Einer der Effekte der spektakulären
Irrlichterei des britischen Premierministers auf dem vergangenen Europäischen Rat war, dass sich ein Großteil der öffentlichen Meinungsbildung in den
letzten Tagen auf die Zukunft einer „EU der 26“ (bzw. der 27,
einschließlich Kroatien) konzentrierte. Das ist schade, denn der
britische Alleingang war das weniger bedeutungsvolle Ereignis des
Gipfels. Wenn die britische Regierung sich weigert, einen Vertrag zu
unterzeichnen, der nur auf die Mitgliedstaaten der Eurozone
Auswirkungen hat, dann bestätigt sie damit nur, dass sie nicht
vorhat, in absehbarer Zeit das Pfund abzuschaffen. Und sollte Großbritannien,
nach Ende der gegenwärtigen Krise und Abwahl der Regierung Cameron,
doch einmal beschließen, den Euro einzuführen, dann wird
es eben auch dem jetzt diskutierten Zusatzvertrag noch
beitreten müssen. Cameron isoliert sein Land und schadet sich damit
selbst, aber letztlich wird er Episode bleiben. Hingegen wird die auf
dem Gipfel beschlossene Schuldenbremse von 0,5 Prozent des BIP, wenn sie denn umgesetzt wird, für
alle Eurozonenstaaten eine dauerhafte Realität werden. Und das ist keine gute Nachricht, denn
der beschlossene Mechanismus ist nicht nur keine „Fiskalunion“
(Kevin O‘Rourke nennt diese Begriffsverwendung mit Recht „a near-Orwellian abuse of language“), sondern auch
ineffizient, undemokratisch, unglaubwürdig und unsolidarisch.
Die Schuldenbremse ist ineffizient
Welches das wirtschaftlich beste Ausmaß
der öffentlichen Neuverschuldung ist, ist nicht einfach zu bestimmen
und unter den verschiedenen ökonomischen Theorien umstritten.
Während eine Minderheit der neuklassischen Schule den Staat am
liebsten ganz aus dem Wirtschaftsgeschehen heraushalten würde und
deshalb öffentliche Schulden komplett ablehnt, geht die große
Mehrheit jedoch davon aus, dass staatliche Investitionen sinnvoll
sind, um der Gesellschaft bestimmte öffentliche Güter zur Verfügung
zu stellen (typisches Beispiel sind der Bau von Straßen und
Schulen), und dass der Staat sich dafür auch verschulden sollte, da
die gebauten Straßen ja erst in Zukunft einen wirtschaftlichen
Nutzen bringen, sodass es sich lohnt, auch die Kosten dafür
entsprechend über die Zeit zu strecken. Aufgrund des
Wirtschaftswachstums, das durch solche Investitionen entsteht, kann
ein derartiges strukturelles Defizit auch durchaus nachhaltig sein:
Solange es nicht höher liegt als das Wachstum des
Bruttoinlandsprodukts, verändert sich der Gesamtschuldenstand des
Staates dadurch nicht.
Für die optimale strukturelle
Neuverschuldung lässt sich deshalb keine genaue Zahl, sondern
lediglich ein Korridor angeben: Die Untergrenze liegt bei Null, da es
offensichtlich sinnlos ist, wenn der Staat dauerhaft Überschüsse
erwirtschaftet. Die Obergrenze hingegen ergibt sich aus dem nominalen Wirtschaftswachstum, das der Summe aus langfristiger Inflation (dem Inflationsziel der EZB zufolge 2%) und
langfristigem Realwachstum (das sich aus dem technischen Fortschritt
ergibt und üblicherweise mit 1 bis 1,5% beziffert wird) entspricht: insgesamt
also etwa 3 bis 3,5 Prozent des BIP. Damit das Verhältnis zwischen Gesamtschulden und Bruttoinlandsprodukt nachhaltig gleich bleibt, darf die Neuverschuldung also 3 bis 3,5 Prozent des Altschuldenstands betragen. Dies ist, wohlgemerkt, die
strukturelle Neuverschuldung
über den gesamten Konjunkturzyklus hinweg; solange sie in Boomzeiten
niedriger ist, kann sie während akuten Krisen durchaus auch einmal
höher sein, ohne dass der strukturelle Gesamtschuldenstand steigt.
Der
neue EU-Vertrag nun fordert von den Mitgliedstaaten nationale
Schuldenbremsen, durch die das strukturelle Defizit auf 0,5 Prozent
des BIP begrenzt wird. Dieser Wert liegt innerhalb des genannten Korridors,
aber nah am unteren Rand, und damit sehr wahrscheinlich unterhalb
dessen, was für die wirtschaftliche Entwicklung der Eurozone optimal
wäre. Wenn das strukturelle Defizit nur ein knappes Sechstel des langfristigen nominalen Wirtschaftswachstums beträgt, dann wird der Gesamtschuldenstand der Mitgliedstaaten strukturell absinken, bis er etwa 15 Prozent des BIP beträgt. Man muss schon einer sehr staatsfeindlichen Wirtschaftsideologie anhängen, um das für effizient zu halten.
Die
Schuldenbremse ist undemokratisch
Wenn
unterschiedliche wirtschaftliche Theorien zu unterschiedlichen
Politikempfehlungen führen, die jeweils mit bestimmten Risiken
verbunden sind, gibt es ein althergebrachtes Mittel, um diesen Konflikt zu lösen: Man befragt die
Bevölkerung darüber, welchen Weg sie bevorzugt, und überträgt
damit die Verantwortung für die Entscheidung denjenigen, die
letztlich davon betroffen sind. Selbst wenn die Bevölkerung
dann einen Weg wählt, der sich im Nachhinein als
wirtschaftlich ineffizient erweist, wird sie eher bereit sein,
die daraus folgenden Opfer in Kauf zu nehmen, als wenn ihr dieser Weg ohne
demokratische Entscheidung aufgezwungen wurde.
Natürlich
haben demokratische Beschlüsse über wirtschaftliche Fragen immer
auch ihre Nachteile. Dazu zählen insbesondere das Risiko, dass
Kosten auf diejenigen abgewälzt werden, die nicht mitwählen dürfen
(Ausländer und Nachgeborene) – und dass das ökonomisch meist
etwas unterinformierte Volk sich auf populistische Versprechungen
ohne reale Grundlage einlässt. Aus diesem Zweck ist es durchaus
nützlich, eine Finanzverfassung zu haben, die den
wirtschaftspolitischen Spielraum in einer sinnvollen Weise
einschränkt, nämlich auf das Spektrum von denjenigen
Entscheidungen, von denen man nicht definitiv weiß, dass sie
ökonomisch ineffizient sind. Gegen eine Schuldenbremse, der der oben
genannte Korridor bis 3,5 Prozent des Altschuldenstands zugrunde liegt, wäre deshalb
weniger einzuwenden. Indem der geplante EU-Vertrag die strukturelle
Höchstverschuldung auf 0,5 Prozent des BIP begrenzt, zwingt er die
kollektive Selbstbestimmung aber in ein sehr viel engeres Korsett als
notwendig und verletzt damit die Demokratie.
Nun
gelten die beiden bis hierher genannten Punkte jeweils für rein
nationale Schuldenbremsen. Dagegen ließe sich argumentieren, dass
man sich in einer supranationalen Währungsunion mit nationalen
Budgetpolitiken aus politischen Gründen auf striktere Regeln einigen
muss, als es der wirtschaftlichen Effizienz und der demokratischen
Selbstbestimmung entspräche, da sonst Moral Hazard droht. Selbst
wenn man dieses Argument gelten lässt (das impliziert, dass sowohl
die supranationale Währungsunion als auch der Verzicht auf ein
ausreichendes supranationales Budget wichtiger sind als Effizienz und
Demokratie), kann der neue Vertrag aber noch nicht überzeugen: denn
er ist auch unglaubwürdig und unsolidarisch.
Die
Schuldenbremse ist unglaubwürdig
Wenn
man sich an die Anfänge der Euro-Krise zurückerinnert, sticht vor
allem ein zentrales Ereignis ins Auge, nämlich die Entscheidung
Irlands, einen nationalen Rettungsschirm für seine Bankeinlagen
aufzuspannen. Zwei Wochen nach der Lehman-Pleite misstrauten die
Anleger den irischen Banken und begannen, panikartig Kapital aus dem
Land abzuziehen. Offenbar ohne vorherige Absprache mit den anderen
EU-Mitgliedstaaten erklärte die irische Regierung daraufhin am 30. September 2008, sie
würde für zwei Jahre alle Einlagen bei den großen Banken des
Landes garantieren. Die deutsche Bundesregierung, die fürchtete,
dass durch die Garantie nun irische Banken für sicherer gelten
würden und entsprechend Kapital aus Deutschland nach Irland fließen
würde, konterte vier Tage später, indem sie ihrerseits eine Garantie für
private Einlagen bei deutschen Banken aussprach. Damit stand nun die
Garantie des großen, wirtschaftsstarken Deutschland gegen die des
kleinen, peripheren Irland, und die Anleger reagierten, wie zu
erwarten war, indem sie ihr Vermögen nämlich doch in den sicheren
deutschen Hafen brachten. Die irische Regierung hatte durch ihr
Manöver also nichts gewonnen, sondern musste stattdessen kurz darauf
viel Geld aufwenden, um ihre nationalen Banken zu retten – wodurch
der bis dahin vorbildhaft ausgeglichene irische Haushalt tief im
Defizit versank, die Bankenkrise sich in eine Staatsschuldenkrise
transformierte und einige Jahre später der EFSF notwendig wurde, um
Irland vor dem Bankrott zu bewahren.
Wie
ließe sich eine solche fatale Dynamik in Zukunft verhindern? Das
System, das im neuen EU-Vertrag vorgesehen ist, hat dafür eine sehr
schlichte Antwort: Der irischen Regierung soll einfach qua
Schuldenbremse verboten werden, in einer derartigen Situation
überhaupt zur Bankenrettung einzugreifen. Um ihre Defizitgrenze zu
wahren, müsste sie es hinnehmen, dass die Banken einfach in Konkurs
gehen – mitsamt den daraus folgenden Verwerfungen für die
Volkswirtschaft als Ganzes. Nun mag man mit Recht einwenden, dass
auch Deutschland wohl nicht noch einmal den Fehler begehen würde,
bei der Bankenrettung einen nationalen Alleingang zu machen: Bevor
die irischen Banken Pleite gingen, würde man sich
wohl auf einen intergouvernementalen Ad-hoc-Rettungsschirm einigen.
Immerhin macht es aber Sorge, dass ein solcher Mechanismus im
derzeitigen Vertragsentwurf jedenfalls noch nicht vorgesehen ist –
der ESM gilt ja nur für Staaten, nicht für Privatunternehmen. Und
was, wenn beim nächsten Mal nicht gerade der international
systemrelevante Finanzsektor betroffen ist, sondern nur eine Branche,
die für die nationale Gesellschaft als Arbeitgeber wichtig ist? Sagen wir, zum
Beispiel, der Bergbau oder die Automobilindustrie? In diesem Fall
würden die anderen Mitgliedstaaten wohl wenig Notwendigkeit sehen,
dem Krisenland rettend beizuspringen, schließlich wären sie selbst
kaum dadurch betroffen. Aber würde eine demokratisch gewählte
Regierung es wirklich aushalten, in der eigenen Bevölkerung eine
Massenarbeitslosigkeit zu provozieren, nur um die im EU-Vertrag
vereinbarte Schuldenbremse zu erfüllen? Hätte die deutsche
Bundesregierung 2009 auch nur auf die Opel-Rettung verzichtet?
Die
Idee der Schuldenbremse ist es, die Staatsverschuldung langfristig
und strukturell niedrig zu halten. Die Euro-Krise ist aber zu einem
wesentlichen Teil nicht langfristigen Entwicklungen geschuldet,
sondern die Folge eines akuten Schocks, der in Form der
US-Finanzkrise und der Lehman-Pleite von außen über die EU
hereinbrach. Ohne einen Mechanismus, um auf solche exogenen Schocks
zu reagieren, bleibt die Schuldenbremse unglaubwürdig, da sich keine
Regierung in einer Krisensituation an die darin vorgeschriebenen
Regeln halten kann, ohne Massendemonstrationen und soziale Unruhen zu
riskieren.
Die
Schuldenbremse ist unsolidarisch
Immerhin
hat das politische System des europäischen Intergouvernementalismus
zuletzt allerdings schon einige Male bewiesen, dass es gegenüber
sozialen Unruhen verhältnismäßig resistent ist: siehe das
abgesagte griechische Referendum, siehe den Aufstieg der
„Technokratenkabinette“. Was also, wenn es den Regierungen doch
gelänge, alle Marktteilnehmer davon zu überzeugen, dass sie bereit
wären, in der nächsten Krise lieber eine massive Rezession
hinzunehmen als einen Anstieg des Defizits? Nun, dann könnte die
Schuldenbremse tatsächlich geeignet sein, eine Wiederholung der
Krise zu verhindern – aber der Preis dafür wäre ein dauerhaft
schwächeres Wachstum der wirtschaftlich weniger entwickelten
Mitgliedstaaten.
Denn
wenn in der Währungsunion die wirtschaftlich schwachen Staaten
künftig keine Möglichkeit haben, ihren Unternehmen im Fall eines
ökonomischen Schocks beiseite zu springen, so wird es für Anleger
attraktiver sein, nur noch in die wirtschaftlich starken Länder zu
investieren. Damit aber droht der Entwicklungsstand zwischen Zentrum
und Peripherie weiter auseinander zu driften – eine Dynamik, die
bereits im Delorsplan vorausgesagt wurde, der 1989 die Bedingungen für eine
europäische Währungsunion auslotete. Delors forderte damals deshalb
nachdrücklich eine Ausweitung der Struktur- und Regionalfonds; die
Mitgliedstaaten setzten diese nur in sehr unzureichendem Maß um, was
jedoch zunächst wenig bedeutend war, da es nach der Einführung der
Währungsunion zu einem Wirtschaftsboom in der Peripherie der
Eurozone kam. Dieser Boom basierte jedoch auf der Annahme, dass die
Maastrichter Nichtbeistandsklausel im Zweifel ohnehin nicht ernst
genommen würde. Wenn die neue Schuldenbremse für glaubwürdiger
gehalten wird, so wird auch der wirtschaftliche Aufschwung der
schwächeren Staaten diesmal ausbleiben, da sich das Kapital im
sicheren Zentrum der Eurozone ballen wird. Um irgendwie Investitionen
anzulocken, wäre die Peripherie gezwungen, Löhne, Steuern und
Sozialstandards zu senken – womit die Last der wirtschaftlichen
Konvergenz vor allem auf diejenigen abgewälzt wird, die ohnehin am
ärmsten sind.
Wenn
aber die Währungsunion sich zu einem Mechanismus der Umverteilung
von unten nach oben entwickelt, dann steht ihre politische Akzeptanz
mehr denn je auf dem Spiel. Und dann könnte langfristig auch ihr
Fortbestand ernsthaft in Gefahr geraten. Bitter daran ist, dass
dann wahrscheinlich die Nationalisten wie David Cameron triumphieren
werden, dass sie es ja gleich gesagt hätten. Noch bitterer, dass es dann wohl auf absehbare Zeit keinen zweiten Versuch einer funktionierenden Währungsunion geben wird. Am bittersten,
dass doch auch andere Alternativen möglich gewesen wären.
Bild: Thomas Shahan [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.
Korrekturhinweis: In einer älteren Version dieses Artikels fand sich die Formulierung, dass bei einer strukturellen Neuverschuldung von 3 bis 3,5 Prozent des BIP der Gesamtschuldenstand nicht steige. Korrekt ist, dass bei einem strukturellen BIP-Wachstum von 3 bis 3,5 Prozent die strukturelle Neuverschuldung 3 bis 3,5 Prozent des Altschuldenstands betragen muss, damit das Verhältnis zwischen Gesamtschuldenstand und BIP konstant bleibt. Beträgt der Altschuldenstand mehr als 100 Prozent des BIP, so kann die Neuverschuldung entsprechend auch mehr als 3 bis 3,5 Prozent des BIP betragen, ohne dass die Schuldenquote steigt; liegt der Altschuldenstand bei unter 100 Prozent des BIP, so muss auch die Neuverschuldung entsprechend niedriger sein, um das Verhältnis von Schuldenstand und BIP zu wahren.
Korrekturhinweis: In einer älteren Version dieses Artikels fand sich die Formulierung, dass bei einer strukturellen Neuverschuldung von 3 bis 3,5 Prozent des BIP der Gesamtschuldenstand nicht steige. Korrekt ist, dass bei einem strukturellen BIP-Wachstum von 3 bis 3,5 Prozent die strukturelle Neuverschuldung 3 bis 3,5 Prozent des Altschuldenstands betragen muss, damit das Verhältnis zwischen Gesamtschuldenstand und BIP konstant bleibt. Beträgt der Altschuldenstand mehr als 100 Prozent des BIP, so kann die Neuverschuldung entsprechend auch mehr als 3 bis 3,5 Prozent des BIP betragen, ohne dass die Schuldenquote steigt; liegt der Altschuldenstand bei unter 100 Prozent des BIP, so muss auch die Neuverschuldung entsprechend niedriger sein, um das Verhältnis von Schuldenstand und BIP zu wahren.
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