- Arbeitslosenquote in der Eurozone: Der Trend geht in die falsche Richtung. Aber ist uns das eigentlich wichtig?
Den
in Deutschland lebenden Leserinnen und Lesern dieses Blogs wird es
wohl nicht entgangen sein, dass in Kürze elftausend Mitarbeiter des Unternehmens Schlecker ohne Job dastehen werden.
Im Vergleich dazu ist eine andere Zahl in der deutschen
Öffentlichkeit sehr viel weniger präsent: Wie Eurostat mitteilt,
ist die Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union im Februar
2012 auf über 24,5 Millionen
gestiegen, fast zwei Millionen mehr als vor einem Jahr. Die
Arbeitslosenquote lag bei 10,2 Prozent. Noch etwas schlechter sieht
es im Euroraum aus: Hier beträgt die Arbeitslosenquote sogar 10,8
Prozent und hat damit den höchsten Wert überhaupt seit der
Einführung der gemeinsamen Währung erreicht.
Eigentlich
sind solche Meldungen für Medien immer ein interessantes Thema.
Schließlich ist die Arbeitslosigkeit etwas, das die Menschen direkt
betrifft – der Punkt, an dem die Konjunkturentwicklung unmittelbare
Folgen für das Alltagsleben zeigt. In der letzten großen deutschen
Wirtschaftskrise vor etwa zehn Jahren zum Beispiel wurde die
Verkündung des monatlichen Arbeitsmarktberichts geradezu zu einem
politischen Ritual, das Regierung und Opposition zum Anlass nahmen,
um ihre Kräfte zu messen. Dass Anfang 2005 die Arbeitslosenzahl
erstmals über fünf Millionen stieg (was einer deutschlandweiten
Quote von rund elf Prozent entsprach, also etwa dem Niveau der
Eurozone heute), war ein symbolischer Wendepunkt, der das Ende
der Regierung Schröder einleitete. Über die europäische
Beschäftigungsstatistik heute aber findet der Leser mit Mühe einen
kurzen Bericht auf den hinteren Seiten des Wirtschaftsteils.
Unterschiedliche
Wahrnehmung
Warum
lässt die europäische Arbeitsmarktmisere die deutschen Medien
so kalt? Die Antwort darauf bot der wirtschaftspolitische Sprecher
der Kommision, Amadeu Altafaj, bei der Präsentation der
Arbeitslosenzahlen. Er hob hervor, dass sich hinter den
Durchschnittsdaten enorme Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten
verbergen: „Ein deutscher Bürger,
der die Entwicklung von Arbeitslosigkeit und Wachstum betrachtet, hat
eine ganz andere Wahrnehmung als ein spanischer Bürger.“
Und
tatsächlich: Schlägt man allein den aktuellen Bericht der deutschen Arbeitsagentur auf, trägt gleich das erste Kapitel die
Überschrift
„Besserung setzt sich fort“. Die saisonbereinigte
Arbeitslosenquote liegt hier nach der Berechnung von Eurostat bei
gerade einmal 5,7 Prozent, mit sinkender Tendenz. Und obwohl die
Umfragewerte der Bundesregierung konstant niedrig sind, ist es mit Sicherheit nicht
die Beschäftigungspolitik, die ihr von den deutschen Bürgern zum
Vorwurf gemacht wird. Dass in Süd- und Osteuropa die
Wirtschaftskrise um sich greift, wird hier zwar zur Kenntnis
genommen. Aber schließlich ist das kein deutsches Problem, und im
Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein
werden ohne Zweifel andere Themen im Vordergrund stehen.
Ganz
anders Spanien, das mit einer Quote von 23,6 Prozent die
Arbeitslosenrangliste anführt. Die Regierung Rajoy (PP/EVP), die
seit gerade einmal hundert Tagen im Amt ist, musste in dieser Zeit
bereits eine unpopuläre
Steuererhöhung und eine noch unpopulärere Arbeitsmarktreform
beschließen. Vor zehn Tagen wurde sie bei den Regionalwahlen in
Andalusien und Asturien abgestraft; für vergangenen Donnerstag
riefen die Gewerkschaften einen Generalstreik aus. Kein Wunder also,
dass der Jobmangel hier das wichtigste politische Thema
überhaupt ist – und die Online-Ausgabe von El
País gestern mit einem Bericht über die jüngsten Eurostat-Daten aufmachte.
Appelle an die deutsche Kanzlerin
Doch anders als die Deutschen rechnen die Spanier den Zustand ihres Landes
nicht allein ihrer eigenen Regierung zu, sondern in zunehmendem Maße
auch der Europäischen Union. Schon als die Regierung Rajoy Anfang
Januar mit einer Steuererhöhung ihre ersten Wahlversprechen brach, verwies sie auf die Alternativlosigkeit dieser Agenda: „Wenn nicht,
hätten uns andere dazu gezwungen.“ Bei der Vorstellung des
Haushaltsplans für das nächste Jahr betonte Rajoy heute erneut,
dass die Sparmaßnahmen das einzige Gegenmittel gegen die drohende
„Intervention“ seien (also gegen das, was deutsche Medien als die
„Flucht unter den europäischen Rettungsschirm“ bezeichnen
würden). Der Gewerkschaftschef Cándido Méndez beendete seine Rede am Tag des Generalstreiks mit
einem Appell an „Merkel, Brüssel und die Märkte“, die zur
Kenntnis nehmen sollten, dass die Sparpolitik in der spanischen
Bevölkerung keine Unterstützung erfahre. Und auch in den
Zeichnungen des El-País-Karikaturisten Peridis erscheint
Angela Merkel zuletzt immer öfter in nicht allzu schmeichelhaften
Zusammenhängen.
Denn
natürlich ist sich in Spanien jeder des Zusammenhangs bewusst, dass
es die von Deutschland verordnete Austeritätspolitik ist, die die
spanische Wirtschaft immer tiefer in die Rezession drückt und damit
auch zu Steuerausfällen und einer Verschärfung der Schuldenkrise
führt. Schon im Parlamentswahlkampf im vergangenen Herbst zeichnete
sich in der spanischen Öffentlichkeit eine gewisse Resignation ab,
da die drängendsten Probleme des Landes nicht mehr allein auf
nationaler Ebene, sondern nur noch gesamteuropäisch gelöst werden
können, und die spanischen Politiker deshalb von den Entscheidungen
im Europäischen Rat abhängig sind. Dort aber hat Deutschland als das einwohnerreichste und wirtschaftsstärkste Land der EU den meisten Einfluss. Es verwundert deshalb nicht, dass die Spanier
nun immer mehr dazu übergehen, sich mit ihren Forderungen direkt an
die deutsche Bundeskanzlerin zu wenden.
Was
kümmert es Angela Merkel?
Doch
ob diese Forderungen auch auf Gehör stoßen werden, scheint mehr als
fraglich. Denn es ist zwar anzunehmen, dass man sich im Berliner
Kanzleramt durchaus der wachsenden Unzufriedenheit am Mittelmeer
bewusst ist. Doch die Wähler, auf deren Stimmen die Bundesregierung
bei der nächsten Bundestagswahl angewiesen ist und vor denen sie
sich deshalb rechtfertigen muss, sind nicht die Spanier, sondern die
Deutschen. Solange die deutsche öffentliche Meinung die
Wirtschaftskrise als etwas Fremdes ansieht, das nur die anderen
Länder betrifft, wird deshalb auch die Bundesregierung wenig Anlass sehen, ihre Strategie zu ändern. In diesen Tagen jedenfalls stattete der
CDU-Fraktionschef Volker Kauder der Regierung in Madrid einen Besuch ab und
betonte
dort in einer Pressekonferenz, dass „Spanien tut, was es tut, weil
es das für notwendig hält, und nicht, wie es manchmal heißt, weil
Frau Merkel das so will“. (Genau, das war derselbe Volker Kauder, der vor einigen Monaten noch stolz verkündete, jetzt werde in Europa Deutsch gesprochen.)
Wen
also kümmert es, dass die europäische Arbeitslosenquote gerade ein
historisches Maximum erreicht hat? Die Deutschen, die die größte
Verantwortung für die Austeritätspolitik tragen, sind zugleich
diejenigen, die am wenigsten von ihr betroffen sind. In den übrigen
Mitgliedstaaten dagegen verbreitet sich die Überzeugung, den Weg aus
der Krise ohnehin nicht selbst zu bestimmen, sondern der Willkür
Berlins und der anonymen Eurokraten ausgeliefert zu sein. Es ist klar, dass
dadurch die Politik der Europäischen Union als Ganzes an Legitimität
verlieren wird.
Aus
diesem Dilemma gibt es nur einen Ausweg: die Supranationalisierung
und Demokratisierung der europäischen Wirtschaftspolitik. Die
Europäische Kommission und das Parlament, dessen Wählerschaft die
Bevölkerung der gesamten Union bildet, sind die einzigen Organe, die
der europäischen Öffentlichkeit insgesamt verantwortlich sind. Anders
als für die nationalen Regierungen wären für diese Institutionen
tatsächlich die europäischen, nicht die nationalen Beschäftigungszahlen
interessant. Nur
sie werden bei den fünfundzwanzig Millionen Arbeitslosen
keine Unterschiede zwischen „eigenen“ und „fremden“ machen,
sondern die Interessen der Bürger in allen Mitgliedstaaten gleich gewichten. Wenn sich aber das politische Entscheidungszentrum von den nationalen Regierungen zu den supranationalen Organen verlagert, wird auch die öffentliche Debatte sich nicht mehr auf nationale, sondern auf gesamteuropäische Strategien zur Krisenbekämpfung ausrichten. Und mit einiger Sicherheit wären dann auch die deutschen Medien gegenüber dem menschlichen Leid in
Süd- und Osteuropa sehr viel weniger gleichgültig, als sie das heute sind.
Bild: Eigene Grafik (Quelle: Eurostat, Angaben jeweils für das erste Kalenderquartal).
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