Für
die Freunde der europäischen Integration brachten die jüngsten Europawahlen
nicht nur gute Nachrichten. Trotz der Erwartung des
Europäischen Parlaments, dass diesmal alles
anders würde, verharrte die Wahlbeteiligung bei 43,1 Prozent. Das war zwar
erstmals keine Verschlechterung gegenüber den vorherigen Wahlen (2009 lag
die Beteiligung bei 43,0 Prozent) – aber eben immer noch eine große Enttäuschung. Schlimmer noch: Mit der
britischen UKIP und der französischen FN wurden in zwei der drei größten EU-Mitgliedstaaten
offen nationalistische und rechtspopulistische Parteien zur stärksten Kraft.
Ist die Hoffnung auf mehr europäische Demokratie also zum Scheitern verurteilt?
Ist auch all die Aufregung
um die Wahl des neuen Kommissionspräsidenten nur ein absurdes Theaterstück
der politischen Eliten, da sich die Bürger ohnehin schon längst vom europäischen Integrationsprozess verabschiedet haben?
Die gemütliche
Blase der Europa-Enthusiasten
In
den Tagen nach der Wahl war unter Proeuropäern jedenfalls einige Frustration zu
spüren. Die Journalistin Julia Korbik etwa schrieb in The
European von einem „Gefühl akuter Hoffnungslosigkeit“, das sie angesichts
des Erfolgs der Rechtspopulisten überkomme. Während sie und ihr
kosmopolitischer Freundeskreis die europäische Einigung mit Euphorie erlebten, habe
ein anderer Teil der jüngeren Generation in Scharen radikale und
europafeindliche Parteien gewählt. Von den Ergebnissen der Europawahl ernüchtert
stellt Korbik nun fest,
dass es nicht reicht, diesen Menschen mit Europa-Enthusiasmus zu begegnen. Uns fehlt es an echtem Dialog. Dialog, der auch außerhalb unserer gemütlichen Euroblase stattfindet. Mit Menschen, deren Ansichten wir vielleicht nicht teilen, die einen anderen Bildungshintergrund haben. Dass ein bulgarischer Azubi mit Erasmus wenig anfangen kann, weil es ihn nicht betrifft, ahnen wir zwar – beschäftigen uns aber nicht weiter damit. […] Wir sind Teil der europäischen Elite und machen uns das viel zu wenig bewusst.
Europa ist kein
Selbstzweck
Nur
wenig anders argumentiert auch der Publizist Timothy Garton Ash, für den das
heutige Europa aus
„28 Mitgliedstaaten und 28 Formen von Unzufriedenheit“ besteht. Was die Unzufriedenen
in allen Ländern gemeinsam hätten, sei jedoch die Sorge um immer schlechtere
Zukunftsaussichten. Die europäischen Politiker hätten sich zu lange in
institutionelle Debatten verstrickt und sich damit immer weiter von ihrer
eigenen Bevölkerung entfernt. Die europäische Integration aber könne kein
Selbstzweck sein, sondern beziehe ihre Rechtfertigung immer nur als Mittel zu
einem besseren Leben.
Ash verlangt von der nächsten Europäischen Kommission deshalb einen „radikalen
Fokus auf Ergebnisse“, insbesondere was den Abbau der Arbeitslosigkeit betrifft.
Vor allem aber zeigt er sich irritiert über die Forderung, dass der
christdemokratische Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) zum Kommissionspräsidenten
gewählt werden sollte, nur weil seine Partei bei der Europawahl zur stärksten
Kraft im Parlament wurde. Juncker, so Ash, stehe genau für eine
Fortsetzung der bisherigen elitären Europapolitik. Was Europa stattdessen
benötige, sei
eine Europäische Kommission mit allen Talenten, geführt von jemandem mit erwiesenen Fähigkeiten, so wie Pascal Lamy oder Christine Lagarde, die sich vollständig der Aufgabe widmet, die Legionen der Unzufriedenen davon zu überzeugen, dass es eine bessere Zukunft für ihre Kinder gibt, und dass diese Zukunft in Europa liegt.
Weniger Debatten über die institutionelle
Ausgestaltung Europas und mehr handfestes Anpacken für die einfachen Leute –
ist das also die Lehre, die wir aus dieser Europawahl mitnehmen müssen? Sind
wir alle viel zu elitär gewesen? Sind speziell die europäischen Föderalisten,
die nun nachdrücklich
die Nominierung Jean-Claude Junckers fordern, schon wieder dabei, sich in politischen
Spielchen zu verlieren, die für den Großteil der Bevölkerung völlig ohne Belang
sind?
Im Alltag bemerken vor allem Bildungseliten die Vorteile der EU
Ich denke, nein. Und das nicht,
weil ich die Analyse von Julia Korbik nicht teilen würde – im Gegenteil: Erstaunlich
finde ich es eher, wie vielen gebildeten Europa-Freunden erst jetzt bewusst
wird, dass sie zu einer Elite gehören. Denn natürlich kann es sich nicht jeder leisten,
sein Leben länderübergreifend zu gestalten. Natürlich spricht nicht jeder Fremdsprachen. Natürlich hat nicht jeder einen internationalen Freundeskreis. Natürlich
kann auch nicht jeder von der europäischen Freizügigkeit Gebrauch machen, von der Sozialhilfeempfänger und
Menschen ohne Krankenversicherung explizit ausgenommen sind. Und dass 25 Millionen Arbeitslose ein ganz schön hübsches Potenzial für
„Unzufriedenheit“ in Europa bilden, sollte doch nun wirklich für
niemanden eine Überraschung sein.
Es sind vor allem die bessergebildeten,
jüngeren, mobilen und aufgeschlossenen Menschen, die den Wegfall der
europäischen Binnengrenzen in ihrem Alltag bemerken. Entsprechend ist es auch wenig
überraschend, dass in diesen Kreisen die meisten begeisterten Anhänger der
europäischen Integration zu finden sind – und dass die EU gut daran tut, Initiativen
wie das Austauschprogramm Erasmus auszuweiten, damit noch breitere Bevölkerungsschichten
davon profitieren. Nur: Politik ist kein Nullsummenspiel, und die Tatsache,
dass die Bildungseliten den unmittelbarsten Nutzen aus der europäischen Integration ziehen,
ist für sich allein noch kein Grund dafür, dass andere Teile der
Bevölkerung sie so heftig ablehnen. Denn wenigstens indirekt profitieren schließlich nahezu alle Bürger vom europäischen Binnenmarkt oder von der europäischen Klimaschutzpolitik, während die nationalpopulistischen Parteien ihren Wählern nüchtern betrachtet nicht viel zu bieten haben.
Eine
neue politische Bruchlinie
Um den Aufschwung der Europaskeptiker
zu verstehen, sind deshalb noch weitere Erklärungen nötig. Eine wichtige Spur
legt Korbik selbst, indem sie in ihrem Artikel eine
Analyse des Publizisten Kenan Malik zitiert. Ihm zufolge ist die Politik heute
„post-ideologisch“ geworden, da sie keine großen gesellschaftlichen Umwälzungen
mehr anstrebe, sondern nur noch technokratische Feinsteuerung betreibe. Dies
aber führe zu einer neuen politischen Bruchlinie: „nicht zwischen links und
rechts, zwischen Sozialdemokratie und Konservatismus, sondern zwischen denen,
die sich in der post-ideologischen, post-politischen Welt zu Hause fühlen –
oder zumindest gewillt sind, sich dieser anzupassen – und denen, die sich
übergangen fühlen, enteignet und sprachlos“.
Und tatsächlich scheint mir hier
das zentrale Problem der Europäischen Union in ihrer heutigen Form zu liegen: Entstanden
in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs und geprägt von dem Misstrauen der
verschiedenen nationalen Regierungen, ist sie in ihrer ganzen Struktur vor
allem darauf angelegt, breite Kompromisse zu erzeugen. Durch eine
lange Reihe von Mechanismen verhindert der EU-Vertrag, dass eine einzelne Institution,
ein einzelnes Land oder eine einzelne Partei ihre Interessen im Alleingang
durchsetzen kann.
Kompromisszwang und Komplexität begünstigen Populismus
Positiv gewendet, kann man dies
als Beitrag zu einer rationaleren, inklusiveren und friedlicheren Politik verstehen:
Wenn man in der heutigen EU erfolgreich sein will, muss man vor allem die leisen
Töne beherrschen. Man muss Argumente finden, die auch den Gegner überzeugen,
und dabei hilft zur Untermauerung der eigenen Position eine wissenschaftliche
Studie meist mehr als eine große Demonstration der eigenen Anhängerschaft auf
dem Marktplatz.
Doch dieser ständige Kompromisszwang
führt eben auch dazu, dass politische Gegensätze nicht mehr offen ausgelebt
werden können. Und auch dies begünstigt vor allem die Eliten, da diese besser in der Lage sind, ihre Interessen auf dem Weg der
mühevollen Überzeugungsarbeit in das politische System einzuspeisen. Die
EU-Organe sind transparenter und bieten einzelnen Bürgern mehr Partizipationsmöglichkeiten
als die meisten nationalen Institutionen. Aber es haben eben nur
wenige unter uns die Zeit und die Ressourcen, sich regelmäßig und intensiv mit
Politik zu beschäftigen. Den meisten anderen erscheint die Europapolitik
im besten Falle fremd und unvertraut, und im schlechteren als eine Bedrohung, gegen die man sich mit allen Mitteln zur Wehr setzen muss.
Populistische und extremistische Parteien zu wählen ist für viele Menschen ein verzweifelter Versuch, in einem allzu komplexen politischen System eine Wirkung zu erzielen. Will man verhindern, dass sich die populistischen Parteien dauerhaft festsetzen, dann muss man diesen Menschen andere Mechanismen bieten, die es erlauben, auf einfachem Weg einen spürbaren Einfluss auf die Europapolitik zu nehmen.
Populistische und extremistische Parteien zu wählen ist für viele Menschen ein verzweifelter Versuch, in einem allzu komplexen politischen System eine Wirkung zu erzielen. Will man verhindern, dass sich die populistischen Parteien dauerhaft festsetzen, dann muss man diesen Menschen andere Mechanismen bieten, die es erlauben, auf einfachem Weg einen spürbaren Einfluss auf die Europapolitik zu nehmen.
Juncker
muss nicht der Beste sein, sondern abwählbar
Und hier kommt wieder Jean-Claude
Juncker ins Spiel. Die Forderung von Timothy Garton Ash, im Rahmen eines „radikalen Fokus
auf Ergebnisse“ die fachliche Expertise zum einzigen
Kriterium bei der Besetzung der Kommission zu machen, bedient letztlich nur jenen
technokratischen Diskurs, der in der EU schon so viel Schaden angerichtet hat. Denn
Pascal Lamy oder Christine Lagarde (er ehemaliger Generalsekretär
der Welthandelsorganisation, sie derzeitige Direktorin des Internationalen Währungsfonds)
mögen noch so qualifiziert sein: Glaubt wirklich irgendjemand, dass die richtige Person an der
Spitze der EU-Exekutive wie von Zauberhand alle Menschen in Europa glücklich machen könnte?
Politik ist keine rein
technisch-wissenschaftliche Angelegenheit, und es lässt sich nicht objektiv
bestimmen, wer der „Beste“ für ein bestimmtes Amt ist. Kritik und Unzufriedenheit wird es immer geben, sie gehört zur Politik ganz selbstverständlich dazu. Entscheidend für die Legitimität eines politischen Systems ist etwas anderes, nämlich wie diese Kritik kanalisiert und in konstruktive Veränderungsvorschläge umgesetzt wird. In einer Demokratie gibt es dafür einen einfachen Mechanismus: die Wahl. Sie ist der Anlass, bei dem jeder Einzelne, gleichgültig wie gebildet,
mobil und politisch interessiert er ist, einen Einfluss ausüben und sich Gehör verschaffen kann.
Der Grund, warum Juncker Kommissionspräsident werden muss, ist, dass eine Mehrheit der europäischen Wähler sich am 25. Mai für seine Partei entschieden hat. Nur wenn man diesen Zusammenhang ernst nimmt, bietet man auch den Ausgegrenzten und politisch weniger Aktiven eine Möglichkeit, auf die Politik einzuwirken. Denn nur dadurch wird auch das Versprechen glaubwürdig, dass man, wenn man mit Juncker unzufrieden ist, ihn bei der nächsten Europawahl 2019 auch wieder abwählen kann.
Der Grund, warum Juncker Kommissionspräsident werden muss, ist, dass eine Mehrheit der europäischen Wähler sich am 25. Mai für seine Partei entschieden hat. Nur wenn man diesen Zusammenhang ernst nimmt, bietet man auch den Ausgegrenzten und politisch weniger Aktiven eine Möglichkeit, auf die Politik einzuwirken. Denn nur dadurch wird auch das Versprechen glaubwürdig, dass man, wenn man mit Juncker unzufrieden ist, ihn bei der nächsten Europawahl 2019 auch wieder abwählen kann.
Mehr europäische Demokratie ist keine elitäre Forderung
Die Forderung, die Wahl des Kommissionspräsidenten zu parlamentarisieren, ist nur der derzeit wichtigste
Ausdruck eines größeren Programms: der umfassenden Demokratisierung der
Europäischen Union. Wie fast jedes verfassungspolitische Programm wird auch dieses
vor allem von bestimmten gesellschaftlichen Eliten getragen. Doch die dahinterstehende
Zielsetzung ist alles andere als elitär. Denn worum es dabei letztlich geht, ist
eine Re-Politisierung der Politik: Es ist die
Forderung nach einer Europäischen Union, in der nicht postideologische Argumente
von „Sachzwang“ und „Alternativlosigkeit“ vorherrschen, sondern alle Bürger die
Möglichkeit haben, durch demokratische Wahlen inhaltliche und personelle Richtungsentscheidungen
zu treffen.
Wenn
dieses Ziel erreicht wird, wird die europäische Politik ein etwas weniger
gemütlicher Ort sein; es wird härter gestritten werden, und kluge, rationale
Argumente werden öfter einmal in den rauen Stürmen der Mehrheitsabstimmungen
untergehen. Zugleich aber wird die EU dadurch an Legitimität und Stabilität
gewinnen, weil sie auch
den Unzufriedenen eine Gelegenheit gibt, Veränderungen herbeizuführen, ohne
gleich das ganze System in Frage zu stellen.
Ich sehe ein
stärkeres Europäisches Parlament nicht als Selbstzweck, sondern als ein Mittel, um auf europäischer Ebene eine demokratische kollektive Selbstbestimmung zu verwirklichen. Demokratie hingegen scheint mir sehr wohl ein Zweck für sich zu sein. Aber ganz bestimmt kein elitärer.
Bild: Rock Cohen [CC BY-SA 2.0], via Flickr.
"Denn wenigstens indirekt profitieren schließlich nahezu alle Bürger vom europäischen Binnenmarkt oder von der europäischen Klimaschutzpolitik."
AntwortenLöschenNun ja, das bestreite ich energisch. Profitieren die Menschen davon, dass in den Ländern ein ruinöser Lohnwettbewerb stattfindet oder die Staaten die Sozialleistung mit Hinweis auf die Wettbewerbsfähigkeit kürzen? Profitieren die Menschen davon, dass Großkonzerne die Staaten im Wettbewerb gegeneinander ausspielen. Nokia-Subventionen? Steuergestaltungen? Apple und Co.?
Wenn die Bürger vom gemeinsamen Binnenmarkt profitieren sollen und nicht nur die wirtschaftlichen und politischen Eliten, dann müssen gemeinsame Spielregeln den Wettbewerb der Staaten gegeneinander begrenzen.
Es ist ja schön, dass so viele qualifizierte Zuwanderer zu uns kommen, aber es ist doch schon klar, dass es in Ost-Europa so was wie einen akuten Ärztemangel gibt? Schön für uns - nicht so schön, wenn man auf dem Land in Polen einen Herzinfarkt bekommt.
Ich will ein gemeinsames Europa, ich will einen gemeinsamen Binnenmarkt, aber ich will auch gemeinsame Spielregeln, damit die EU nicht nur den Eliten nutzt. Vielleicht muss man mal irgendwas mit Wirtschaft gemacht haben, um zu verstehen, dass auch die Staaten der Welt in einem Wettbewerb stehen und dies von Unternehmen bisweilen schamlos ausgenutzt wird – weit über die Grenzen der EU hinaus, das sei zur Vollständigkeit angemerkt. Es gibt doch diverse Beispiele, wo für die Zulassung eines Produkts eine Zertifizierungsstelle in einem EU-Land mit niedrigen Standards verwendet wird, für die Produktion das Land mit den niedrigsten Lohnkosten und für die Gewinne das Land mit den niedrigsten Steuersätzen. Das ist nicht der Binnenmarkt, den ich will!
http://www.mister-ede.de/politik/wettbewerbfaehigkeit-der-brd/2410
http://www.mister-ede.de/wirtschaft/taeuschung-der-relation/2377
Ich denke, das dürfte auch ein wesentlicher Grund für den Erfolg der Populisten sein. Gerade in der Euro-Krise hat sich doch gezeigt, wie sehr die EU-Politik eben nicht auf das gemeinschaftliche Interesse der europäischen Bürger, sondern auf die Interessen nationaler Eliten ausgerichtet ist. Programme zur Bankenrettung, aber nicht zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, eine EU-Politik zu Gunsten der Eliten und zu Lasten der Normalbürger, das war die Realität der letzten vier Jahre.
Und hier setzen die Populisten an, die nun einfach diese EU-Politik von Eliten für Eliten kritisieren und sich damit einen sozialen Anstrich geben können, mit dem sie auf Wählerfang gehen. In Deutschland muss dafür im Grunde die AfD nicht mal nationalistischer als die Union sein, nur eben mehr Sprachrohr für die Bürger als für die Wirtschaft. Und es zeigt sich ja, dass europaweit eben allgemein extreme Ansichten („Raus aus der EU“ [rechte Position], „Verstaatlichung der Finanzindustrie“ [linke Position]) massiv zugenommen haben und nicht nur spezifisch "rechte" Ansichten. Deshalb halte ich auch das Schielen nur auf die Faschisten nach der EU-Wahl (und auch schon davor) für falsch, denn die EU-Ablehnung schlägt sich deutlich breiter nieder, nicht nur rechts, sondern eben auch links. Weder die Rückkehr zum Nationalstaat, noch das Verbot sich wirtschaftlich zu betätigen, sind mit der europäischen Idee vereinbar.
P.S. (Klimapolitik): Was habe ich denn als Bürger davon, dass die Autoindustrie weiter Karossen mit hohem Schadstoffausstoß produzieren kann? Nix! Nutzt doch auch nur einer automobilproduzierenden Elite. Die Eigentümer von BMW werden davon mehr haben als die Arbeiter. Und in ganz Europa gelten jetzt laxere Richtwerte als vorgesehen. Das ist die reale EU-Politik.
@mister-ede: Das Problem, dass der Wettbewerb zwischen Staaten zu einem Absenken von sozialen und anderen Standardes führen kann, ist zweifellos real. Aber ich denke nicht, dass das allein eine Erklärung für den Aufschwung nationalpopulistischer Parteien ist. Denn die Antwort auf dieses Problem wäre ja eher ein Ausbau der europäischen Regulierung durch mehr gemeinsame Mindeststandards etwa im Sozial- oder Steuerbereich. (An anderer Stelle habe ich diesen Zusammenhang schon einmal als eines von drei möglichen Großnarrativen für mehr europäische Integration beschrieben.)
AntwortenLöschenWäre das tatsächlich das zentrale Argument, dann hätten die unzufriedenen Bürger also eher Sozialdemokraten oder Grüne wählen müssen, die in ihren Wahlprogrammen genau diese Art von sozial- und steuerpolitischen Mindeststandards gefordert haben. Nur offenbar haben viele Wähler das Vertrauen verloren, dass die gemäßigt-linken Parteien eine solche Politik auch tatsächlich durchsetzen könnten. Und ein zentraler Grund für diesen Vertrauensverlust dürften genau jene Kompromisszwänge sein, die ich in dem Artikel oben beschrieben habe.
@Manuel Müller (Teil 1): Der Wettbewerb unter den Staaten ist ein Problem, aber das ist es nicht was ich meine, zumindest nicht das alleine. Ich dachte ich hätte das gut beschrieben, aber anscheinend ist es doch nicht deutlich geworden.
LöschenFür mich spielen da mehrere Probleme zusammen:
1. Abkapselung einer wirtschaftlichen und politischen Elite (Stichwort: Lobbyismus, Hinterzimmer-Politik)
2. Ausgestaltung der EU im Interesse der wirtschaftlichen und politischen Eliten (Stichwort: Machtkonzentration bei den Regierungen, Konzentration der EU auf Binnenmarkt und Wirtschaftsunion)
3. Konfrontative Stellung der Staaten und Eliten (Stichwort: Wettbewerb um Standorte, Nationale Interessen [Auch Abseits des Standortwettbewerbs, z.B. bei der Flüchtlingsfrage])
Ich dachte Nr. 1 hätte ich mit dem Begriff „Elite“, der ja schon eine Abgrenzung darstellt, verdeutlicht. Da steckt z.B. drin, dass nicht alles was unsere Bundesregierung in Brüssel im Namen Deutschlands macht, auch im Interesse der deutschen Bürger ist. Mit der Beschreibung, dass die EU zurzeit nur diesen Eliten „nutzt“, war Nr. 2 gemeint, also diese Ausgestaltung im Sinne einer Wirtschaftsunion und die konfrontative Stellung (Nr. 3) findet sich unter anderem im Standortwettbewerb der Staaten.
[Anmerkung: Ich hatte schon gestern überlegt ob ich anmerken soll, dass ich mit „Elite“ eine andere „Elite“ meine als Sie in Ihrem Artikel. Ich hoffe das wurde deutlich. Dabei meine ich auch nicht eine einheitliche Elite. Ich würde einteilen in eine globale wirtschaftliche Elite (Goldman Sachs), nationale wirtschaftliche Eliten (z.B. deutsche Fleischproduzenten) und politische Eliten (vor Allem die 28 Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten]
Nicht nur der Wettbewerb der Staaten alleine, sondern (1), (2) und (3) zusammen sind für mich der wesentliche Grund dafür, dass die normalen Bürger weit weniger von der EU profitieren, als eben jene Eliten. Es ist der Grund dafür, dass die Bürger das Gefühl bekommen, keinen Einfluss mehr auf „die da oben“ zu haben, der Grund warum die wirtschaftlichen Perspektiven der normalen Bürger deutlich getrübt sind und der Grund dafür, dass die Verantwortlichen für eine Misere aus nationaler perspektive immer im Ausland sitzen.
Und dieses Zusammenspiel von Problemen ist es, was ich als Hauptgrund für den Aufstieg der Populisten bei der Europawahl aber auch den übrigen Wahlen in Europa sehe. Wohlgemerkt, das Problem ist real und darauf hinzuweisen weit entfernt von Populismus, allerdings Populisten setzen hier dann mit einer Art Dreiklang (Die anderen sind schuld, die anderen profitieren, du zahlst) an, auf den dann eine einfache Lösung („Raus aus dem Euro, der EU, der NATO, zurück zu D-Mark und Nationalstaat, Verstaatlichung der Wirtschaft usw.) folgt.
Im Übrigen können „die anderen“ dabei dann wahlweise die Elite oder die anderen EU-Mitgliedsstaaten sein, gerade wie man es braucht.
@Manuel Müller (Teil 2):
LöschenBeispiele:
1.) Bankenrettung (linkes und rechtes Thema):
Mal profitiert das Großkapital (Elite, eher linke Position), mal die Krisenstaaten (andere EU-Mitglieder, eher rechte Position) aber der Bürger muss doch immer leiden durch Arbeitslosigkeit (eher linke Position) oder niedrige Zinsen auf Sparguthaben (eher konservative Position).
Das zeigt sich dann auch in den Wahlergebnissen zur Europawahl. In den Staaten in denen Bankenpleiten eine wesentliche Rolle gespielt haben, wurden eher linke Parteien außerhalb des üblichen Spektrums gewählt, weil zwar Milliarden geflossen sind, die Bürger aber vor Allem Arbeitslosigkeit und Haushaltskürzungen wahrnehmen.
In den restlichen EU-Staaten wurden dafür eher rechte Parteien außerhalb des üblichen Spektrums gewählt, z.B. in Frankreich, das genauso wie Deutschland keine Hilfskredite in Anspruch nehmen musste.
2.) Migration (rechtes Thema):
Die Arbeitgeber (Elite) und die Zuwanderer (Menschen aus anderen EU-Mitgliedstaaten) profitieren. Laut Rechtspopulisten bleiben wieder die Bürger auf der Strecke. Kein AfDler würde einem erklären, dass ohne Arbeitnehmer aus dem EU-Ausland das deutsche Gesundheits- und Pflegewesen zusammenbrechen würde. Gerade in Frankreich und Großbritannien funktioniert das Spiel mit der Angst vor dem Auskauf der Grande Nation bzw. des Empires sehr gut. Die wirtschaftliche Situation erlaubt es den Populisten ja auch.
P.S. In allen Ländern, die Hilfskredite erhalten haben, sind die Linken Parteien (GUE/NGL) bei 20-35% der Sitze!! Ein weiterer Beleg dafür, dass es genau das zentrale Argument ist, weil die unzufriedenen Bürger explizit in diesen Ländern entsprechend links gewählt haben.
@Manuell Müller (Kompromisszwang): Kompromisse sind das Ziel von Demokratie. Will man sich nicht den Schädel einschlagen, muss man einen Ausgleich der Interessen finden - einen Kompromiss. Insofern stellt sich ja nur die Frage, welche Strukturen und Wege man findet, um einen solchen Kompromiss herbeizuführen. Ist ein gemeinsames Parlament der richtige Ort, oder die Ansammlung der 28 Regierungen in den Räten?
AntwortenLöschenVielleicht meinen Sie mit dem Kompromisszwang auch eher diese derzeitige Struktur der Kompromissfindung und nicht den Interessensausgleich als solchen. Da würde ich dann voll zustimmen.
Wobei wir dann aber wieder bei der Frage der Ausgestaltung der EU sind, bei der ich ja schon beschrieben habe, dass ich da das Problem sehe, dass sie speziell einer Elite nutzt. Wem nützt denn die Einstimmigkeit bei vielen Entscheidungen, die es den nationalen Wirtschaftseliten ermöglichen ihre Pfründe mit Hilfe der nationalen Regierung zu verteidigen?