D(e)F: Wenn Sie eines an der Funktionsweise der EU ändern könnten, was wäre
es?
Colin Crouch: Was an der Funktionsweise der EU derzeit am dringendsten
geändert werden muss, ist ihr Fokus auf eine rein märkteschaffende Agenda und
ihre daraus folgende Vernachlässigung der ausgleichenden Sozialagenda, die
dafür notwendig ist.
D(e)F: Wie
würde eine solche ausgleichende Sozialpolitik aussehen? Könnten Sie einige
konkrete Maßnahmen nennen, die Ihrer Meinung nach helfen würden, um zu einer
ausgewogeneren Agenda zu gelangen?
CC: Als Erstes müssten wir anerkennen, dass wir, wann immer wir Märkte
schaffen (was wir im Sinne einer verbesserten Effizienz häufig tun müssen),
auch Schaden anrichten – Umweltschäden sind der offensichtlichste Fall, ein
anderes Beispiel ist der erhöhte Stress, den härtere Arbeitsregimes im Leben
der Menschen auslösen. Manchmal muss dieser Schaden einfach akzeptiert werden;
manchmal sollten wir den Geschädigten Ausgleichsleistungen bieten; manchmal ist
der Schaden so groß, dass die Marktaktivität reguliert werden muss. Manchmal
ist auch für das Märkte-Schaffen selbst die Unterstützung von nicht
marktbestimmten Institutionen erforderlich.
Eine
kompensierende Sozialagenda
Dies wurde in früheren Phasen der Europäisierung durchaus anerkannt –
zum Beispiel im Fall der Sozialcharta, die den Vertrag von Maastricht
begleitete, oder zu Beginn dieses Jahrhunderts bei dem Bemühen,
Arbeitsmarktflexibilität mit neuen Formen von Arbeitssicherheit zu verbinden.
Derzeit aber drängen die europäischen Politikgestalter auf eine Intensivierung
der Märkte, ohne sich sehr um die Folgen zu kümmern – wie die Behandlung der
arbeitenden Bevölkerung in Griechenland, den anderen südeuropäischen Ländern
und Irland zeigt.
Der wichtigste Schritt in eine andere Richtung wäre eine europäische
Strategie für einen sozial investierenden Wohlfahrtsstaat. Diese Idee, die von
Wissenschaftlern in mehreren westeuropäischen Ländern ausgearbeitet wurde,
verbindet die traditionellen Funktionen der Sozialpolitik mit dem positiven
Beitrag, den sie für die wirtschaftliche Effizienz leisten kann. Dies würde
zweifellos Veränderungen für die konservativeren Wohlfahrtssysteme in Europa
bedeuten, aber durch eine konstruktive Stärkung anstelle der Zerstörung, die
die heutigen EU-Politiktrends verbreiten.
Eine
europäische Strategie für Sozialinvestitionen
CC: Ich
denke, wir benötigen eine Kombination beider Ansätze. Zum einen muss die EU
(wie Sie sagen) den Sozialinvestitionsansatz mit den existierenden Instrumenten
empfehlen, aber auch sicherstellen, dass nicht andere Elemente der
Europapolitik – wie die Generaldirektion Wettbewerb oder der Europäische
Gerichtshof – die Sozialpolitik unterminieren und die
Sozialinvestitionsstrategie verhindern. Soziale Investitionen, nicht die bloße
Zerstörung existierender Sozialpolitiken muss die Aufgabe sein, die Ländern wie
Griechenland gestellt wird, welche Hilfe von den europäischen Institutionen
benötigen. Viel davon dreht sich um die Neuausrichtung von existierenden
Staatsausgaben, aber auch zusätzliche Ausgaben können notwendig sein, wo diese
durch Steuererhöhungen finanziert werden können – besonders in solchen Ländern,
in denen die Besteuerung derzeit nur zu wenig Umverteilung führt.
Darüber hinaus
ist es aber auch nötig, Fonds für soziale Investitionen auf europäischer Ebene
einzurichten – wobei schon viel erreicht werden könnte, indem man Ausgaben für
einige derzeitige Programme umleitet, die wohl einen geringeren sozialen und
wirtschaftlichen Wert haben als soziale Investitionen. Die Entwicklung eines
einheitlichen europäischen Marktes und das Niveau politischer Integration, das
wir bereits haben, macht ein ähnliches Wachstum auch bei den europäischen
Bürgerrechten erforderlich. Andernfalls werden die Europäer aufhören, sich mit
dem europäischen Projekt zu identifizieren. Derzeit gibt es sehr wenig, worauf
man zeigen und sagen könnte: „Ich habe einen Anspruch darauf, weil ich ein
Bürger der EU bin.“ Rechte, die auf den Leitgedanken der Sozialinvestitionsstrategie
beruhen, könnten eine moderne Form von Sozialpolitik sein, die für diesen Zweck
sehr geeignet ist.
Europas
Persönlichkeitsspaltung
D(e)F: Wie Sie vorhin erwähnten,
konzentrierten sich die Strukturreformen, die die EU in Griechenland und
anderen von der Eurozone betroffenen Staaten vorantrieb, einseitig auf das
Schaffen von Märkten und vernachlässigten die soziale Dimension. In der Europa-2020-Strategie, die der Europäische Rat im Juni
2010 verabschiedete, finden sich allerdings einige Sozialinvestitionsziele –
wie eine geringere Schulabbrecherrate oder eine niedrigere Anzahl an Europäern,
die in Armut leben – in durchaus prominenter Form. Was sind die Gründe für
diesen Gegensatz zwischen offizieller Rhetorik und konkreter Politik? Oder,
anders gefragt: Welche Hindernisse gibt es, um eine sozial ausgewogenere Agenda
wirklich umzusetzen?
CC: Das
Projekt der europäischen Integration hat eine Art gespaltene Persönlichkeit –
das war schon immer so, aber heute ist eine ihrer schwierigeren Phasen. Das
Hauptaugenmerk europäischer Politik lag seit jeher auf dem Schaffen von
Märkten, was kein Geheimnis ist und ein wertvolles Projekt darstellt. Daneben
aber gab es von Anfang an die Idee einer immer engeren Union. Dies umfasst
hauptsächlich die Sozialpolitik – nicht nur auf der europäischen Politikebene,
sondern auch in Form von Harmonisierung und wechselseitiger Anerkennung – und
auch andere Symbole einer gemeinsamen Bürgerschaft.
Und die Vision
der EU-Gründer, beide Ziele zu verbinden, war richtig. Wenn es in Europa nur um Märkte geht, werden wir niemals die Vorstellung eines gemeinsamen Schicksals
der europäischen Menschen entwickeln, die notwendig ist, wenn wir nationale
Antagonismen begrenzen und in den Beziehungen zu anderen mächtigen Weltregionen
zusammenarbeiten wollen. Um zu sehen, was passiert, wenn die Anführer eines
Landes das europäische Projekt immer nur als eine Art Freihandelsabkommen
beschreiben, muss man nur in das Vereinigte Königreich blicken, das derzeit in
Gefahr ist, von einer Stimmung populistischer Fremdenfeindlichkeit zu einem
EU-Austritt gedrängt zu werden, obwohl die Mehrheit der Politiker des Landes
verstehen, dass wir ein Teil Europas sein müssen!
Eine intolerante
Form des Neoliberalismus
Die
Persönlichkeitsspaltung der EU gewinnt zunehmend an Bedeutung, was an dem
wachsenden Einfluss einer intoleranten Form des Neoliberalismus sowohl auf
Ebene der EU als auch vieler ihrer Mitgliedstaaten liegt. Als der wichtigste
politische Konflikt noch zwischen der Christdemokratie bzw. einem moderaten
liberalen Konservatismus einerseits und der Sozialdemokratie andererseits
ausgetragen wurde, gab es viel Spielraum für Kompromisse. Konservative waren
eher marktfreundlich, aber sie akzeptierten die Rolle der Sozialpolitik; Sozialdemokraten
kümmerten sich hauptsächlich darum, die Rolle der Sozialpolitik auszubauen,
aber sie akzeptierten die Bedeutung der Marktwirtschaft.
Doch seit
der moderate Konservatismus durch einen aggressiven Neoliberalismus abgelöst
wird, gibt es (in der EU und in einzelnen Staaten) Bewegungen, die
Sozialpolitik abzubauen, zu vermarktlichen und zu privatisieren. Einige der damit
verbundenen politischen Zielsetzungen bleiben zwar erhalten, aber sie werden
von der vorherrschenden Ausrichtung auf das Schaffen von Märkten konterkariert
und ignoriert. Dies ist die Situation, in der wir uns jetzt befinden, und sie
ist voll von Widersprüchen.
Internationale
Technokraten und soziale Ungleichheit
D(e)F: Viele wichtige soziale
Errungenschaften der Vergangenheit erfolgten in den 1960er und 1970er Jahren,
die oft als die Blütezeit der nationalstaatlichen Demokratie betrachtet werden.
Der Aufstieg des Neoliberalismus in den 1980ern und 1990ern hingegen wird oft
mit der Globalisierung und dem wachsenden Einfluss von technokratischen
internationalen Organisationen in Verbindung gebracht – so wie dem
Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der Weltbank mit ihrem strikt
marktorientierten „Washington
Consensus“.
Doch die harten Sparmaßnahmen in der
Eurokrise wurden von den demokratisch gewählten Staats- und Regierungschefs im
Europäischen Rat beschlossen, während der IWF-Chefökonom Olivier Blanchard seit
Ende 2012 starke Zweifel an dieser Strategie zum
Ausdruck brachte. Vor kurzem veröffentlichte der IWF sogar eine Studie (Wortlaut), in der er staatliche
Umverteilungsmaßnahmen rechtfertigte, um die negativen Auswirkungen sozialer
Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum zu begrenzen. Treten wir in eine Phase
ein, in der internationale Technokraten sich mehr Sorgen um soziale Ungleichheit
machen als gewählte nationale Regierungen? Wie sehen Sie das Verhältnis
zwischen Sozialpolitik und Demokratie heute?
CC: Sie werfen
hier eine ausgezeichnete Frage auf, aber ich bin mir nicht sicher, ob Sie ganz Recht
haben. Die Sparmaßnahmen wurden teilweise vom Europäischen Rat ausgearbeitet,
aber auch von der Europäischen Zentralbank und dem IWF. Der IWF entwickelt hier
also eine Art Persönlichkeitsspaltung. Vielleicht noch wichtiger ist, dass die
sogenannte Troika (Europäische Kommission, EZB, IWF) in Wirklichkeit noch ein
viertes Bein hatte: eine Gruppe, die die privaten Banken repräsentierte, die
den Krisenstaaten Geld geliehen hatten. Sie waren es, die mit den
Bailout-Programmen wirklich gerettet wurden, nicht die Bevölkerung der
betroffenen Staaten. Dieser Umstand wird nur selten erwähnt, wie auch die
Existenz dieses „vierten Beins“.
Ist das
vielleicht der Schlüssel zu Ihrer Frage? Wenn Institutionen wie der IWF oder
die OECD allgemeine Berichte schreiben, kommen sie zu den Schlussfolgerungen, die
ihre Technokraten für richtig halten. Wenn es aber um reales Handeln geht, ob
durch demokratische Regierungen oder irgendjemanden sonst, machen sich die
Unternehmerlobbies an die Arbeit und stellen sicher, dass die Antworten ihren
Interessen entsprechen.
Nach der
Europawahl
D(e)F: Die Europawahlen, die vor kurzem
stattgefunden haben, wurden vor allem als ein Sieg europaskeptischer und
rechtspopulistischer Parteien wahrgenommen. Sie brachten aber auch Zugewinne
für die Europäische Linkspartei, deren Fraktion GUE/NGL von 35 auf etwa 50
Mitglieder wachsen wird. Zudem haben Christdemokraten
und Liberale schwere Verluste erlitten, während die Sozialdemokraten ihre
Sitzzahl in etwa halten konnten. Denken Sie, dass diese
Gleichgewichtsverschiebung Auswirkungen auf die europäische Sozialpolitik haben
wird? Welche Erwartungen haben Sie für die nächsten fünf Jahre?
CC: Sie
machen da eine sehr interessante Beobachtung, dass die Christdemokraten (und
verwandten Parteien) und die Liberalen den schwersten Schlag einstecken
mussten. Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass der Schwung zur extremen Rechten
hauptsächlich in wohlhabenden Ländern des Nordwestens stattfand: Österreich,
Dänemark, Frankreich, Großbritannien – nicht in den Südländern, die am meisten
unter der Sparpolitik gelitten hatten. Dort war die Verschiebung eher nach
links. Dies deutet stark darauf hin, dass der Hauptgrund des Rechtsrucks Feindseligkeit
gegenüber der Einwanderung war, da Einwanderer hauptsächlich in die
wohlhabenden Länder gehen.
Das macht
die wahrscheinliche Reaktion der Politik sehr komplex. Einerseits könnte das
Wahlergebnis dazu führen, dass die Lage der Arbeitnehmer, die womöglich – zu
Unrecht – die Einwanderer als Grund für ihre Unsicherheit ansehen, ernster
genommen wird. Dies würde eine stärkere europäische Sozialpolitik bedeuten.
Demgegenüber wird für die sozialdemokratischen Parteien aber auch die
Versuchung groß sein, sich der Anti-Einwanderer-Linie der politischen Rechten anzuschließen.
Diese Tendenz wird noch durch die größere argumentative Präsenz der britischen
Europaskeptiker gestärkt, denen zufolge es weniger, nicht mehr europäische
Sozialpolitik geben sollte. Es gibt also viel, worum es sich in den nächsten
Monaten und Jahren zu kämpfen lohnt!
Colin Crouch ist Professor Emeritus der University of Warwick und Vizepräsident für Sozialwissenschaften der British Academy. Mit seinen Büchern „Postdemokratie“ (2008), „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ (2011) und „Jenseits des Neoliberalismus“ (2013) wurde er einem breiten Publikum als einer der herausragendsten intellektuellen Kritiker des Neoliberalismus und Fürsprecher einer „durchsetzungsfähigen Sozialdemokratie“ bekannt.
Dieses Interview wurde im April/Mai 2014 per E-Mail geführt.
Dieses Interview wurde im April/Mai 2014 per E-Mail geführt.
Bild: By Niccolò Caranti (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons.
Gut ausgewähltes Interview, passt ja perfekt! Was ich nun mit dem "Kernproblem" meinte, lässt sich in der daraus resultierenden Fragen darstellen. Wieso ist die EU so ausgestaltet, wenn die Verwerfungen, die dadurch entstehen, weithin bekannt sind? Und hier komme ich zum Schluss, dass dies mit einer Art Abkapselung der wirtschaftlichen und politischen Eliten zu tun hat. Die politische europäische Elite sind die nationalen Regierungen und denen nutzt diese Ausgestaltung genauso wie der wirtschaftlichen Elite, die Staaten gegeneinander leicht ausspielen kann.
AntwortenLöschenHierin liegt für mich das Kernproblem. Noch fehlen mir die Worte dafür, aber eine Art System, welches der Profiteur des Systems für sich selbst gestaltet hat und gestalten kann.(Vielleicht wird es: "Europarchie")
P.S. Den Begriff "aktiver Staat" finde ich super. Habe vor kurzem ein Synonym für "starken Staat" gesucht, da ich lediglich höhere Staatsinvestitionen und nicht mehr Wasserwerfer und Videoüberwachung meinte. "Aktiver Staat" wäre passend gewesen.