17 Juni 2014

„Wenn es in Europa nur um Märkte geht, werden wir nie die Vorstellung eines gemeinsamen Schicksals entwickeln“: Ein Interview mit Colin Crouch

Colin Crouch.
D(e)F: Wenn Sie eines an der Funktionsweise der EU ändern könnten, was wäre es?

Colin Crouch: Was an der Funktionsweise der EU derzeit am dringendsten geändert werden muss, ist ihr Fokus auf eine rein märkteschaffende Agenda und ihre daraus folgende Vernachlässigung der ausgleichenden Sozialagenda, die dafür notwendig ist.

D(e)F: Wie würde eine solche ausgleichende Sozialpolitik aussehen? Könnten Sie einige konkrete Maßnahmen nennen, die Ihrer Meinung nach helfen würden, um zu einer ausgewogeneren Agenda zu gelangen?

CC: Als Erstes müssten wir anerkennen, dass wir, wann immer wir Märkte schaffen (was wir im Sinne einer verbesserten Effizienz häufig tun müssen), auch Schaden anrichten – Umweltschäden sind der offensichtlichste Fall, ein anderes Beispiel ist der erhöhte Stress, den härtere Arbeitsregimes im Leben der Menschen auslösen. Manchmal muss dieser Schaden einfach akzeptiert werden; manchmal sollten wir den Geschädigten Ausgleichsleistungen bieten; manchmal ist der Schaden so groß, dass die Marktaktivität reguliert werden muss. Manchmal ist auch für das Märkte-Schaffen selbst die Unterstützung von nicht marktbestimmten Institutionen erforderlich.

Eine kompensierende Sozialagenda

Dies wurde in früheren Phasen der Europäisierung durchaus anerkannt – zum Beispiel im Fall der Sozialcharta, die den Vertrag von Maastricht begleitete, oder zu Beginn dieses Jahrhunderts bei dem Bemühen, Arbeitsmarktflexibilität mit neuen Formen von Arbeitssicherheit zu verbinden. Derzeit aber drängen die europäischen Politikgestalter auf eine Intensivierung der Märkte, ohne sich sehr um die Folgen zu kümmern – wie die Behandlung der arbeitenden Bevölkerung in Griechenland, den anderen südeuropäischen Ländern und Irland zeigt.

Der wichtigste Schritt in eine andere Richtung wäre eine europäische Strategie für einen sozial investierenden Wohlfahrtsstaat. Diese Idee, die von Wissenschaftlern in mehreren westeuropäischen Ländern ausgearbeitet wurde, verbindet die traditionellen Funktionen der Sozialpolitik mit dem positiven Beitrag, den sie für die wirtschaftliche Effizienz leisten kann. Dies würde zweifellos Veränderungen für die konservativeren Wohlfahrtssysteme in Europa bedeuten, aber durch eine konstruktive Stärkung anstelle der Zerstörung, die die heutigen EU-Politiktrends verbreiten.

Eine europäische Strategie für Sozialinvestitionen

D(e)F: Der Kerngedanke des Sozialinvestitions-Ansatzes ist, den Gegensatz zwischen sozialer Gleichheit und wirtschaftlichem Wachstum zu überwinden. Durch den Fokus auf neue Formen der Sozialpolitik, die soziale Inklusion, Beschäftigungsfähigkeit und „Flexicurity“ verbessern sollen, versucht er beide Ziele miteinander in Einklang zu bringen. Soziale Investitionen setzen jedoch einen aktiven Staat und umfangreiche öffentliche Ausgaben voraus, zum Beispiel für Bildung und Berufsausbildung. Sollten diese öffentlichen Ausgaben Ihrer Meinung nach auf europäischer Ebene erfolgen, was ein deutlich höheres EU-Budget erforderlich machen würde? Oder sollte die EU eher auf ihre bestehenden Instrumente wie das Europäische Semester setzen, um ihre Mitgliedstaaten zu einer aktiveren Sozialpolitik auf nationaler Ebene zu bewegen?

CC: Ich denke, wir benötigen eine Kombination beider Ansätze. Zum einen muss die EU (wie Sie sagen) den Sozialinvestitionsansatz mit den existierenden Instrumenten empfehlen, aber auch sicherstellen, dass nicht andere Elemente der Europapolitik – wie die Generaldirektion Wettbewerb oder der Europäische Gerichtshof – die Sozialpolitik unterminieren und die Sozialinvestitionsstrategie verhindern. Soziale Investitionen, nicht die bloße Zerstörung existierender Sozialpolitiken muss die Aufgabe sein, die Ländern wie Griechenland gestellt wird, welche Hilfe von den europäischen Institutionen benötigen. Viel davon dreht sich um die Neuausrichtung von existierenden Staatsausgaben, aber auch zusätzliche Ausgaben können notwendig sein, wo diese durch Steuererhöhungen finanziert werden können – besonders in solchen Ländern, in denen die Besteuerung derzeit nur zu wenig Umverteilung führt.

Darüber hinaus ist es aber auch nötig, Fonds für soziale Investitionen auf europäischer Ebene einzurichten – wobei schon viel erreicht werden könnte, indem man Ausgaben für einige derzeitige Programme umleitet, die wohl einen geringeren sozialen und wirtschaftlichen Wert haben als soziale Investitionen. Die Entwicklung eines einheitlichen europäischen Marktes und das Niveau politischer Integration, das wir bereits haben, macht ein ähnliches Wachstum auch bei den europäischen Bürgerrechten erforderlich. Andernfalls werden die Europäer aufhören, sich mit dem europäischen Projekt zu identifizieren. Derzeit gibt es sehr wenig, worauf man zeigen und sagen könnte: „Ich habe einen Anspruch darauf, weil ich ein Bürger der EU bin.“ Rechte, die auf den Leitgedanken der Sozialinvestitionsstrategie beruhen, könnten eine moderne Form von Sozialpolitik sein, die für diesen Zweck sehr geeignet ist.

Europas Persönlichkeitsspaltung

D(e)F: Wie Sie vorhin erwähnten, konzentrierten sich die Strukturreformen, die die EU in Griechenland und anderen von der Eurozone betroffenen Staaten vorantrieb, einseitig auf das Schaffen von Märkten und vernachlässigten die soziale Dimension. In der Europa-2020-Strategie, die der Europäische Rat im Juni 2010 verabschiedete, finden sich allerdings einige Sozialinvestitionsziele – wie eine geringere Schulabbrecherrate oder eine niedrigere Anzahl an Europäern, die in Armut leben – in durchaus prominenter Form. Was sind die Gründe für diesen Gegensatz zwischen offizieller Rhetorik und konkreter Politik? Oder, anders gefragt: Welche Hindernisse gibt es, um eine sozial ausgewogenere Agenda wirklich umzusetzen?

CC: Das Projekt der europäischen Integration hat eine Art gespaltene Persönlichkeit – das war schon immer so, aber heute ist eine ihrer schwierigeren Phasen. Das Hauptaugenmerk europäischer Politik lag seit jeher auf dem Schaffen von Märkten, was kein Geheimnis ist und ein wertvolles Projekt darstellt. Daneben aber gab es von Anfang an die Idee einer immer engeren Union. Dies umfasst hauptsächlich die Sozialpolitik – nicht nur auf der europäischen Politikebene, sondern auch in Form von Harmonisierung und wechselseitiger Anerkennung – und auch andere Symbole einer gemeinsamen Bürgerschaft.

Und die Vision der EU-Gründer, beide Ziele zu verbinden, war richtig. Wenn es in Europa nur um Märkte geht, werden wir niemals die Vorstellung eines gemeinsamen Schicksals der europäischen Menschen entwickeln, die notwendig ist, wenn wir nationale Antagonismen begrenzen und in den Beziehungen zu anderen mächtigen Weltregionen zusammenarbeiten wollen. Um zu sehen, was passiert, wenn die Anführer eines Landes das europäische Projekt immer nur als eine Art Freihandelsabkommen beschreiben, muss man nur in das Vereinigte Königreich blicken, das derzeit in Gefahr ist, von einer Stimmung populistischer Fremdenfeindlichkeit zu einem EU-Austritt gedrängt zu werden, obwohl die Mehrheit der Politiker des Landes verstehen, dass wir ein Teil Europas sein müssen!

Eine intolerante Form des Neoliberalismus

Die Persönlichkeitsspaltung der EU gewinnt zunehmend an Bedeutung, was an dem wachsenden Einfluss einer intoleranten Form des Neoliberalismus sowohl auf Ebene der EU als auch vieler ihrer Mitgliedstaaten liegt. Als der wichtigste politische Konflikt noch zwischen der Christdemokratie bzw. einem moderaten liberalen Konservatismus einerseits und der Sozialdemokratie andererseits ausgetragen wurde, gab es viel Spielraum für Kompromisse. Konservative waren eher marktfreundlich, aber sie akzeptierten die Rolle der Sozialpolitik; Sozialdemokraten kümmerten sich hauptsächlich darum, die Rolle der Sozialpolitik auszubauen, aber sie akzeptierten die Bedeutung der Marktwirtschaft.

Doch seit der moderate Konservatismus durch einen aggressiven Neoliberalismus abgelöst wird, gibt es (in der EU und in einzelnen Staaten) Bewegungen, die Sozialpolitik abzubauen, zu vermarktlichen und zu privatisieren. Einige der damit verbundenen politischen Zielsetzungen bleiben zwar erhalten, aber sie werden von der vorherrschenden Ausrichtung auf das Schaffen von Märkten konterkariert und ignoriert. Dies ist die Situation, in der wir uns jetzt befinden, und sie ist voll von Widersprüchen.

Internationale Technokraten und soziale Ungleichheit

D(e)F: Viele wichtige soziale Errungenschaften der Vergangenheit erfolgten in den 1960er und 1970er Jahren, die oft als die Blütezeit der nationalstaatlichen Demokratie betrachtet werden. Der Aufstieg des Neoliberalismus in den 1980ern und 1990ern hingegen wird oft mit der Globalisierung und dem wachsenden Einfluss von technokratischen internationalen Organisationen in Verbindung gebracht – so wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der Weltbank mit ihrem strikt marktorientierten „Washington Consensus“.

Doch die harten Sparmaßnahmen in der Eurokrise wurden von den demokratisch gewählten Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat beschlossen, während der IWF-Chefökonom Olivier Blanchard seit Ende 2012 starke Zweifel an dieser Strategie zum Ausdruck brachte. Vor kurzem veröffentlichte der IWF sogar eine Studie (Wortlaut), in der er staatliche Umverteilungsmaßnahmen rechtfertigte, um die negativen Auswirkungen sozialer Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum zu begrenzen. Treten wir in eine Phase ein, in der internationale Technokraten sich mehr Sorgen um soziale Ungleichheit machen als gewählte nationale Regierungen? Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Sozialpolitik und Demokratie heute?

CC: Sie werfen hier eine ausgezeichnete Frage auf, aber ich bin mir nicht sicher, ob Sie ganz Recht haben. Die Sparmaßnahmen wurden teilweise vom Europäischen Rat ausgearbeitet, aber auch von der Europäischen Zentralbank und dem IWF. Der IWF entwickelt hier also eine Art Persönlichkeitsspaltung. Vielleicht noch wichtiger ist, dass die sogenannte Troika (Europäische Kommission, EZB, IWF) in Wirklichkeit noch ein viertes Bein hatte: eine Gruppe, die die privaten Banken repräsentierte, die den Krisenstaaten Geld geliehen hatten. Sie waren es, die mit den Bailout-Programmen wirklich gerettet wurden, nicht die Bevölkerung der betroffenen Staaten. Dieser Umstand wird nur selten erwähnt, wie auch die Existenz dieses „vierten Beins“.

Ist das vielleicht der Schlüssel zu Ihrer Frage? Wenn Institutionen wie der IWF oder die OECD allgemeine Berichte schreiben, kommen sie zu den Schlussfolgerungen, die ihre Technokraten für richtig halten. Wenn es aber um reales Handeln geht, ob durch demokratische Regierungen oder irgendjemanden sonst, machen sich die Unternehmerlobbies an die Arbeit und stellen sicher, dass die Antworten ihren Interessen entsprechen.

Nach der Europawahl

D(e)F: Die Europawahlen, die vor kurzem stattgefunden haben, wurden vor allem als ein Sieg europaskeptischer und rechtspopulistischer Parteien wahrgenommen. Sie brachten aber auch Zugewinne für die Europäische Linkspartei, deren Fraktion GUE/NGL von 35 auf etwa 50 Mitglieder wachsen wird. Zudem haben Christdemokraten und Liberale schwere Verluste erlitten, während die Sozialdemokraten ihre Sitzzahl in etwa halten konnten. Denken Sie, dass diese Gleichgewichtsverschiebung Auswirkungen auf die europäische Sozialpolitik haben wird? Welche Erwartungen haben Sie für die nächsten fünf Jahre?

CC: Sie machen da eine sehr interessante Beobachtung, dass die Christdemokraten (und verwandten Parteien) und die Liberalen den schwersten Schlag einstecken mussten. Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass der Schwung zur extremen Rechten hauptsächlich in wohlhabenden Ländern des Nordwestens stattfand: Österreich, Dänemark, Frankreich, Großbritannien – nicht in den Südländern, die am meisten unter der Sparpolitik gelitten hatten. Dort war die Verschiebung eher nach links. Dies deutet stark darauf hin, dass der Hauptgrund des Rechtsrucks Feindseligkeit gegenüber der Einwanderung war, da Einwanderer hauptsächlich in die wohlhabenden Länder gehen.

Das macht die wahrscheinliche Reaktion der Politik sehr komplex. Einerseits könnte das Wahlergebnis dazu führen, dass die Lage der Arbeitnehmer, die womöglich – zu Unrecht – die Einwanderer als Grund für ihre Unsicherheit ansehen, ernster genommen wird. Dies würde eine stärkere europäische Sozialpolitik bedeuten. Demgegenüber wird für die sozialdemokratischen Parteien aber auch die Versuchung groß sein, sich der Anti-Einwanderer-Linie der politischen Rechten anzuschließen. Diese Tendenz wird noch durch die größere argumentative Präsenz der britischen Europaskeptiker gestärkt, denen zufolge es weniger, nicht mehr europäische Sozialpolitik geben sollte. Es gibt also viel, worum es sich in den nächsten Monaten und Jahren zu kämpfen lohnt!

Colin Crouch ist Professor Emeritus der University of Warwick und Vizepräsident für Sozialwissenschaften der British Academy. Mit seinen Büchern „Postdemokratie“ (2008), „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ (2011) und „Jenseits des Neoliberalismus“ (2013) wurde er einem breiten Publikum als einer der herausragendsten intellektuellen Kritiker des Neoliberalismus und Fürsprecher einer „durchsetzungsfähigen Sozialdemokratie“ bekannt.

Dieses Interview wurde im April/Mai 2014 per E-Mail geführt.

Bild: By Niccolò Caranti (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons.

1 Kommentar:

  1. Gut ausgewähltes Interview, passt ja perfekt! Was ich nun mit dem "Kernproblem" meinte, lässt sich in der daraus resultierenden Fragen darstellen. Wieso ist die EU so ausgestaltet, wenn die Verwerfungen, die dadurch entstehen, weithin bekannt sind? Und hier komme ich zum Schluss, dass dies mit einer Art Abkapselung der wirtschaftlichen und politischen Eliten zu tun hat. Die politische europäische Elite sind die nationalen Regierungen und denen nutzt diese Ausgestaltung genauso wie der wirtschaftlichen Elite, die Staaten gegeneinander leicht ausspielen kann.

    Hierin liegt für mich das Kernproblem. Noch fehlen mir die Worte dafür, aber eine Art System, welches der Profiteur des Systems für sich selbst gestaltet hat und gestalten kann.(Vielleicht wird es: "Europarchie")

    P.S. Den Begriff "aktiver Staat" finde ich super. Habe vor kurzem ein Synonym für "starken Staat" gesucht, da ich lediglich höhere Staatsinvestitionen und nicht mehr Wasserwerfer und Videoüberwachung meinte. "Aktiver Staat" wäre passend gewesen.

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