt in seiner jüngsten Kolumne, weshalb das Argument nicht ganz so einfach ist, wie die Bundesregierung es zu machen versucht.
Talk to German opinion leaders about the euro crisis, and they like to point out that their own economy was in the doldrums in the early years of the last decade but managed to recover. What they don’t like to acknowledge is that this recovery was driven by the emergence of a huge German trade surplus vis-à-vis other European countries — in particular, vis-à-vis the nations now in crisis — which were booming, and experiencing above-normal inflation, thanks to low interest rates. Europe’s crisis countries might be able to emulate Germany’s success if they faced a comparably favorable environment — that is, if this time it was the rest of Europe, especially Germany, that was experiencing a bit of an inflationary boom.

Spricht man mit deutschen Meinungsführern über die Euro-Krise, verweisen sie gerne darauf, dass ihre eigene Wirtschaft Anfang des letzten Jahrzehnts in Schwierigkeiten war, aber darüber hinweggekommen ist. Was sie nicht gern zugeben, ist, dass dieser Aufschwung von der Entstehung eines gewaltigen deutschen Handelsüberschusses gegenüber anderen europäischen Ländern – vor allem gegenüber den heutigen Krisenländern – angetrieben wurde, die dank niedriger Zinsen einen Boom und eine überdurchschnittliche Inflation erlebten. Europas Krisenländer könnten Deutschlands Erfolg nachahmen, wenn sie sich in einer ähnlich günstigen Umgebung befänden – das heißt, wenn diesmal der Rest von Europa, vor allem Deutschland, ein bisschen Inflationsboom erleben würde.
Nun gibt es erste Anzeichen dafür, dass Deutschland sich auf einen solchen Anstieg der Inflation einlassen könnte: Vor einigen Tagen hat sich Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) für höhere Löhne in den laufenden Tarifverhandlungen ausgesprochen, und Bundesbankpräsident Jens Weidmann hat erklärt, die Preissteigerung in Deutschland könne demnächst „zeitweise über dem Durchschnitt“ liegen. Aber ob das genügt, ist zweifelhaft: Noch immer sind die Probleme Südeuropas heute größer und das wirtschaftliche Umfeld in der Eurozone schlechter als in Deutschland vor zehn Jahren.

Viertens: Was ist das Neue?

Was jedoch bei Merkels Äußerungen am erstaunlichsten ist: Wenn sie jetzt „Wachstum durch Strukturreformen“ als den neuen Weg aus der Krise entdeckt, was glaubt sie eigentlich, dass die betroffenen Staaten in all den vergangenen Jahren getan haben? Eine der Bedingungen für die Notkredite an Griechenland, Irland und Portugal waren ja gerade umfassende Reformen am Arbeitsmarkt und im Sozialsystem, und auch Italien und Spanien haben solche Maßnahmen in massiver Weise angegangen. Wenn Merkel jetzt auf solche Reformen als Quell möglichen Wachstums verweist, dann will sie offenbar nur die alte Politik in neue Worte verpacken. Aber die Kombination von Austerität und Strukturreformen hat drei Jahre lang nicht genügt, um die Krise zu überwinden – warum sollten jetzt noch mehr Austerität und noch mehr Strukturreformen die Lösung bringen?

Man könnte argumentieren: weil die Reformen eben einige Zeit brauchen, bevor sie zu wirken beginnen. Weil man, um ohne staatliche Konjunkturprogramme aus der Krise zu kommen, nur lange genug die Zähne zusammenbeißen muss. Und weil es nötig ist, ab und zu neue Begriffe in die öffentliche Arena zu werfen, damit die Wählerschaft bei der Stange gehalten wird. Indem Merkel die alte Politik nicht mehr mit „Sparen“, sondern mit „Wachstum“ verbindet, versucht sie François Hollandes Forderung nach einem Wachstumspakt ins Leere laufen zu lassen – und meint dadurch die notwendige Zeit zu gewinnen, damit die Strukturreformen ihre Wirkung entfalten können.

Nur die Rhetorik zu ändern genügt nicht

Doch wahrscheinlich wird diese Rechnung nicht aufgehen: zum einen, weil man einer Depression wie dieser so ganz ohne antizyklische Wirtschaftspolitik eben doch nicht so einfach entkommen kann. Und zum anderen, weil die Krise schon allzu lang dauert und das dadurch entstandene Elend schon allzu groß geworden ist. Die Erfolge von Links- und Rechtsextremen bei den Wahlen in Griechenland, aber auch das überraschend gute Ergebnis von Marine Le Pen in Frankreich und der Aufstieg programmlos-populistischer Protestparteien in ganz Europa zeigen, in welcher Gefahr sich unser gesamtes politisches System inzwischen befindet.

Der Versuch, die Krise allein mit ein paar rhetorischen Änderungen auszusitzen, wird deshalb nicht gelingen. Um den Aufstieg radikaler Parteien zu verhindern, müssen die Krisenländer wieder eine klare Perspektive bekommen – und zwar nicht nur als ein vages Versprechen auf eine bessere Zukunft in zehn oder fünfzehn Jahren, sondern jetzt. Merkels Strukturreformen mögen sinnvoll, wichtig und notwendig sein. Aber wenn sich die Bundesregierung nicht bald auf ein europäisches Konjunkturprogramm einlässt, dann sieht es für die Demokratie in Europa nicht gut aus, von der Europäischen Währungsunion ganz zu schweigen.

Bild: By Ralf Roletschek (Own work) [CC-BY-SA-3.0-at or CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.

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