10 Januar 2017

Die Globalisierung und der Nationalpopulismus

Dass die Gesellschaft freier und bunter wird, passt nicht jedem.
In der Europäischen Union, aber auch in anderen OECD-Staaten, sind Rechts- und Nationalpopulisten seit einigen Jahren im Aufwind. Eine Anti-Establishment-Rhetorik, gepaart mit einem engen Identitätsdiskurs, der das „Eigene“ beschwört, das es gegen das „Fremde“ zu verteidigen gelte, scheint zum Erfolgsrezept geworden zu sein, mit dem sich US-Präsidentschaftswahlen, Brexit-Referenden, und nationale Parlamentswahlen in EU-Mitgliedsländern gleichermaßen gewinnen lassen. Im Folgenden einige Gedanken dazu, wie es zu diesem Aufschwung der Rechtspopulisten gekommen ist und was sich dagegen tun lässt.

1. Linke, Liberale und Konservative

Ein gängiges Modell, um unterschiedliche politische Weltanschauungen systematisch zu verorten, ist der zweidimensionale „politische Kompass“. Er erfasst auf einer Achse wirtschaftspolitische Positionen, die vom Etatismus bis zum Wirtschaftsliberalismus reichen. Die andere Achse bildet kultur- bzw. gesellschaftspolitische Vorstellungen ab und unterscheidet zwischen „autoritären“ Positionen, die auf gesellschaftliche Einheitlichkeit und den Erhalt traditioneller Rollenmuster abzielen, und „libertären“ Positionen, die die Freiheit des Einzelnen und die Rechte von Minderheiten betonen.

Mit diesen Unterscheidungen lassen sich – natürlich sehr vereinfachend – auch zentrale Gegensätze zwischen den Hauptströmungen erfassen, die das politische Denken in Europa seit der Ausbreitung der Demokratie geprägt haben: der Konservatismus, der Liberalismus und die politische Linke. Konservatismus und Liberalismus unterscheiden sich dabei vor allem in Bezug auf die gesellschaftspolitische Dimension, wobei Konservative autoritären, Liberale libertären Positionen näherstehen. Der Unterschied zwischen Linken und Liberalen hingegen betrifft vor allem die wirtschaftspolitische Dimension, in der die Linken staatliche Eingriffe wohlwollender sehen.

Historisch entstanden in vielen Ländern Parteien, die sich an einer dieser drei Hauptströmungen orientieren. Allerdings vertreten Parteien natürlich kein überzeitlich starres Programm, sondern passen sich immer wieder an die veränderte Weltlage oder an neue Überzeugungen ihrer Mitglieder an. Dadurch kann sich auch ihre Position im politischen Spektrum verschieben.

2. Wirtschaftliche und kulturelle Liberalisierung

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs, vor allem aber in den letzten drei bis vier Jahrzehnten waren Politik und Gesellschaft in der westlichen Welt von einer starken Liberalisierungstendenz geprägt, und zwar sowohl wirtschafts- als auch gesellschaftspolitisch. Wirtschaftspolitisch gehören zu dieser Entwicklung etwa sinkende Steuern, die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, die Deregulierung von Märkten sowie der Abbau sozialer Sicherungsnetze, die seit den 1980er Jahren in zahlreichen Staaten stattgefunden haben und bis heute stattfinden.

Gesellschaftspolitisch wiederum setzte die Liberalisierung schon etwas früher ein. Sie macht sich besonders in der Geschlechter- und Familienpolitik bemerkbar – etwa durch die Normalisierung nicht-heterosexueller Beziehungen und die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe, aber auch durch die Ausbreitung anderer Modelle des Zusammenlebens wie der Patchwork-Familie und die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen. Aber auch in anderen Bereichen, von der Religion über die Ernährungsweise bis hin zu einer immer weniger am Auto ausgerichteten Verkehrspolitik, nimmt die gesellschaftliche Vielfalt zu oder wird jedenfalls sichtbarer.

Sowohl die wirtschaftliche als auch die gesellschaftlich-kulturelle Liberalisierung erzeugten Gewinner und Verlierer. Die wirtschaftliche Liberalisierung sollte das Wirtschaftswachstum und damit auch den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand fördern, gleichzeitig führte sie aber auch zu wachsender Ungleichheit und zu einer zunehmenden Abwälzung ökonomischer Risiken vom Staat auf den einzelnen Bürger. Durch die gesellschaftliche Liberalisierung wiederum wächst die Freiheit des Einzelnen, sein Leben selbst zu gestalten. Gleichzeitig lösen sich aber auch kulturelle Sicherheiten auf, traditionelle Hierarchien werden in Frage gestellt und soziale Verhaltensweisen müssen neu ausgehandelt werden.

3. Die liberale Konvergenz der linken und rechten Mitte

Ein wesentlicher Aspekt dieser Entwicklung ist, dass sie von allen großen Parteien der politischen Mitte getragen wurde. Ihren Ausgangspunkt nahm die Liberalisierung zwar jeweils in dem Lager, von dem man dies erwarten konnte: Kultur- und gesellschaftspolitisch war es zunächst die Linke, die sich gegen traditionelle Strukturen stemmte und den „Wertewandel“ der 1970er Jahre vorantrieb. Die wirtschaftspolitische Liberalisierung hingegen begann in den 1980er Jahren unter konservativen Regierungschefs wie Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien.

Vor allem seit den 1990er Jahren öffneten sich jedoch auch die europäischen Sozialdemokraten unter Tony Blair und Gerhard Schröder für wirtschaftsliberale Positionen, die etwa die deutschen Hartz-Reformen oder auch den Umgang mit der Eurokrise prägten. Umgekehrt haben sich die Mitte-Rechts-Parteien in den westlichen Ländern heute mit vielen Aspekten der gesellschaftlichen Liberalisierung abgefunden oder sogar angefreundet. Trotz weiter fortbestehender Nuancen sind sich die großen Parteien der linken und rechten Mitte dadurch ähnlicher geworden.

4. Neue Akteure am linken und rechten Rand

Diese Konvergenz öffnete Räume an den politischen Rändern, in die neue Akteure mit stärker linken oder konservativen Positionen vordringen konnten, die sich dem allgemeinen Liberalisierungstrend entgegenstellten. Allerdings verfolgten die großen Parteien ihren Kurs ursprünglich, weil sie sich davon – angesichts einer immer liberaleren Gesellschaft – einen Zugewinn an Wählerstimmen versprachen. Es wäre deshalb zu erwarten, dass die neuen Links- und Rechtsaußenparteien allenfalls eine Minderheitsklientel erreichen: Schließlich hätten die großen Parteien spätestens in dem Moment gegensteuern können, in dem sie erkannten, dass sie am linken und rechten Rand mehr Wähler verloren als sie in der liberalen Mitte gewinnen.

Warum die neuen Parteien in vielen Ländern mehrheitsfähig wurden und Wahlen oder Referenden für sich entscheiden können, ist also weiterhin erklärungsbedürftig. Eine wesentliche Rolle dafür spielte der Nationalpopulismus, den die neuen Parteien als Strategie übernahmen. Und dieser wiederum lässt sich nur verstehen durch die Folgen der Globalisierung.

5. Globalisierung als Liberalisierung

Die zunehmende Öffnung nationaler Grenzen in den letzten Jahrzehnten lässt sich zunächst einmal als Teil der allgemeinen Liberalisierungstendenz verstehen. Wirtschaftspolitisch ist dies recht offensichtlich: Zölle und Warenkontingente, bürokratische Vorschriften für Im- und Exporte, Kapitalverkehrskontrollen und Handelsbeschränkungen sind letztlich Hindernisse für einen freien Markt, die seit den 1980er Jahren weltweit, in der EU vor allem durch das Binnenmarktprojekt bis 1992 abgebaut wurden.

Aber auch gesellschaftlich-kulturell brachte die Globalisierung Freiheitsgewinne. Vor allem innerhalb der EU boten sich dank der Freizügigkeit der Unionsbürger, der Schengen-Verordnung und Programmen wie Erasmus zahlreiche neue Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Lebensgestaltung. Aber auch weltweit nahmen (freiwillige und unfreiwillige) Migrationsbewegungen zu. Diese Migration ließ die gesellschaftliche Diversität weiter wachsen – durch größere religiöse und sprachliche Vielfalt, durch mehr bikulturelle Beziehungen und Familien und allgemein durch ein breiteres Spektrum an Lebenserfahrungen.

6. Einschränkung nationaler Handlungsspielräume

Darüber hinaus hatte die Globalisierung aber noch eine weitere entscheidende Wirkung: Sie schränkte die Handlungsspielräume der Nationalstaaten – und damit auch der nationalstaatlich organisierten Parteien – ein. Durch die Öffnung der Grenzen wuchs die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Staaten. Das macht es immer schwieriger, bestimmte Liberalisierungsschritte rückgängig zu machen. So können nationale Regierungen zum Beispiel drastische Erhöhungen der Einkommensteuer schon allein deshalb nicht mehr durchsetzen, weil ihnen dann eine Abwanderung der Spitzenverdiener droht.

Hinzu kommt, dass die Nationalstaaten sich oft auch rechtlich durch internationale Verträge zur Aufrechterhaltung von Freiheitsfortschritten verpflichtet haben. Wirtschaftspolitisch sind das vor allem Freihandels- und Investorschutzabkommen, gesellschafts- und kulturpolitisch sind es Menschenrechtsverträge wie die Europäische Menschenrechtskonvention, hinter die die Mitgliedstaaten nicht zurückfallen können. Das EU-Vertragswerk mit seinen Binnenmarkt-Freiheiten und seinen Wettbewerbsregeln einerseits sowie seinen Unionsbürgerrechten und seiner Grundrechtecharta andererseits betrifft dabei beide Dimensionen der neuen Liberalität.

7. Unzureichende überstaatliche Parteiendynamik

Dass die Handlungsspielräume der Parteien auf nationaler Ebene kleiner wurden, wurde auf überstaatlicher Ebene nur unzureichend kompensiert. Zwar gibt es heute globale Parteiorganisationen, doch deren politischer Einfluss ist sehr gering, da es kaum überstaatliche Parlamente gibt, in denen sie sich betätigen könnten.

Am weitesten vorangeschritten ist die Entwicklung eines überstaatlichen Parteiensystems in der Europäischen Union. Doch auch hier zwingen verschiedene institutionelle Mechanismen die großen europäischen Parteien zu einer permanenten großkoalitionären Zusammenarbeit und verhindern damit, dass sie vom liberalen Konsens abrücken.

8. Die strukturellen Vorteile der Nationalpopulisten

Die etablierten Parteien der linken und rechten Mitte stehen damit vor einem strukturellen Dilemma: Sie können Politik nur noch auf überstaatlicher Ebene und nur durch Zusammenarbeit gestalten – müssen diese Politik aber hinterher in nationalen Wahlkämpfen verteidigen, in denen in Wirklichkeit immer weniger zur Entscheidung steht.

Den Parteien an den politischen Rändern verschafft dies einen doppelten Vorteil. Zum einen können sie sich im Wahlkampf als die einzige „echte“ Alternative präsentieren, während die Parteien der Mitte ihre Unterschiede kaum ausleben können. Und zum anderen bietet ihnen die unzureichende demokratische Legitimität der überstaatlichen Institutionen ein Einfallstor, um den Liberalisierungskurs als eine „Fremdherrschaft“ supranationaler Eliten anzugreifen, gegen die „das Volk“ die Kontrolle zurückgewinnen müsse. Dieses Argument, das insbesondere auch die Brexit-Befürworter sehr erfolgreich eingesetzt haben, ist der Kern des Nationalpopulismus.

9. Linker und rechter Nationalpopulismus

Nationalpopulistische Strategien können sowohl von rechts als auch von links eingesetzt werden. Linker Nationalpopulismus wendet sich etwa gegen das „internationale Finanzkapital“, das die politischen Eliten beeinflusse, und fordert eine Rückkehr zu nationaler Sozialstaatlichkeit. Rechter Nationalpopulismus stellt dagegen die Zuwanderung in den Mittelpunkt und greift Migranten sowie die politischen Eliten, die Migration zulassen, an.

Obwohl linker Nationalpopulismus in einzelnen Ländern durchaus eine relevante Rolle spielt, ist der rechte Nationalpopulismus insgesamt deutlich erfolgreicher. Eine Erklärung dafür ist, dass die Linke historisch eher internationalistisch orientiert war; selbst in Linksaußenparteien ist die Vorstellung einer nationalen Abschottung deshalb in aller Regel umstritten. Rechtspopulisten fällt der Bezug auf das nationale „Eigene“ hingegen leichter, sodass ihre Globalisierungsfeindlichkeit kohärenter und glaubwürdiger wirkt.

10. Fallen in der Auseinandersetzung mit dem Nationalpopulismus

Wenn die Parteien der Mitte den Nationalpopulisten entgegentreten, müssen sie vor allem zwei Fallen vermeiden. Die erste besteht darin, den Populisten einfach zu folgen und ihre globalisierungsfeindlichen Forderungen selbst zu übernehmen. Denn dadurch könnte es ihnen zwar vielleicht gelingen, einige Wähler der neuen Parteien zurückzuerobern: Seitdem sich zum Beispiel die britischen Tories (AKRE) mit dem Gedanken eines harten Brexit angefreundet haben, konnten sie die UKIP (ADDE) in Umfragen etwas zurückdrängen. Nur müssen sie dafür nun auch deren Programm umsetzen, und für die Gesellschaft ist nichts gewonnen.

Die zweite Falle wiederum besteht darin, zu sehr auf die Beharrungskraft des Status quo zu setzen und darauf zu vertrauen, dass die Errungenschaften von Liberalisierung und Globalisierung rechtlich schon so fest verankert sind und ein Abrücken von ihnen mit so großen Problemen verbunden wäre, dass kein rational handelnder Akteur sich dafür entscheiden wird. Denn all das mag zwar stimmen. Aber das Brexit-Referendum und die Wahl Donald Trumps sollten deutlich gemacht haben, dass Rationalität allein gegen die Nationalpopulisten keine Sicherheit mehr gibt.

11. Überstaatliche Institutionen demokratisieren

Um zu gewinnen, müssen die Parteien der Mitte die demokratische Auseinandersetzung annehmen: Sie müssen akzeptieren, dass die wirtschaftliche und kulturelle Liberalisierung der letzten Jahre in Frage gestellt wird, sie müssen sie verteidigen, wenn sie wirklich daran glauben, und sie müssen hoffen, mit ihren Argumenten eine Mehrheit zu gewinnen.

Gleichzeitig aber müssen die Parteien der Mitte daran arbeiten, die institutionellen Rahmenbedingungen zu überwinden, aus denen die Nationalpopulisten ihre derzeitigen strukturellen Vorteile beziehen. Und das bedeutet in erster Linie, die überstaatlichen Institutionen zu demokratisieren. Nur so lässt sich dem populistischen Vorwurf der „Fremdherrschaft“ wirksam entgegentreten – und nur so können die Parteien der Mitte den Handlungsspielraum zurückgewinnen, den sie auf nationaler Ebene verloren haben.

Die Technische Universität Dresden organisiert in diesem Semester eine Veranstaltungsreihe über den britischen EU-Austritt. Den Abschluss dieser Reihe bildet am 2. Februar eine öffentliche Podiumsdiskussion unter dem Titel „Die spinnen, die Briten – und wir?“, bei der der Dresdner Soziologe Tino Heim und ich über Europaskepsis und Nationalpopulismus auch jenseits des Brexit sprechen werden. Los geht es um 19 Uhr in der Marché Lounge am Dresdner Hauptbahnhof. Weitere Informationen dazu hier.

Bilder: jojo [CC BY-ND 2.0], via Flickr; DBG Dresden.

1 Kommentar:

  1. Man kann sich auch fragen, ob eine politische Mitte, deren Parteien sich nur noch marginal unterscheiden, 3 oder 4 Parteien benötigt oder ob es nicht erstrebenswert wäre, wenn sich die Anzahl auf höchstens 2 reduzieren würde. (Potenzielle FDP-Wähler könnten als erste dazu beitragen, hüstel :-)

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