20 Juni 2017

„Die Kunst, mit offensiver Europapolitik national erfolgreich zu sein, muss wieder erlernt werden“: Ein Interview mit Christoph Möllers

Christoph Möllers.
D(e)F: Wenn Sie eines an der Funktionsweise der Europäischen Union ändern könnten, was wäre es?

Christoph Möllers: Mir fielen verschiedene Antworten ein, zur Organisation des Rates, der internen Struktur des Europäischen Gerichtshofs, zu Abgaben oder zum europäischen Parteienwesen, aber mein Punkt auf diese Frage ist doch ein anderer: Wir stehen jetzt in einem Moment jenseits des institutional engineering. Die Funktionsweise der EU an einem Punkt zu ändern würde gar nichts nutzen, solange wir uns in einem so ernsthaften politischen Konflikt über die EU befinden.

Wir müssen zusehen, dass dieser Konflikt auf der europäischen Ebene ankommt und nicht zwischen Mitgliedstaaten stattfindet, aber das ist eine Aufgabe für alle, die man nicht institutionell einfangen kann. Seit der Einheitlichen Europäischen Akte hat sich das europäische Gebilde rasant verändert. Seit den frühen 1990ern gibt es Krisensymptome. Die politischen Prozesse sind nicht nachgewachsen, die Gesellschaften haben sich nicht gleichermaßen europäisiert. Das müsste jetzt nachgeholt werden und das geht wahrscheinlich nur in einem dramatischen Konflikt.

Leitunterscheidungen in der Krise

Worin genau besteht dieser Konflikt über die EU? Wie würden Sie die Konfliktparteien beschreiben, und welche möglichen Szenarien sehen Sie für seinen Ausgang?

Ein Problem der gegenwärtigen Konstellation liegt darin, dass sich zu viele verschiedene Konfliktachsen überlagern. Ideal wäre es, wenn es eine genuin politische Leitunterscheidung à la rechts/links oder Föderalisten/Republikaner gäbe, an die sich möglichst viele Sachfragen anschließen könnten. So geschah es in der frühen amerikanischen Republik. Stattdessen sehen wir einerseits eine Krise der mitgliedstaatlichen Koalitionsbildung (die vielleicht durch Emmanuel Macron gelindert werden könnte) und andererseits eine Zersplitterung der europäischen Parteienlandschaft.

Insbesondere Migration und Euro werden in vielen Mitgliedstaaten als existenzielle Fragen gesehen, aber hieraus entsteht keine stabile Konfliktlinie. Im Europäischen Parlament dominiert eine große Koalition, die bloß ihre Loyalität zum europäischen Projekt verbindet. Im schlimmsten Fall wird dies die politische Leitunterscheidung: für oder gegen die EU. Politikverdrossenheit, die es ohnehin gibt, kristallisiert sich dann an dieser Frage.

Im günstigsten Fall entstünde, wie gesagt, eine eigene europäische Politisierung. Das ist aber schon deswegen sehr unwahrscheinlich, weil die politischen Leitunterscheidungen auch in allen Mitgliedstaaten in der Krise sind. Wenn dort die Parteiensysteme zerfallen, dann sind sie auch in der EU nicht zu halten.

Dissens über Sachfragen

Das klingt, als wäre die Krise im Kern doch eine der politischen Parteien: Sie sind es schließlich, denen in einer repräsentativen Demokratie normalerweise die Aufgabe zukommt, unübersichtliche Konfliktfelder zu strukturieren. Wie kommt es, dass ihnen das in der EU nicht mehr gelingt? Liegt es nur an der zunehmenden Komplexität der Gesellschaft, durch die es für die Volksparteien immer schwerer wird, ein Catch-all-Programm zu entwickeln? Oder gibt es hier doch auch spezifische institutionelle Probleme der EU – etwa die hohen Mehrheitserfordernisse im Gesetzgebungsverfahren, die de facto eine permanente große Koalition erzwingen und dadurch Richtungsentscheidungen unmöglich machen?

Die Krisen den Institutionen angemessen zuzurechnen gehört zu wichtigsten und schwierigsten Aufgaben, um die Probleme analysieren zu können. Dass die Krise der Parteiendemokratie (die sich auch außerhalb und unabhängig von der EU beobachten lässt) für die EU relevant ist, liegt einmal daran, dass sie von den politischen Prozessen ihrer Mitgliedstaaten abhängt, zum anderen daran, dass die EU mit der institutionellen Stärkung des Parlaments und der Verknüpfung von Parlament und Kommission auf ein Modell zusteuerte, das auch auf der eigenen Ebene auf Parteien angewiesen ist.

Natürlich gibt es spezifische Mängel der EU-Institutionen. Aber es ist durch den hohen Grad der Verflechtung gar nicht so einfach, diese herauszuarbeiten. Ich glaube nicht, dass die Mehrheitsregeln das Problem sind. Intergouvernementale Politik funktioniert nur mit viel Konsens, solange sie nicht von politischen Lagern überwölbt wird. Mein Eindruck ist auch hier, dass der politische Dissens über Sachfragen, aber auch grundsätzlich über die Bedeutung von Staatlichkeit, über die richtigen Außenbeziehungen wie auch die gesellschaftliche und politische Diversität der Mitgliedstaaten, im Moment mehr erklärt als die Institutionen.

Natürlich finden sich Fehlkonstruktionen, namentlich der Euro. Aber man darf nicht vergessen, dass auch vor dem Euro große Unzufriedenheit, etwa in Frankreich, über die Abhängigkeit von der Mark herrschte. Ebenso spielt das institutionelle Selbstverständnis europäischer Institutionen eine Rolle, etwa bei der Kommission. Aber man würde sie überschätzen, wenn man behauptete, eine bessere Kommission wäre die Lösung.

Die Debatte in die EU-Institutionen überführen

Nur wie lässt sich der bestehende Dissens über Sachprobleme politisch auflösen, wenn man institutionell an der Konsensidee festhalten will? Ist es denn realistisch zu erwarten, dass bei so gravierenden Fragen wie in der Wirtschafts- oder der Migrationspolitik jemals alle relevanten Akteure in Europa zu einer gemeinsamen Linie finden werden? Und wäre das in einer pluralistischen Gesellschaft, die ihre Dynamik ja gerade auch aus der Konkurrenz unterschiedlicher Politikentwürfe gewinnt, überhaupt wünschenswert?

Mir ist der Punkt mit der Sachpolitik so wichtig, weil immer wieder, etwa nach der Brexit-Entscheidung, vermeintlich Einigkeit darüber herrschte, dass „die EU sich ändern muss“. Das klingt so, als läge in deren Organisation das Problem. Aber hinter diesem Formelkonsens stehen diametral entgegengesetzte Positionen etwa über Euro- oder Flüchtlingspolitik, die der EU nicht vor die Füße gelegt werden können.

Der Dissens wird sich nicht auflösen lassen, und in der Tat soll er das auch gar nicht. Aber zum einen muss der Dissens auf die Sache beschränkt sein: Man kann nicht gleichzeitig über die Sachfrage und über die Legitimation der EU sprechen. Die Mitgliedstaaten haben Sachprobleme ausgebeutet, um die EU als Institution anzugreifen und sich selbst gegenüber ihr zu profilieren. Das hält sie auf Dauer nicht aus.

Zum anderen muss die Debatte wieder mehr in die EU-Institutionen überführt werden. Der Europäische Rat hat sich immer mehr verselbstständigt, und Politik innerhalb der EU ist mehr denn seit langem Diplomatie zwischen den Mitgliedstaaten. Anstatt sich dagegen zu wehren, so mein Eindruck, ist die Europäische Kommission damit zufrieden, bei solchen Verhandlungen dabei zu sein und dadurch ihre eigenständige institutionelle Rolle selbst in Frage zu stellen.

All das ist deswegen so schwierig zu ändern, weil es informell verläuft. Man kann es nicht per institutioneller Reform ändern. Die Mitgliedstaaten müssten loslassen, sind dazu aber mit der Behauptung nicht bereit, es fehle der EU an Legitimation – eine Behauptung, die deswegen stimmt, weil die Mitgliedstaaten nicht loslassen …

Kein Nullsummenspiel

Die nationalen Regierungschefs stehen da natürlich auch vor einem Dilemma: Einerseits sehen die meisten von ihnen ein, dass für viele Sachfragen Lösungen nur auf europäischer Ebene möglich sind. Andererseits wollen sie aber von einer nationalen Wählerschaft wiedergewählt werden, und da ist eine aktive Rolle bei der Gipfeldiplomatie des Europäischen Rates für das Image allemal besser als „loszulassen“ und der Kommission oder dem Europäischen Parlament wieder mehr Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen.

Ist das wirklich ein Dilemma? Oder ist es nicht die Normalität jeder Föderation, in der man verschiedene politische Prozesse übereinbringen muss? Natürlich pflegen die Bayern ihre politische Eigenheit, aber doch nicht notwendig auf Kosten der Bundesrepublik. Ich glaube nicht, dass es ein Nullsummenspiel politischer Ebenen gibt. Der ganze Souveränitätsdiskurs führt in die Irre, aber die Kunst, mit offensiver Europapolitik national erfolgreich zu sein, muss erstritten und wieder erlernt werden. Und vielleicht lernt man so etwas auch nur in einer Krise.

Aus der Defensive kommen

Als Musterbeispiel für eine national erfolgreiche offensive Europapolitik gilt in diesen Wochen ja Emmanuel Macron, der mit einem dezidiert kosmopolitischen Wahlkampf die französische Präsidentschaftswahl gewann. Ist das ein Ansatz, den politische Akteure in anderen Mitgliedstaaten kopieren sollten? Oder ist Macrons Aufstieg eher Ausdruck einer gefährlichen Polarisierung zwischen pro- und antieuropäischem Lager, in der nicht mehr über politische Inhalte diskutiert wird, sondern die Fortexistenz der EU selbst auf dem Spiel steht?

Macrons Bewegung sieht mir wie eine Flucht nach vorne aus. Man muss sehen, was daraus wird, und kann dann versuchen, davon zu lernen. Aber all das wäre nicht ohne eine politische Krise in Frankreich geschehen, die man sich für kein Land wünschen kann.

In Deutschland müsste die SPD mit Martin Schulz die Rolle der Partei übernehmen, die nicht nur defensive Europapolitik („so viel wie nötig“) macht, sondern den Ausbau der EU als eine positive Möglichkeit darstellt. Leider sieht man davon im Moment sehr wenig. Wie gesagt, die Polarisierung gäbe es auch ohne die EU. Sie hat an dieser nur ein passendes Objekt gefunden.

Ein attraktives politisches Projekt

Anders als in Frankreich scheint die EU in Deutschland gerade allerdings eher wenig zu polarisieren. Jedenfalls kommt sie im Bundestags-Vorwahlkampf bislang kaum vor, und den meisten Bürgern würde es wohl schwerfallen, konkrete europapolitische Unterschiede zwischen den großen Parteien zu benennen. Tatsächlich dürfte es – trotz AfD – derzeit nur wenig europäische Länder geben, deren öffentliche Debatte so stark von der „europäischen großen Koalition“ geprägt ist wie Deutschland. Kann die Schulz-SPD in dieser Situation eine offensivere Europapolitik einleiten, ohne unglaubwürdig zu wirken?

Die Frage ist, ob es nicht notwendig wäre, in Deutschland die kommenden europapolitischen Probleme vorwegzunehmen und positiv zu wenden. Also das Narrativ von den fleißigen Deutschen, die alles richtig machen, selbst in Frage zu stellen und offensiver sowohl über unsere Vorteile und auch über unsere Abhängigkeit von der EU zu sprechen – und daraus ein positives Projekt zu machen.

Das würde auch bedeuten, europäische Steuern, die Einbeziehung des Europäischen Parlaments in den entstehenden europäischen Finanzausgleich und vergleichbare Themen als eine politische Möglichkeit zu formulieren, nicht nur als Bedrohung. Gerade im Moment könnte das ein attraktives politisches Projekt sein.

Christoph Möllers ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) sowie Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, wo er das Programm Recht im Kontext leitet. 2016 gewann er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Dieses Interview wurde im Mai/Juni 2017 per E-Mail geführt.

Bild: Christoph Möllers (alle Rechte vorbehalten).

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