- Wird er der neue Olli Rehn? Andrus Ansip (RE/ALDE) ist in einem geleakten Entwurf der Kommission Juncker als Vizepräsident für Wirtschaft vorgesehen.
Seit wenigen Tagen stehen
nun sämtliche Mitglieder der neuen Europäischen Kommission fest –
und dem designierten Präsidenten Jean-Claude Juncker (CSV/EVP)
dürfte ein schwerer Stein vom Herzen gefallen sein, als er von den
letzten Personalvorschlägen der polnischen, rumänischen und
belgischen Regierung erfuhr. Alle drei hatten nämlich zunächst
einen männlichen Kandidaten im Blick gehabt, nominierten im letzten
Moment aber doch noch eine Frau. Die Zahl der weiblichen
Kommissionsmitglieder stieg dadurch auf 9 von 28 an, sodass die Kommission nun die Minimalanforderung erfüllt, die hochrangige Abgeordnete des
Europäischen Parlaments zuvor für ihre Zustimmung formuliert hatten. Dass
die Ernennung der neuen Kommission im weiteren Verfahren noch komplett
scheitern wird, ist damit deutlich unwahrscheinlicher geworden.
Nachdem die Namen der
neuen Kommissare jetzt also bekannt sind (hier
eine Übersicht), konzentrieren sich die Spekulationen der
Brüssel-Beobachter auf die Frage der Ressortverteilung. Eine
definitive Antwort darauf wird es voraussichtlich am 10. September
geben, wenn Juncker seine Entscheidungen in der Öffentlichkeit
vorstellen will. Einige Informationen aber sind schon jetzt bekannt
geworden, und sie werfen ein interessantes Licht auf die Prioritäten,
an denen der neue Präsident seine Kommission ausrichten möchte.
Die neue Bedeutung der
Kommissions-Vizepräsidenten
Weitgehend klar ist
inzwischen etwa, dass die neue Kommission eine
Art „flexible Cluster-Struktur“ haben soll, bei der die Rolle
der Kommissions-Vizepräsidenten aufgewertet wird. Diese sollen
künftig jeweils für einen Großbereich (Cluster) wie Außenpolitik
oder Wirtschaft verantwortlich sein und dabei die übrigen
Kommissare koordinieren, die wie bisher ein spezifisches Ressort haben. Die Zuordnung der Einzelressorts zu den Großbereichen
soll jedoch nicht starr sein, sondern jeweils vom konkreten Thema
abhängen. So würde beispielsweise der Außenhandelskommissar je
nach den verhandelten Fragen sowohl an den Besprechungen im Bereich
Wirtschaft als auch im Bereich Außenpolitik teilnehmen.
Mit dieser Entscheidung
reagiert Juncker auf eine Problematik, die seit
vielen Jahren immer gravierender wurde: Da jedes Land ein
Mitglied der Kommission stellt, wurde diese mit jeder EU-Erweiterung
größer – und die Zuständigkeitsbereiche der einzelnen Kommissare
immer kleiner. Dies führte zu mehr Koordinierungsbedarf, da viele
Probleme mehr als ein Ressort betreffen. Zugleich schadete es auch
der öffentlichen Sichtbarkeit, da sich selbst politisch interessierte
Bürger kaum die Namen aller
Kommissare merken können, die ein potenziell wichtiges Amt einnehmen.
Die Reform soll nun
einerseits für bessere Koordinierung und damit eine klarere
Gesamtlinie sorgen. Außerdem bietet sie die Chance, dass die neuen
Vizepräsidenten zu den Gesichtern der Kommission werden, die auch
ein breiteres Publikum kennt und die die Politik der Kommission in
der Öffentlichkeit verantworten. Entsprechend spannend ist deshalb
die Frage, wer unter
Juncker die Vizepräsidenten-Posten erhält – und wie diese
inhaltlich zugeschnitten sind.
Ein geleakter Entwurf
der Ressortverteilung
Eine erste Ahnung davon
bietet ein geleakter Entwurf der Ressortverteilung, den
das Webportal EurActiv am
Donnerstag veröffentlicht hat
und der den Stand von Junckers Planungen zum 2. September
enthalten soll. In den Einzelheiten ist dieser Entwurf offenbar noch
nicht endgültig. Insbesondere datiert er von einem Zeitpunkt, als
die Kandidatinnen aus Belgien und Rumänien noch nicht feststanden
und Juncker dabei war, Druck auf diese Regierungen auszuüben, damit
sie eine Frau nominieren. Für beide Länder sind in dem Entwurf
deshalb nur eher unbedeutende Portfolios (Jugend, Bildung und
Mehrsprachigkeit bzw. humanitäre Hilfe) vorgesehen, was nun –
nachdem die Regierungen Junckers Wunsch nachgekommen sind – wohl
korrigiert werden dürfte.
Während
die Besetzung sich also wohl noch ändern wird, dürfte der Zuschnitt
der Ressorts in dem geleakten Entwurf wenigstens im Groben bereits
Junckers Vorstellungen entsprechen. Welche Prioritäten lassen sich
daraus erkennen? Und wie vertragen sich diese mit den
Herausforderungen der EU in den nächsten fünf Jahren, von denen
hier in
der vergangenen Woche die Rede war?
Sechs Vizepräsidenten
vorgesehen
Geht
es nach dem Entwurf, so wird die neue Kommission sechs
Vizepräsidenten haben, die jeweils für einen großen Bereich oder
ein wichtiges Querschnittsprojekt der EU zuständig sind. Im
Einzelnen wären dies:
● Frans
Timmermans (PvdA/SPE) als Vizepräsident für „bessere Regulierung“
(was sich vor allem auf Bürokratieabbau und auf Reformen in der
Arbeitsweise der EU bezieht und das bisherige Ressort
„interinstitutionelle Beziehungen und Verwaltung“ ersetzt),
● Elżbieta
Bieńkowska (PO/EVP)
als Vizepräsidentin für Haushalt und Finanzplanung,
● die
bereits designierte Hohe Vertreterin Federica Mogherini (PD/SPE) als
Vizepräsidentin für Außenpolitik,
● Andrus
Ansip (RE/ALDE) als Vizepräsident für Wirtschaft (offiziell
„Wachstum, Währungsunion, Europäisches Semester, Sozialdialog“),
● Alenka
Bratušek (ZaAB/ALDE)
als Vizepräsidentin für Digitales und Innovationen,
● Valdis
Dombrovskis (V/EVP) als Vizepräsident für die Energieunion.
Die
ersten zwei dieser Vizepräsidentschaften scheinen weniger der
Cluster-Logik zu folgen, sondern sollen offenbar die übergreifende
Bedeutung dieser Zuständigkeitsbereiche unterstreichen: Sowohl die
Verwaltungsstruktur als auch der Haushalt der EU betreffen per
definitionem sämtliche
Tätigkeitsfelder der EU, sodass es durchaus sinnvoll ist, die
Inhaber dieser Ressorts durch eine Vizepräsidentschaft aufzuwerten.
Neue Strukturen im
Bereich Wirtschaft
Auch
die Vizepräsidentschaften für Außenpolitik und Wirtschaft sind
unmittelbar einleuchtend. Tatsächlich wurde in dem Bereich
Außenpolitik bereits
in den vergangenen Jahren mit einer Art Cluster-Modell
experimentiert, bei dem außer der Hohen Vertreterin auch die
Kommissare für Erweiterung und Nachbarschaftspolitik, Entwicklung
sowie humanitäre Hilfe beteiligt waren. Im Bereich Wirtschaft ist
diese Struktur hingegen neu: Hier gab es in der Vergangenheit nur
eine Vielzahl von nebeneinander existierenden Ressorts, von denen
einige (zum Beispiel Wettbewerb, Binnenmarkt oder Wirtschaft und
Währung) etwas wichtiger waren als andere (zum Beispiel Unternehmen
und Industrie).
Künftig
hingegen würde dem Entwurf zufolge ein Vizepräsident den
Gesamtbereich zu verantworten haben – einschließlich der
Zuständigkeit für das europäische
Semester, also das Instrument, durch das die EU am stärksten in
die Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eingreift.
Der neue Vizepräsident würde dadurch eindeutig zu einer der
zentralen Figuren in der neuen Kommission. Der Kommissar für
Wirtschaft und Währung (der bisher für das europäische Semester
zuständig war) würde hingegen an Bedeutung verlieren. Und das
Ressort Binnenmarkt ist in den Entwurf überhaupt nicht mehr
enthalten.
Pierre Moscovici,
Jyrki Katainen und Andrus Ansip
Interessant
ist aber auch die personelle Besetzung, die Juncker für den
Wirtschaftsbereich offenbar vorschwebt. So hatte in der Vergangenheit
der Franzose Pierre Moscovici (PS/SPE) als Hauptanwärter für den
Posten des Kommissars für Wirtschaft und Währung gegolten – auch
weil Juncker erklärt hatte, dass dieses Amt diesmal an
einen Sozialdemokraten gehen solle. Vor allem die deutsche
Bundesregierung wandte sich allerdings vehement
gegen diese Besetzung, da sie unter Moscovici ein Abrücken von
dem harten Sparkurs der letzten Jahre befürchtet. Vor einigen Tagen
hieß es dann, Moscovici solle das Amt zwar erhalten; quasi als
Gegengewicht werde aber der Finne Jyrki Katainen (Kok./EVP), ein Unterstützer der Sparpolitik,
neuer Wirtschafts-Vizepräsident.
Der
geleakte Entwurf hingegen zeigt noch einmal eine ganz andere
Konstellation: Hier ist Katainen als Währungskommissar vorgesehen,
während die Vizepräsidentschaft an den estnischen Liberalen Andrus
Ansip (RE/ALDE) gehen soll, der ebenfalls ein überzeugter Anhänger der
Sparpolitik ist. Moscovici hingegen wäre lediglich für Wettbewerb
zuständig und hätte damit keinerlei haushaltspolitischen Einfluss.
(Allenfalls könnte er sich in diesem Amt ein wenig an der deutschen
Bundesregierung rächen – immerhin zählt Deutschland zu den
Ländern, die am häufigsten mit EU-Wettbewerbsregeln in Konflikt
geraten.) Ob sich die europäischen Sozialdemokraten, die bei der
Vergabe der EU-Spitzenposten bislang ohnehin
eher schlecht abschnitten, auf eine solche Verteilung
einlassen würden, ist aber wohl mindestens fraglich.
Digitales und
Energieunion auf Junckers Agenda ganz oben
Besonders
spannend bei der Frage nach Junckers Prioritäten sind schließlich
die letzten beiden Vizepräsidentschaften: für „Digitales und
Innovationen“ und für die Energieunion. Sie stehen für zwei
Projekte, die in Junckers Agenda offenbar ganz oben stehen, nämlich
der Ausbau der digitalen Infrastruktur und die stärkere Angleichung
von Telekommunikations-, Urheberrechts- und Datenschutzvorschriften
einerseits sowie der Ausbau des gesamteuropäischen Energienetzes
sowie die Förderung von erneuerbaren Energien und Energieeffizienz
andererseits. Beide Ziele beziehen sich auf den Ausbau des
europäischen Binnenmarkts und spielten bereits Mitte Juli in
Junckers Bewerbungsrede
vor dem Europäischen Parlament eine prominente Rolle.
Ganz
im Sinne des Cluster-Prinzips stünden den Vizepräsidenten in beiden
Bereichen jeweils weitere Kommissare zur Seite. So soll es einen
neuen Kommissar für „Internet und Kultur“ geben, der sich
vermutlich auch mit Urheberrechtsfragen beschäftigen würde. Im
Energiebereich wiederum gäbe es neben dem Vizepräsidenten unter
anderem noch einen Kommissar für „Energie und Klimawandel“. Im
Europäischen Parlament stoßen diese Pläne allerdings bereits auf
Kritik: Durch die Unterordnung unter das Energiethema befürchten
Abgeordnete mehrerer Fraktionen eine Schwächung
der klimapolitischen Agenda der EU – umso mehr, als dem Entwurf
zufolge Jonathan Hill (Cons./AECR) für das Ressort vorgesehen ist,
der bislang noch überhaupt nicht als Umweltpolitiker in Erscheinung
getreten ist.
Was ist mit den
Bereichen Soziales und Justiz?
Interessant
ist schließlich auch, welche Bereiche Juncker offenbar nicht zu
seinen Prioritäten zählt. In dem Entwurf fallen dabei vor allem
zwei Leerstellen auf: Zum einen erfährt der Bereich Beschäftigung
und Soziales keinerlei erkennbare Aufwertung. Obwohl Juncker die
Schaffung neuer Arbeitsplätze immer wieder seine
„erste Priorität“ genannt hat, soll das zuständige Ressort
unverändert bleiben und zudem mit dem Portugiesen Carlos Moedas
(PSD/EVP) eher schwach besetzt werden. Offenbar setzt der
Kommissionspräsident in Sachen Beschäftigung also allein auf die
Kräfte des Binnenmarkts. Ein Vizepräsident für Soziales, der die verschiedenen
sozial investierenden Politiken der EU koordinieren könnte (die sich derzeit
unter anderem über die Ressorts Beschäftigung, Bildung und
Regionalpolitik verteilen), ist nicht
vorgesehen.
Und
auch der Bereich Justiz und Inneres schneidet viel schwächer ab, als
man hätte erwarten können: Geht es nach dem Entwurf, soll es keinen
Vizepräsidenten geben, der für diese Themen zuständig ist.
Außerdem sollen die Bereiche Inneres, Einwanderung und Grundrechte
in einem einzigen Ressort gebündelt werden – was dazu führen
könnte, dass für die Einwanderer
auf Lampedusa, die Demokratie
in Ungarn und die Bekämpfung der organisierten Kriminalität
durchweg derselbe Kommissar zuständig wäre. Vorgesehen ist für
diesen Posten allerdings nicht etwa ein profiliertes
europapolitisches Schwergewicht, sondern der weitgehend unbekannte
bisherige griechische Verteidigungsminister Dimitris Avramopoulos
(ND/EVP). Daneben gäbe es mit der Schwedin Cecilia Malmström
(FP/ALDE) weiterhin auch noch eine Kommissarin für Justiz. Ohne das
Grundrechte-Portfolio dürfte für diese allerdings nicht mehr allzu viel Wichtiges an Aufgaben übrig bleiben.
Aber
noch ist das letzte Wort ja nicht gesprochen – wie viel von dem
geleakten Entwurf sich in der finalen Liste tatsächlich wiederfinden
wird, wissen im Moment wohl höchstens Juncker und seine Mitarbeiter
selbst. Klar ist aber, dass sich die politischen Prioritäten der
Kommission zukünftig mehr als bisher auch in ihrer Struktur und
Arbeitsweise niederschlagen werden. Und das ist jedenfalls ein gutes
Zeichen für die europäische Demokratie.
Bild: By Foreign and Commonwealth Office (foreignoffice) [CC BY 2.0], via Flickr.
Gute Analyse, spannend zu lesen. Es gibt ja wieder einen neuen Leak, der die Resorts wieder anders verteilt:
AntwortenLöschenOettinger (DE) wird Kommissar für Economic and Monetary Affairs;
Bienkowska (PL) wird Kommissarin für Environment;
Navracsics (HU) wird Kommissar für Trade;
Georgieva (BG) wird Kommissarin für Customs;
Vestager (DK) wird Kommissarin für Taxation and Fight against Fraud;
Kataien (FI) wird Kommissarin für Budget and Financial Control.
Kataien wird hier auch zum Vice-President hochgestuft, während Bienkowska kein VP mehr ist. Damit wären zwei ehemalige "Kontrahenten" von Juncker, nämlich Kataien, welcher im Rat sich gegen Juncker gestemmt hat, und Dombrovskis, welcher auch für den EVP-Spitzenkandidatenposten kandidiert hat, aber für Juncker darauf verzichtet hat, in der neuen Kommission belohnt worden.
Interesant ist auch zu vermerken, dass "Bildung" komplett durch "Skills" ersetzt wurde, was ESU und OBESSU bereits einer einer empörten Pressemitteilung kritisiert hat: http://www.obessu.org/press-release-students-outraged-with-a-new-commission-portfolio
Interessant ist außerdem zu vermerken, dass in diesem neuen Leak "Fraud" gleich 2x bekämpft werden soll: Georgieva soll den Posten als Kommissarin für "Taxation, Fight against Fraud" bekommen, während Cecilia Malmström als Kommissaring für "Justice and Anti-Fraud" auch Korruption bekämpfen soll. Wie das zu interpretieren ist, überlasse ich Dir. ;-)
Sehr geehrter Herr Müller,
AntwortenLöschenherzlichen Dank für diese interessante Einordnung des geleakten Dokuments! Der Artikel auf EurAktiv ist etwas schwer einzuschätzen und schien mir mit den anders lautenden Nachrichten anderer Medien nicht vereinbar.
Auch ganz grundsätzlich vielen Dank für Ihre gute und wichtige Arbeit, die dem interessierten Leser nicht nur eine Informationslücke in der deutschen Medienlandschaft schließt, sondern die es vermag, andere Sichtweisen und Interpretationen zu beleuchten!