Unter dem Titel „Review 2014 – Außenpolitik weiter denken“ organisiert das Auswärtige
Amt dieses Jahr eine große Debatte über die Ausrichtung der
deutschen Außenpolitik. Neben anderen Kommentatoren wurde auch ich
um einen Beitrag dafür gebeten, den ich hier crossposte. Das Original ist hier zu finden.
Wenn sich die
europapolitischen Kommentatoren dieser Review 2014 in
einer Frage einig sind, dann dass die deutsche Bundesregierung in
den letzten Jahren eine Führungsrolle in der Europäischen Union
übernommen hat. In gewisser Weise fiel ihr diese durch die Eurokrise
nolens volens in den Schoß: Da die supranationalen
Institutionen (Kommission und Europäisches Parlament) nicht genügend
Kompetenzen besaßen, um aus eigener Kraft den Zerfall der
Währungsunion zu verhindern, gewann der intergouvernementale
Europäische Rat als Entscheidungszentrum an Bedeutung. Und da ohne
eine Beteiligung des wirtschaftsstärksten EU-Mitglieds Deutschland
die nötigen Hilfskredite für die Krisenstaaten nicht das nötige
Volumen erreicht hätten, führte im Europäischen Rat plötzlich
kein Weg mehr an der deutschen Bundesregierung vorbei.
Ganz unwillkommen scheint
diese Führungsrolle der deutschen Politik allerdings nicht zu sein.
So unterstützte Kanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) 2010 mit ihrem
Konzept einer „neuen Unionsmethode“ ausdrücklich den Trend zu
einem größeren Gewicht des Europäischen Rates. 2012 wurden in
deutschen Regierungsparteien Stimmen laut, die für Entscheidungen
der Europäischen Zentralbank die
Einführung eines deutschen Vetorechts forderten. In seinem
Urteil über den Europäischen Stabilisierungsmechanismus erklärte
das Bundesverfassungsgericht Anfang 2014 das deutsche Vetorecht im
ESM sogar zur Bedingung für dessen Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz
– und das, obwohl fast
alle anderen Euro-Staaten zuvor auf ein solches Vetorecht verzichtet
hatten. Dass „in Europa auf einmal Deutsch gesprochen“ wird,
wie es der CDU-Fraktionschef Volker Kauder 2011 formulierte, liegt
also durchaus auch daran, dass die deutsche Politik (mehr oder
weniger aktiv und mehr oder weniger offen) auf eine
institutionalisierte Vorrangstellung hinarbeitet.
Die deutsche Antwort
auf die Eurokrise
Zudem machte die
Bundesregierung schon früh sehr deutlich, wozu sie ihre
Führungsrolle einsetzen möchte. Anders als in Sicherheits- und
Verteidigungsfragen, wo sie nur allmählich ihre traditionelle
Zurückhaltung aufgibt, gab sie in der Wirtschaftspolitik einen
klaren Kurs vor. Die harten Sparmaßnahmen, die Rückschnitte im
Sozialsystem sowie die tiefgreifenden Strukturreformen (etwa in Form
flexiblerer Lohnmodelle oder eines reduzierten Kündigungsschutzes),
zu denen sich die Krisenstaaten verpflichten mussten, entsprachen im
Wesentlichen dem von der Bundesregierung bevorzugten Lösungsansatz.
Umgekehrt scheiterten verschiedene Alternativvorschläge wie die
Einführung von Eurobonds vor allem am deutschen Nein zu jeglicher
Form von „Transferunion“.
Man darf der
Bundesregierung wohl unterstellen, dass sie dabei nach ihrer eigenen
Überzeugung nicht nur nationale Interessen, sondern auch das Wohl
der EU insgesamt im Blick hatte. Die in Deutschland verbreitete
Lesart, dass die Krisenursache allein in der exzessiven
Staatsverschuldung und dem verkrusteten Wirtschaftssystem einiger
Mitgliedstaaten zu suchen sei, lässt eine Kombination aus Austerität
und Strukturreformen als Lösung durchaus plausibel erscheinen.
Problematisch ist daran
allerdings, dass diese Lesart unter Ökonomen mindestens umstritten
ist, da sie systemische
Mängel in der Gestaltung der Währungsunion – etwa das Fehlen
automatischer
interregionaler Konjunkturstabilisatoren, für die
zwischenstaatliche Transfers unverzichtbar sind – völlig außer
Acht lässt. Aus einer weniger freundlichen Perspektive scheint es
deshalb, als ob die Bundesregierung zwar den Krisenstaaten gewaltige
Opfer abfordert, dabei aber selbst die Zugeständnisse verweigert,
die für eine wirkliche Lösung nötig wären. Während viele
Deutschen befürchten, in Europa zum Zahlmeister zu werden, haben sie
bei vielen Südeuropäern längst den Ruf eines eigennützigen
Zuchtmeisters gewonnen.
Legitimität gewinnt die
EU nur durch mehr Demokratie
Damit aber verweist der
Streit über den richtigen wirtschaftspolitischen Kurs in der
Eurokrise auf ein viel tiefer liegendes Problem: Die europäische
Integration ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass sich für
viele der auf EU-Ebene verhandelten Themen keine einfachen, „objektiv
richtigen“ Lösungen mehr finden lassen. Es handelt sich nicht mehr
um technische, sondern um genuin politische Entscheidungen, bei denen
auch subjektive Bewertungen eine zentrale Rolle spielen. Selbst wenn
die Bundesregierung nach ihrem eigenen Verständnis zum Wohl der
gesamten EU handelt, kann sie deshalb nicht erwarten, dass diese
Interpretation von allen europäischen Bürgern geteilt wird.
Vielmehr kann Legitimität in solch politischen Fragen nur durch
demokratische Verfahren erzeugt werden: durch die Möglichkeit aller
europäischen Bürger, gleichberechtigt an der europäischen
Entscheidungsfindung zu partizipieren.
Dieses Postulat einer
europäischen Demokratie aber ist mit der Idee, dass ein einzelner
Staat in Europa die Führung übernimmt, grundsätzlich unvereinbar.
Über die demokratischen Verfahren auf nationaler Ebene ist jede
Regierung strukturell
nur ihrer eigenen nationalen Wählerschaft verantwortlich, nicht
aber jener der übrigen Mitgliedstaaten. Wenn Bürger mit ihrer
eigenen Regierung unzufrieden sind, so können sie sie abwählen. Für
die Unzufriedenheit mit der Regierung eines anderen Landes gibt es
hingegen keine demokratischen Kanäle – außer der Zuflucht in eine
„nationale Souveränität“, die sich jegliche „Einmischung von
außen“ verbittet. Das aber wäre das Ende der europäischen
Integration, die ja gerade auf eine wachsende grenzüberschreitende
Verflechtung abzielt.
Was Deutschland jetzt
tun kann
Die Verantwortung für
das europäische Gemeininteresse kann deshalb nicht bei einer
einzelnen nationalen Regierung liegen (und sei sie noch so
wohlwollend!), sondern nur bei den supranationalen Institutionen, die
alle Europäer gemeinsam gewählt haben. Die Eurokrise und ihre
Folgen sind nicht Fragen der nationalen Außen-, sondern der
europäischen Innenpolitik.
Und was heißt dies nun
für die deutsche Bundesregierung? Wie eingangs erwähnt, hat sie
ihre Führungsrolle in Europa teilweise aus der Dynamik der Krise
heraus gewonnen, teilweise aber auch durch aktives eigenes Zutun.
Wenn sie die Legitimität der EU insgesamt nicht gefährden will, so
müsste sie nun ebenso aktiv daran arbeiten, die Verantwortung für
die großen europäischen Fragen wieder aus den eigenen Händen in
jene der Kommission und des Europäischen Parlaments zu übertragen.
Dafür aber müssen die europäischen Verträge geändert werden. Und
wer, wenn nicht Deutschland, wäre derzeit in der Lage, eine solche
demokratische Reform zu initiieren?
Bild: eLKayPics [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.
Hallo Manuel Müller,
AntwortenLöschenich schätze Ihre Analysen sehr. Allerdings scheinen mir diesmal viele Punkte, 10, 20. 30 Jahre zu spät bzw. ich wundere mich, dass Sie überhaupt noch der Rede wert sind:
- EU-Themen waren noch nie einfach technische, sondern schon immer genuin politische Entscheidungen. Das klingt als hätten Sie das Wesen EU zum ersten mal begriffen und reiben sich erstaunt die Augen.
- natürlich handelt die Bundesregierung im eigenen Interesse, so wie alle 28 EU-Regierungen - was denn sonst? Hatten sie gedacht, die Bundesregierung handele in einem europäischen Interesse? Das geht doch schon technisch gar nicht, wer sollte dieses denn definieren?
- und natürlich finden nicht alle EU-Bürger die Politik der Bundesregierung toll, auch nicht alle deutschen
- und natürlich haben wir eine verquere Legitimation. Welche deutsche Wähler hat denn seine Regierung jemals abgwählt für das, was sie im Europäischen Rat oder im Ministerrat tat oder nicht tat? Im Bundestagswahlkampf geht es regelmäßig um rein nationale Themen - de Facto gibt es keine bewusste, gelebte Legitimation dieser EU-Politik der Regierungen, vor allem dann, wenn das EU-Parlament außen vor bleibt
Hallo, Anonym, wenn Sie meine Analysen schon länger lesen, dann wissen Sie sicher, dass ich verschiedene der hier erwähnten Punkte auch in der Vergangenheit schon öfter angesprochen habe (tatsächlich habe ich in dem Text ja auf einige ältere Artikel verlinkt). Ganz so selbstverständlich aber scheinen sie mir nicht zu sein - jedenfalls höre und lese ich oft genug auch ganz andere Argumente, und durchaus nicht nur von Menschen, die sich mit der Materie nicht auskennen. Andrew Moravcsik, Richard Bellamy oder Giandomenico Majone sind nur ein paar der bekanntesten Politikwissenschaftler, die (mit im Detail unterschiedlichen Ansichten) die EU noch immer als eine im Wesentlichen intergouvernementale oder technokratische Institution betrachten. Die Forderung, dass die nationalen Regierungen ihre Wirtschaftspolitik zwar selbst gestalten, diese aber als "Angelegenheit von gemeinsamem [europäischem] Interesse" betrachten sollen, findet sich beispielsweise in Art. 121 AEUV. Die These, dass die EU nur das Richtige tun müsste, um die Leute wieder von sich zu überzeugen, hat beispielsweise der sonst von mir sehr geschätzte Timothy Garton Ash erst kurz nach der Europawahl in einem Artikel im Guardian vertreten (worauf ich hier ausführlicher eingegangen bin). Und die Vorstellung, dass Legitimation für die EU über die nationalen Parlamente entstehen könnte, scheint mir wenigstens im deutschen europapolitischen Diskurs geradezu hegemonial zu sein; ausführlicher (und mit einigen Beispielen) habe ich mich dazu hier geäußert.
LöschenDeshalb: Doch, es ist leider immer noch nötig, diese Punkte anzusprechen. Wenn sie wirklich schon so allgemein anerkannt wären, wie sie Ihnen erscheinen, wäre die EU heute vermutlich in einem weitaus besseren Zustand.