22 Februar 2012

Demokratie in Ungarn: Zeit für eine neue Grundrechtedoktrin des Europäischen Gerichtshofs?

Budapest: Hoffnung auf Morgenrot?
Anfang Januar habe ich an dieser Stelle über die Frage geschrieben, was die EU tun kann, um das Abgleiten Ungarns in einen neuen Autoritarismus zu verhindern. Seitdem ist einige Zeit vergangen, und auch wenn das Thema weitgehend aus den Medien verschwunden ist, hat sich die Lage nicht gebessert. Wir haben uns nur daran gewöhnt.

Nun kann man den EU-Organen nicht vorwerfen, in der Sache völlig untätig geblieben zu sein, doch mangels vertraglicher Kompetenzen blieben sie weitgehend machtlos. Noch im Januar eröffnete die Europäische Kommission mehrere Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstößen der neuen ungarischen Verfassung gegen geltendes Europarecht. Diese aber betreffen lediglich institutionelle Randaspekte – die Unabhängigkeit der Zentralbank und des Datenschutzbeauftragten sowie die Frühpensionierung von Richtern –, nicht den Kern des Problems: die Einschränkung der Medienfreiheit und anderer Grundrechte. Entsprechend hatte der ungarische Regierungschef Viktor Orbán (Fidesz/EVP) auch wenig Schwierigkeiten damit, in diesen Bereichen ein wenig Kompromissbereitschaft zu zeigen, allerdings nicht ohne öffentlich zu erklären, er beuge sich „nur der Macht, nicht den Argumenten“ der Kommission. Diese wiederum revanchiert sich gerade, indem sie an Ungarn ein fiskalpolitisches Exempel statuiert und dem Land 500 Millionen Euro an Fördergeldern einfriert, offiziell wegen seines anhaltenden Haushaltsdefizits. Ob das wirklich hilft, die Lage zu verbessern, ist mehr als fraglich.

Vorsichtige Schritte des Europäischen Parlaments

Auch das Europäische Parlament wurde aktiv, wenigstens ein bisschen. Schon Anfang Januar hatte dort die Fraktion der Grünen/EFA ein Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 EU-Vertrag angeregt. Dabei kann das Parlament dem Europäischen Rat vorschlagen, die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der europäischen Grundwerte – Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit – durch einen Mitgliedstaat festzustellen. Der Vorteil an diesem Verfahren ist, dass es vom Parlament selbst eingeleitet werden kann und im Europäischen Rat nur eine Vier-Fünftel-Mehrheit erfordert. Der Nachteil ist, dass es sich auf naming and shaming beschränkt und keinerlei rechtliche Folgen hat: Sanktionen gegen den betreffenden Staat gibt es nur bei einem Verfahren nach Art. 7 Abs. 2 EUV, das aber einen einstimmigen Beschluss der Staats- und Regierungschefs voraussetzt, was allgemein als unüberwindliche Hürde gilt.

So oder so jedoch will das Europäische Parlament offensichtlich nichts überstürzen: Vergangene Woche beschloss das Plenum erst einmal eine Resolution, in der es den Justizausschuss auffordert, in Zusammenarbeit mit der Kommission einen Bericht zu erstellen, auf dessen Grundlage es dann ein Art.-7-I-Verfahren „prüfen“ will. Verabschiedet wurde diese vorsichtige Resolution mit den Stimmen der vier Fraktionen des linken und liberalen Spektrums (GUE/NGL, Grüne/EFA, S&D und ALDE). Die Europäische Volkspartei als Dachorganisation der ungarischen Regierungspartei Fidesz scheiterte dagegen mit ihrem Gegenantrag, in dem sie „die unbegründeten Vorwürfe gegen Ungarn“ zurückwies und die neue ungarische Verfassung unter Verweis auf den „Grundsatz der Souveränität der Völker“ verteidigte – der vorläufige Höhepunkt einer langen Reihe von Peinlichkeiten, die zeigen, dass auf die Christdemokraten im Ringen um die Bürgerrechte in Ungarn offensichtlich nicht zu zählen ist.

Eine „umgekehrte Solange-Doktrin“?

Angesichts dieser verfahrenen Lage zeichnet sich jedoch gerade die Möglichkeit einer ganz anders gearteten Lösung ab: nämlich in Form einer Weiterentwicklung des europäischen Verfassungsrechts. Wie das aussehen könnte, hat eine Gruppe von Europarechtlern um Armin von Bogdandy vor kurzem im Verfassungsblog dargelegt, wo darüber seitdem eine spannende Debatte mit Beiträgen zahlreicher prominenter Juristen und Politikwissenschaftler stattfindet. Der Kern der Idee besteht darin, dass der Europäische Gerichtshof sich selbst dafür zuständig erklären sollte, die nationale Gesetzgebung von Mitgliedstaaten, die auf nationaler Ebene keinen wirksamen Grundrechteschutz mehr bieten, anhand der EU-Grundrechtecharta zu überprüfen. Bogdandy und seine Mitautoren sprechen dabei auch von einer „umgekehrten Solange-Doktrin“ – in Anspielung auf die deutsche Solange-Rechtsprechung, derzufolge das Bundesverfassungsgericht darauf verzichtet, die EU-Gesetzgebung an den Grundrechten der deutschen Verfassung zu messen, aber nur „solange die Europäischen Gemeinschaften […] einen wirksamen Schutz der Grundrechte […] gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleichzuachten ist“.

Gegenüber dem traditionellen Verständnis der europäischen Grundrechte wäre dieses umgekehrte Solange ein großer Sprung: Immerhin erklärt Artikel 51 der EU-Grundrechtecharta ausdrücklich, dass diese „für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt – also eben nicht auf nationales Recht anwendbar ist. Auf Artikel 11 der Grundrechtecharta, der die freie Meinung schützt, könnte man sich also nur berufen, wenn eine Verordnung oder Richtlinie der EU die Medienfreiheit verletzt, nicht wenn die Verfassung eines Mitgliedstaats das tut. Bogdandy und seine Mitautoren schlagen vor, diese Einschränkung wenigstens für Extremfälle zu überwinden, und verweisen dafür auf den „Kernbestand der Unionsbürgerschaft“, der ein Mindestmaß an Grundrechteschutz auch gegenüber der nationalen Gesetzgebung erforderlich mache.

Europäischer Verfassungsmoment

Ob der Europäische Gerichtshof sich in künftigen Urteilen dieser Argumentation anschließen wird, ist natürlich offen. Es wäre sicher ein starkes Stück an gerichtlicher Rechtsfortbildung – würde sich aber durchaus in die Tradition des Gerichtshofs einfügen, der schon seit den 1960er Jahren immer wieder spektakuläre neue Vertragsauslegungen gefunden und damit die europäische Integration entscheidend vorangetrieben hat. Allerdings wurde an diesem Aktivismus der Europarichter auch schon häufig Kritik geübt, da er einseitig die übernationale Ebene begünstige und zu De-facto-Vertragsänderungen führe, zu denen der EuGH nicht demokratisch legitimiert ist. Und bis zu einem gewissen Grad hat dieser Vorwurf zweifellos seine Berechtigung: Aufgabe von Richtern ist es, Recht zu sprechen, nicht Recht zu schaffen, und wenn sie die (zuweilen fließende) Grenze dazwischen allzu oft überdehnen, droht ihnen der Verlust ihrer öffentlichen Akzeptanz.

Im Fall der „umgekehrten Solange-Doktrin“ jedoch wäre es nur wünschenswert, wenn der Gerichtshof wieder einmal Mut zeigen würde. Die Ohnmacht der europäischen Institutionen gegenüber Ungarn hat gezeigt, dass die bisherigen Schutzmechanismen der EU-Verträge nicht genügen; zugleich muss man davon ausgehen, dass die Mitgliedstaaten in absehbarer Zeit keine Vertragsreform einleiten werden, um Artikel 7 EUV schärfere Zähne zu verleihen – schon weil die ungarische Regierung selbst das verhindern könnte. Wenn es der Europäischen Union aber nicht gelingt, in ihrem Inneren Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu sichern, dann sind die Fundamente ihres Wertesystems in Gefahr.

Es ist nicht gut vorstellbar, dass in einer solch existenziellen Legitimationskrise irgendjemand dem Europäischen Gerichtshof einen Vorwurf machen könnte, wenn er zum Schutz der Bürgerrechte in Ungarn durch kreative Vertragsinterpretation seine eigenen Kompetenzen erweitert. Der amerikanische Rechtsphilosoph Bruce Ackerman hat solche Krisen als constitutional moments bezeichnet: Phasen, in denen die Öffentlichkeit ein solches politisches Bewusstsein entwickelt, dass sie bereit ist, auch auf informellem Weg entstandene Verfassungsänderungen zu akzeptieren. Was sich seit den letzten zwei Jahren in Ungarn abspielt, schreit zum Himmel, und die „umgekehrte Solange-Doktrin“ ist eine schlüssige Antwort darauf: So wie die nationalen Verfassungsgerichte ein Auge darauf halten, ob der Europäische Gerichtshof auf EU-Ebene für einen angemessenen Grundrechteschutz sorgt, so sollte künftig der EuGH darauf achten, ob die Gerichte der Mitgliedstaaten das auf nationaler Ebene tun. Wenn das die Lösung ist, so sei sie willkommen.

Bild: By uzo19 (Own work) [GFDL, CC-BY-SA-3.0 or CC-BY-2.5], via Wikimedia Commons.

4 Kommentare:

  1. "Auf informellem Weg entstandene Verfassungsänderungen" sind stets der Anfang vom Ende...

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  2. Der Anfang vom Ende wovon? Es gab im Lauf der deutschen, amerikanischen, europäischen Verfassungsgeschichte schon eine ganze Menge solcher informeller Verfassungsänderungen (man denke in Deutschland zum Beispiel an das Grundrecht zur informationellen Selbstbestimmung), und die Welt ist daran nicht zugrunde gegangen - im Gegenteil.

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  3. Der Anfang vom Ende (konstitutioneller) demokratischer Rechtsstaatlichkeit.

    Verfassungsänderungen außerhalb des in einer Verfassung selbst hierfür vorgesehenen Verfahrens sind schlechterdings verfassungswidrig.

    Allzumal, wenn sie nicht vom pouvoir constituant ausgehen.

    Richterliche Rechtsfortbildung innerhalb (verfassungs)rechtlicher Grenzen ist grundsätzlich ein anderer Sachverhalt. - Gleichwohl auch diese freilich zu verfassungswidrigem Recht führen kann, soweit sie den von der Verfassung vorgegebenen Rahmen verlässt.

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  4. Na, dann unbesorgt: Bei der „umgekehrten Solange-Doktrin“ würde es sich natürlich nur um richterliche Rechtsfortbildung innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen handeln. Wie von mir angedeutet und von Armin von Bogdandy und Mitautoren ausgeführt, würde eine solche Neuinterpretation durchaus auf der seit dem Ruiz-Zambrano-Fall etablierten EuGH-Rechtsprechung zur Unionsbürgerschaft aufbauen. Um aus dem Beitrag im Verfassungsblog zu zitieren:

    Bedeutet das aber nicht einen eklatanten Bruch der vertraglich vorgesehenen und in Art. 51 Grundrechtecharta betonten Kompetenzordnung? Dass dem nicht so ist, sei in aller Kürze dargelegt: Erstens dehnt unser Vorschlag nicht den Anwendungsbereich der Charta aus, sondern zielt allein auf eine bessere Durchsetzung des grundrechtlichen Wesensgehalts, wie er in Art. 2 EUV zur Geltung kommt. Dass aber Art. 2 EUV jede Ausübung öffentlicher Gewalt der Mitgliedstaaten erfasst und mittels Art. 7 EUV von der EU durchgesetzt werden kann, steht außer Frage. Es geht mithin nicht um die unionale Verbandskompetenz, sondern allein um die Organkompetenz des EuGH. Für diese ist aber zweitens zu beachten, dass der Vertrag von Lissabon nun Art. 2 EUV erstmals der Zuständigkeit des EuGH und damit dessen verfassungsrechtlichen Auftrag unterstellt, die „Wahrung des Rechts“ zu sichern. Unser Vorschlag erfüllt also lediglich mit Leben, was die „Herren der Verträge“ bereits vorgegeben haben.

    Es geht um eine mutige Auslegung, nicht um einen Bruch der Verfassungsordnung. Selbstverständlich impliziert solch ein Wandel in der Verfassungsdeutung immer auch eine Änderung der Verfassungswirklichkeit. Aber das ist in allen konstitutienellen Demokratien der Welt schon vorgekommen und ganz gewiss keine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit. (Im Gegensatz übrigens zur derzeitigen ungarischen Verfassung.)

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