Dass
man zwischen „Europa“ und „der EU“ unterscheiden müsse, ist
unter Europaskeptikern ein weit verbreiteter Topos. Meist dient er
dazu, sich selbst gegen den Vorwurf des Nationalismus zu
immunisieren: Man habe ja nichts gegen eine europäische
Zusammenarbeit, heißt es dann zum Beispiel, nur nicht in Form der
supranationalen EU mit ihren Eingriffen in die Souveränität der
Nationalstaaten. Warum ich dieses Argument ausgesprochen zweifelhaft
finde, habe ich hier bereits
vor einigen Jahren beschrieben: „Europa“ existiert als
politische Einheit überhaupt nur deshalb, weil es das
institutionelle Gefüge der EU gibt. Wer die EU zerstören will, um
zur nationalen Souveränität zurückzukehren, der will das einzige
politische Gemeinwesen zerstören, in dem Europäer sich
als Mitbürger begegnen.
„Ja
zu Europa, nein zur EU“
In
jüngerer Zeit ist eine Variante dieses „Ja zu Europa, nein zur
EU“-Topos allerdings immer öfter auch unter Menschen zu hören,
die keineswegs zur nationalen Souveränität zurückkehren wollen,
sondern im Gegenteil viel mehr europäische Integration anstreben.
Menschen, die recht deutlich dem proeuropäisch-kosmopolitischen
Lager zuzurechnen sind, fordern, dass man die EU „abschaffen“,
„zerstören“ oder „überwinden“ müsste, um sie durch etwas
Besseres zu ersetzen.
Besonders
prominent ist dieser Topos bei der Politikwissenschaftlerin und
Aktivistin Ulrike Guérot, die der EU „in
einem Akt kreativer Zerstörung“ den
„Gnadenstoß“ versetzen will, um an ihrer Stelle eine
„europäische Republik“ zu errichten. Schon länger populär ist
diese Rhetorik auch bei der Europäischen Linken, die etwa in
ihrem Europawahlprogramm 2014 massive Kritik an der EU übte, die
„nicht den Menschen, sondern den Märkten“
diene,
und dann eine „Neugründung Europas“ forderte, in deren
Mittelpunkt ein „Europäisches
Parlament mit
uneingeschränkten
Befugnissen“
stehen solle. Der
Ökonom Thomas Piketty beschimpfte
die EU in einem Interview als „technokratischen Moloch“ und
„ein Monster“ und
forderte zugleich ein
überstaatliches Eurozonenparlament mit umfassenden wirtschafts- und
steuerpolitischen Rechten. Aber
auch der liberale Fraktionschef im Europäischen Parlament, Guy
Verhofstadt (Open-VLD/ALDE) griff
vor kurzem auf den Topos zurück, als er in einem Interview die
„Abschaffung“ der Europäischen Kommission forderte, um sie durch
eine neue „EU-Regierung“ zu ersetzen.
Sollten
wir einen Akt kreativer Zerstörung anstreben?
Oft
verbirgt sich hinter dieser Rhetorik wohl nur der Versuch,
Aufmerksamkeit zu wecken: „Zerstören und Ersetzen“ klingt
einfach
dramatischer
als „Reformieren“ und lässt sich deshalb besser medial
vermarkten. Zudem
hat die
EU in den Krisen der letzten Jahre ja tatsächlich nicht immer ein
besonders gutes Bild abgegeben und dadurch einige Frustration
ausgelöst, die die Europafreunde
nicht allein den Europagegnern überlassen wollen.
Aber
ist diese Art der EU-Beschimpfung wirklich sinnvoll? Sollten wir
wirklich einen „Akt kreativer Zerstörung“ anstreben, in
dem zunächst einmal die bestehenden Strukturen der EU vernichtet werden, um dann auf ihren Trümmern ein anderes, besseres,
demokratisches Europa aufzubauen? Mir selbst erscheint dieser Ansatz
verführerisch, aber
auch unrealistisch, unnötig – und letztlich kontraproduktiv. Aber
der Reihe nach.
Verführerisch
Die
Hoffnung auf eine Stunde null, einen radikalen politischen Neuanfang,
eine europäische Revolution zum Aufbau eines staatenübergreifenden
Bundesstaats begleitet die Geschichte der europäischen Integration
seit ihren Anfangsjahren. Die politische Einigung Europas entstand
zunächst als radikale Idee politischer Intellektueller, die
demokratisch-konstitutionalistischen Prinzipien nicht nur auf
nationaler Ebene,
sondern auch überstaatlich Geltung verschaffen wollten. Dieser
Idee standen jedoch starke Pfadabhängigkeiten im Weg: Die
einzigen Akteure, die eine
überstaatliche
Verfassung schaffen konnten, waren die nationalen Regierungen – und
gerade die hatten das geringste Interesse daran, ihre
Macht an supranationale
Organe
abzugeben.
Im Manifest
von Ventotene, das die italienischen Antifaschisten und
europäischen Föderalisten Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und
Eugenio Colorni während
des Zweiten Weltkriegs verfassten, richtete
sich deshalb
alle Hoffnung auf die
unmittelbare
Nachkriegszeit:
Der
richtige Moment für die
Gründung eines europäischen
Bundesstaats
lag in ihren Augen
in der kurzen, intensiven Zeitspanne der allgemeinen Krise, in der die Staaten zerschmettert am Boden liegen und die Volksmassen in ihrem Verlangen nach neuen Parolen eine flüssige und glühende Masse sein werden, bereit, sich in neue Formen gießen zu lassen.
Unrealistisch
Indessen
erfüllte
sich diese
Hoffnung auf einen revolutionären Moment, in
dem sich alle nationalen
Pfadabhängigkeiten
auflösen
und
in
den „Volksmassen“ eine
neue europäische Identität durchbricht,
schon
1945 nicht. Als
die europäische Integration dann in
den fünfziger Jahren wirklich
losging,
saßen
recht schnell wieder die nationalen
Regierungen im Fahrersitz –
und die Föderalisten um Spinelli verlegten sich auf eine
inkrementelle
Strategie,
die
das Ziel eines gesamteuropäischen Bundesstaats im Auge behielt, aber
akzeptierte, dass dieser Vertragsreform
für Vertragsreform in
vielen mühevollen kleinen Schritten würde
errungen werden müssen.
Stehen
die
Chancen für eine europäische
Revolution heute besser als in der Nachkriegszeit? Am
meisten Grund
zur Hoffnung
darauf
bietet
noch
die „Generation Erasmus“:
junge, mobile
und meist
gut ausgebildete
Menschen, die ihre
Leben mit einer gewissen Selbstverständlichkeit gesamteuropäisch
ausgerichtet haben. Anders
als 1945 gibt es damit
ein soziales
Milieu der
Integrationsgewinner,
das
die Einheit
Europas
nicht
nur als
eine
schöne
politische Idee, sondern als
eine
konkrete Lebenserfahrung kennt.
Aber
es wäre ein populistischer Irrtum, aus
der Existenz dieses
sozialen
Milieus
zu
folgern,
dass
die europäische Bevölkerung insgesamt nur
noch auf den
Zusammenbruch der
Nationalstaaten warten würde. Im
Gegenteil: Man
darf zwar davon ausgehen, dass
die meisten Menschen sich auf
mehr
europäische Demokratie durchaus einlassen würden,
sodass
ein demokratisches, föderales
Europa letztlich
auch
eine
höhere gesellschaftliche
Akzeptanz
genösse als die
heutige EU. Aber
von
einer vorrevolutionären Stimmung ist
in
Europa bei
aller Unzufriedenheit mit dem Status quo eher
wenig zu spüren. Fortschritte
bei der europäischen
Integration wird
man deshalb
wie
in der Nachkriegszeit nur
mit
den
derzeit mächtigen politischen Akteuren erreichen,
nicht gegen sie.
Unnötig
Auch
wenn der
Plan,
die EU erst einmal zu zerstören, um Europa
dann
noch einmal „richtig“ wieder aufzubauen, nicht
besonders realistisch ist, könnte
er trotzdem die plausibelste Strategie sein –
nämlich dann, wenn die EU so
hoffnungslos schlecht
konstruiert wäre, dass sie
überhaupt keine Ansatzpunkte zu
einer schrittweisen Verbesserung böte. Tatsächlich
scheinen viele der zerstörerischen Europafreunde implizit
oder explizit genau
von dieser Annahme auszugehen. Aber stimmt
das
denn?
Keine
überstaatliche Organisation folgt
in ihrem institutionellen Aufbau so eng dem Modell eines
Föderalstaats
wie die Europäische Union. Immerhin
ist
sie das
einzige überstaatliche Gebilde mit einem direkt gewählten
Parlament, das
echte Gesetzgebungsmacht
besitzt.
Sie
ist die einzige überstaatliche Organisation, deren
Recht in allen
Mitgliedstaaten unmittelbar bindend ist und
vor einem unabhängigen Gerichtshof durchgesetzt werden kann.
Mit
der Unionsbürgerschaft gibt
es einen gemeinsamen
Rechtsstatus,
der
allen
europäischen Bürgern
EU-weite
Rechte
wie
Freizügigkeit und Nichtdiskriminierung garantiert. Und
schon
heute existieren europäische
Parteien, die
Schlüsselakteure
für eine supranationale politische
Willensbildung jenseits der zwischenstaatlichen Diplomatie sein
könnten.
Identifizierbare Defizite
Natürlich
gibt es in all diesen Bereichen auch
noch
Verbesserungsbedarf: Das
Europäische
Parlament müsste
mehr Dinge allein entscheiden können, damit es eine
klarere Dynamik zwischen Regierung und Opposition entwickeln
kann.
Die
Unionsbürgerschaft müsste vor
allem im Bereich der sozialen Rechte weiter ausgebaut werden. In
der europäischen Rechtsgemeinschaft müsste der
EuGH gegenüber den nationalen Verfassungsgerichten gestärkt werden.
Ein
neues Europawahlrecht ist notwendig, um
den europäischen Parteien mehr Gewicht
zu geben. Und
auch
in vielen
anderen
Dingen
funktioniert die
EU heute
nicht
so,
wie
man das unter dem Gesichtspunkt einer europäischen Demokratie gerne
hätte.
Aber
letztlich
sind
all diese
institutionellen
Defizite einzeln
identifizierbar
–
es
geht um eine überschaubare Anzahl
an Stellschrauben,
die sich
zwar
oft nur
mit gewaltigem politischem und verfassungsrechtlichem Aufwand bewegen
lassen, aber
die man doch recht
klar
benennen kann. Eine
Liste
der
Reformen, die ich selbst für notwendig halte, habe ich zum Beispiel
vor einigen Jahren in
meinem „europapolitischen
Wunschzettel“ formuliert. Das
2013 von einer Gruppe von Europaabgeordneten entworfene „Grundgesetz
für die Europäische Union“ oder der Anfang dieses Jahres vom
Europäischen Parlament verabschiedete Verhofstadt-Bericht
zur Reform des EU-Vertrags setzen an ähnlicher Stelle an.
Kontraproduktiv
Die
Europäische Union bietet also die nötigen Grundlagen für eine
europäische Demokratie und konkrete Möglichkeiten für eine weitere
Verbesserung. Angesichts dessen scheint mir das Gerede von ihrer
notwendigen „Zerstörung“ gleich in doppelter Hinsicht
kontraproduktiv für weitere Integrationsfortschritte zu sein: Zum
einen wertet es die existierenden Grundlagen ab und hilft damit den
nationalistischen Europaskeptikern, die die europäische Integration
insgesamt delegitimieren wollen.
Und
zum anderen spielt die Behauptung, die EU sei unreformierbar, auch
all jenen in die Hände, die aus politischer Bequemlichkeit und
Risikovermeidung auf jeden ernsthaften Anlauf zu mehr Integration
verzichten wollen. Diese nur scheinbar pragmatischen Apologeten des
Status quo sind derzeit womöglich der
größte Hemmschuh für reale Fortschritte auf dem Weg zur
europäischen Demokratie. Mit ihrer Alles-oder-nichts-Rhetorik
erlauben die Anhänger einer kreativen Zerstörung ihnen, die
Aussicht auf demokratische Reformen als etwas Utopisch-Fernliegendes
erscheinen zu lassen – und damit in ungewisse Zukunft zu
verschieben.
Defizite benennen und überwinden
Um
nur ein Beispiel zu nennen: Der Versuch, den europäischen Parteien
und dem Europäischen Parlament mehr Gewicht zu verschaffen, wird
jedenfalls nicht erleichtert, wenn Europafreunde bei jeder
Gelegenheit betonen, dass es sich dabei ja um keine „echten“
Parteien und kein „richtiges“ Parlament handele. Nützlicher wäre
es, genau zu analysieren, warum
die europäischen Parteien eigentlich so schwach sind und was
die politische Debatte im Europäischen Parlament hemmt, und sich
dann dafür einzusetzen, das zu ändern.
Statt
von der Revolution, der Zerstörung alles Bestehenden und dem
wunderbaren Neuanfang in einer „europäischen Republik“ zu
träumen, sollten Freunde der europäischen Demokratie besser
deutlich die Defizite im heutigen politischen System der EU benennen
und dann erklären, wie sie sich überwinden lassen. Wir haben nicht
viel davon, wenn wir uns bis ins kleinste Detail ausmalen, wie die
perfekte europäische Verfassung aussehen könnte, aber jenseits von Umsturzphantasien keine
Vorstellung entwickeln, wie wir dorthin gelangen. Stattdessen sollten
wir uns fragen, welche spezifischen Reformen den
besten Hebel bieten, um die Demokratisierungsdynamik der EU weiter in
Gang zu halten. Ansatzpunkte dafür gibt es genug.
Die beste Grundlage für eine überstaatliche Demokratie
Und
natürlich werden wir auf diesem Weg noch auf viele Hindernisse
stoßen. Natürlich müssen manche alten Verfahren über Bord
geworfen werden. Natürlich wird es Widerstände geben und natürlich
wird immer wieder mühevolle Überzeugungsarbeit zu leisten sein. All
das sollten wir beherzt und ohne Scheu vor Konflikten angehen.
Was
wir aber nicht tun sollten, ist, die EU zu zerstören. Denn mit all
ihren Schwächen ist sie die beste Grundlage für eine überstaatliche
Demokratie, die es heute gibt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.