10 Oktober 2014

Der Fall Fajon: Auf dem langen Weg zu einer parlamentarischen EU-Regierung

Tanja Fajon (SD/SPE) hat die Mehrheit im Europäischen Parlament hinter sich. Ob das reicht, um Kommissarin zu werden?
Im Europäischen Parlament geht eine turbulente Woche ihrem Höhepunkt entgegen. Die Anhörungen der designierten Mitglieder der neuen EU-Kommission, schon in der Vergangenheit wiederholt Anlass zu heftigen Debatten, wurden dieses Jahr mit noch mehr Eifer geführt als sonst. Nach einigen Aufwallungen rauften sich zuletzt die beiden großen Fraktionen, die christdemokratische EVP und die sozialdemokratische S&D, erwartungsgemäß zu einer gemeinsamen Linie zusammen. Daraus entstand allerdings gleich der nächste Streit, diesmal mit der liberalen Fraktion ALDE und der slowenischen Regierung. Am Ende aber könnte es sein, dass dem Parlament mit all den Diskussionen ein kleiner, aber wichtiger Schritt in Richtung einer demokratischeren EU gelingt.

Die Anhörungen im Europäischen Parlament

Die Hintergründe für die jüngsten Debatten habe ich an dieser Stelle erst vor einigen Tagen näher beschrieben. Bevor die neue EU-Kommission ihr Amt übernimmt, müssen sich ihre vom Ministerrat designierten Mitglieder einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments unterziehen. Die Abgeordneten nutzen dies traditionell, um die Bewerber auf einen Kommissarsposten ausführlich zu befragen und ihnen einige inhaltliche Zugeständnisse abzuringen. Außerdem können sie den Rat informell auffordern, ganz inakzeptabel erscheinende Kandidaten auszutauschen, was 2004 und 2010 auch schon vorgekommen ist. Die entscheidende Rolle spielen dabei stets die beiden großen Fraktionen EVP und S&D, da es faktisch unmöglich ist, ohne sie eine Mehrheit für die neue Kommission zu bilden.

Dieses Jahr nun verwehrten die Abgeordneten zunächst gleich einer ganzen Reihe von Kommissarsanwärtern ihre Zustimmung. Dahinter verbargen sich allerdings in erster Linie parteitaktische Spiele: Unter den Kandidaten gab es sowohl einige EVP-Mitglieder (etwa den Spanier Miguel Arias Cañete) als auch einige Sozialdemokraten (etwa den Franzosen Pierre Moscovici), die für die Anhänger der jeweils anderen Partei nur schwer zu akzeptieren waren. Die Fraktionen stellten deshalb die Bestätigung für diese Kandidaten zunächst zurück, um sie schließlich in einem Gesamtpaket geschlossen durchzuwinken. Lediglich Tibor Navracsics (Fidesz/EVP), in dessen Ressort auch der Bereich „Unionsbürgerschaft“ fallen sollte, erhielt keine komplette Freigabe: Als Ex-Mitglied der umstrittenen ungarischen Regierung unter Viktor Orbán hielten ihn die Parlamentarier zwar grundsätzlich als Kommissar geeignet, aber nicht für ein „wertebasiertes Portfolio“.

Kandidatur und Rückzug der Alenka Bratušek

Zum eigentlichen Politikum aber wurde die Kandidatin für das Amt der Vizepräsidentin für die Energieunion, die Slowenin Alenka Bratušek (ZaAB/ALDE). Anders als Cañete, Navracsics oder Moscovici gehört Bratušek keiner der beiden großen Parteien an, sondern der liberalen ALDE – die zwar eng mit EVP und S&D zusammenarbeitet, für eine Mehrheit im Parlament jedoch nicht zwingend notwendig ist.

Hinzu kam eine etwas dubiose Vorgeschichte der Kandidatin: Diese war bis vor wenigen Monaten noch slowenische Premierministerin, hatte dann jedoch im Juli krachend die nationalen Parlamentswahlen verloren. Bevor ihr Nachfolger Miro Cerar (von der erst 2014 gegründeten, auf europäischer Ebene nicht vernetzten Partei SMC) die Regierungsgeschäfte übernahm, musste Bratušek als eine ihrer letzten Amtshandlungen allerdings noch das slowenische Mitglied der neuen EU-Kommission vorschlagen. Dafür schickte sie dem Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) eine Liste mit drei Namen, von denen er einen aussuchen sollte: die Europaabgeordnete Tanja Fajon (SD/SPE), der slowenische Außenminister Karl Erjavec (DeSUS/ALDE-nah) – und Bratušek selbst. In Slowenien stieß diese Selbstnominierung teils auf heftige Kritik. Juncker jedoch entschied sich tatsächlich für sie und stellte sie als Energie-Vizepräsidentin auf.

Zum eigentlichen Verhängnis aber wurde der Kandidatin ihre mangelnde Vorbereitung bei der Anhörung im Umweltausschuss des Parlaments. Die Abgeordneten (ohnehin schon verärgert darüber, dass in der neuen Kommission das Ressort Klima dem Energiebereich untergeordnet werden soll) warfen ihr vor, auf entscheidende Fragen keine Antworten zu geben, und stimmten mit großer Mehrheit gegen sie. Und obgleich sowohl Juncker als auch die ALDE-Fraktion Bratušek bis zuletzt zu retten versuchten, erklärte sie am gestrigen Donnerstagnachmittag schließlich ihren Rückzug von der Kandidatur.

Der Vorstoß von EVP und S&D

Damit aber gab sich die Parlamentsmehrheit noch nicht zufrieden. Denn nach dem Aus für Bratušek wird natürlich die Nominierung eines neuen slowenischen Kandidaten notwendig (bzw. einer Kandidatin, um die mühsam erreichte Quote von neun weiblichen Kommissionsmitgliedern zu halten). Und die beiden großen Fraktionen präsentierten auch gleich einen Namen dafür: Tanja Fajon, sozialdemokratische Europaabgeordnete und die zweite Frau auf der ursprünglichen slowenischen Vorschlagsliste. So erklärte die EVP in einer Pressemitteilung, dass Fajon „die Bedingungen perfekt erfüllen“ würde. Die S&D ging sogar noch weiter und kündigte an, „[j]ede andere Option“ würde „der Sozialdemokratischen Fraktion nicht sinnvoll erscheinen“. Was das heißt, ist nicht schwer zu verstehen: Jede andere Kandidatin als Fajon muss damit rechnen, bei der Anhörung ebenso durchzufallen wie Bratušek.

Für eine solch klare Position des Europäischen Parlaments gibt es nur einen einzigen Präzendenzfall: das Spitzenkandidatenverfahren bei der vergangenen Europawahl, wo die Abgeordneten ebenfalls ankündigten, dass sie keinen anderen als den Wahlsieger Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsidenten akzeptieren würden. Doch während damals das Parlament nahezu geschlossen hinter dieser Forderung stand, stieß sie diesmal auf heftige Kritik von Seiten der ALDE-Fraktion. Denn schließlich würde der Wechsel von Bratušek zu Fajon auch bedeuten, dass die Liberalen einen Kommissarsposten weniger, die Sozialdemokraten einen mehr besetzen würden.

Uneinigkeit in der slowenischen Regierung

Und dann gibt es da natürlich auch noch die neue slowenische Regierung unter Miro Cerar. Dieser war bereits im Sommer verärgert gewesen, dass Bratušek sich selbst als Kandidatin aufgestellt hatte. Ihre Ablehnung im Umweltausschuss des Parlaments ist für ihn deshalb auch die Chance, eine eigene, ganz neue Kandidatin ins Spiel zu bringen: Violeta Bulc (SMC/–), Parteifreundin Cerars und seit Mitte September Vizepräsidentin in seiner Regierung. Sofort nachdem die Forderungen der EVP- und S&D-Fraktion bekannt wurden, erklärte er deshalb, er werde kein „Ultimatum“ akzeptieren und selbst über das neue slowenische Kommissionsmitglied entscheiden.

Doch auch in Cerars Kabinett ist die Nominierung umstritten, denn die SMC regiert nicht allein, sondern in einer Koalition mit der ALDE-nahen Rentnerpartei DeSUS – und mit eben jenen Sozialdemokraten, denen auch Tanja Fajon angehört. Noch am heutigen Freitagmorgen gab es deshalb keine klare Entscheidung, wie sich die slowenische Regierung letztlich positionieren würde. Allerdings lief das Gerücht, dass sich Cerar über seine Koalitionspartner hinwegsetzen und Bulc im Alleingang nominieren wolle.

Aus verfassungsrechtlicher Sicht unlösbar

Was ist nun von alledem zu halten? Aus verfassungsrechtlicher Sicht scheint der Konflikt um Fajon und Bulc ebenso wenig zu beantworten wie die Frage der Spitzenkandidaten im Frühsommer. Nach Art. 17 Abs. 7 EU-Vertrag werden die Kommissarskandidaten auf Vorschlag der nationalen Regierungen vom Ministerrat nominiert und vom Europäischen Parlament bestätigt. An welche politischen Bedingungen das Parlament diese Bestätigung knüpft, bleibt hingegen ganz den gewählten Abgeordneten überlassen: Wenn sie sich darauf verlegen wollen, jede Kommission ohne Fajon abzulehnen, so wäre das ihr gutes Recht. Notfalls müsste dann die alte Kommission Barroso weiter die Geschäfte führen, bis der politische Konflikt gelöst ist.

Umgekehrt scheint die Forderung Cerars, das slowenische Kommissionsmitglied selbst zu bestimmen, rechtlich weniger gut gestützt. Selbst wenn es den bisherigen Gepflogenheiten entspricht, dass jede nationale Regierung sich ihren Kommissar frei aussuchen darf: De jure ist es der Ministerrat, der die Kandidaten nominiert. Dies erfolgt zwar „auf der Grundlage der Vorschläge der Mitgliedstaaten“ – doch da Slowenien im Sommer ja bereits eine Vorschlagsliste unterbreitet hat, könnte Cerar sich nicht beklagen, wenn der Rat nun mit Fajon eine der anderen Personen auf dieser Liste auswählt.

Allerdings werden die übrigen Regierungen im Rat nur wenig Interesse daran haben, ihren slowenischen Kollegen solcherart vorzuführen (und überdies einen Präzedenzfall zu setzen, der sich irgendwann gegen sie selbst wenden könnte). Und damit stehen nun alle Zeichen auf eine Machtprobe zwischen der slowenischen Regierung und der Großen Koalition im Europäischen Parlament.

Und die Demokratie?

Und wenn man die verfassungsrechtliche Perspektive verlässt und den Konflikt unter demokratischen Gesichtspunkten betrachtet? Im ersten emotionalen Aufwallen gestern gab es nicht wenige Kommentatoren, die EVP und S&D ein undemokratisches Verhalten vorwarfen; der slowenische ALDE-Abgeordnete Ivo Vajgl (DeSUS) sprach in einer Presseerklärung gar von einer „Kampfansage an die Souveränität Sloweniens“. Denn natürlich sind die Forderungen der Parlamentsmehrheit eine deutliche Veränderung gegenüber dem, was bisher bei der Ernennung der Europäischen Kommission üblich war. Und anders als das Spitzenkandidatenverfahren bei der Europawahl wurden sie auch nicht schon Monate im Voraus angekündigt und öffentlich diskutiert.

Andererseits: Ich selbst habe dem Parlament auf diesem Blog bereits Ende 2012 einmal fast genau diese Vorgehensweise vorgeschlagen (allerdings nicht nur in Bezug auf eine einzelne Kommissarin, sondern auf die gesamte Kommission). Denn in Wirklichkeit ist der Kurs, den die Große Koalition gerade einschlägt, keineswegs undemokratisch, sondern schlicht der Versuch, die Modalitäten eines parlamentarischen Regierungssystems auf europäischer Ebene zu etablieren.

Nur das Parlament ist von allen Unionsbürgern gewählt

Der EU-Vertrag verpflichtet die Mitglieder der Europäischen Kommission auf das europäische Gesamtinteresse. Die nationalen Regierungen hingegen sind durch die demokratischen Wahlmechanismen lediglich ihrer jeweils eigenen nationalen Wählerschaft Rechenschaft schuldig. Die Nominierung der Kommissare durch die Regierungen ist damit an sich bereits ein latenter Widerspruch (was übrigens auch ein europaskeptischer Abgeordneter in einer der Anhörungen letzte Woche treffend zum Ausdruck brachte). Das Europäische Parlament hingegen ist von allen Unionsbürgern gemeinsam gewählt und damit strukturell allen Europäern verantwortlich. Was also läge näher, als dass die Abgeordneten auch die Namen der Kommissionsmitglieder bestimmen sollten?

Auf den konkreten Fall bezogen: Als deutscher, polnischer oder portugiesischer Bürger habe ich keinerlei Einfluss darauf, welche Entscheidung Miro Cerar bezüglich des slowenischen Kommissionsmitglieds trifft. Wie sich die sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament in dieser Frage verhält, kann ich hingegen in meine nächste Europawahlentscheidung einfließen lassen – und bekomme dadurch eine Möglichkeit zur demokratischen Mitbestimmung.

Das Parlament braucht Macht, um Verantwortung zu tragen

Und das gilt natürlich nicht nur für Fajon, sondern auch für die übrigen umstrittenen Kandidaten – seien es die Christdemokraten Miguel Arias Cañete und Tibor Navracsics oder der Sozialdemokrat Pierre Moscovici. Sie alle entziehen sich meinem Einfluss, wenn ich das Prinzip akzeptiere, dass sie ihr Amt in der Europäischen Kommission in erster Linie ihren nationalen Regierungen verdanken. Wenn ich die Verantwortung für ihre Ernennung hingegen im Europäischen Parlament verorte, so wird schnell deutlich, wie ich bei meiner nächsten Wahlentscheidung zu ihnen Stellung beziehen und sie gegebenenfalls abwählen kann.

Nur: Dafür muss die Mehrheit im Europäischen Parlament auch die Macht haben, diese Verantwortung zu tragen. Solange sich die Große Koalition darauf herausreden kann, dass sie nun einmal die Namen akzeptieren musste, die ihr von den nationalen Regierungen vorgelegt wurden, können die übrigen Parteien ihr diese Personalentscheidungen nur schwer zum Vorwurf machen. Die Ernennung Fajons hingegen fiele voll und ganz in die Verantwortung von S&D und EVP. Und gleichgültig, ob Fajon für das Amt besonders gut geeignet ist oder nicht: Allein schon aus diesem Grund täten die ALDE, die übrigen Fraktionen und die demokratisch interessierte Öffentlichkeit gut daran, sich in dem jetzt womöglich anstehenden institutionellen Machtkampf nicht auf die Seite Miro Cerars zu schlagen.

Bilder: by Friends of Europe [CC BY 2.0], via Flickr.

1 Kommentar:

  1. Hallo Herr Müller,

    ich kann zwar nicht sagen, ob die Debatte tatsächlich heftiger ist, allerdings würde dies meine Vermutung bestätigen, dass durch die schrumpfenden Mehrheiten (der großen etablierten Parteien) die Partikularinteressen stärkere Bedeutung bekommen, wie ich das hier schon mal angemerkt habe.

    Eine Chance für die Demokratie sehe ich nicht wirklich. Für den Informierten mag das Verfahren nun eine Winzigkeit demokratischer sein, das empfinde ich auch so, aber in der breiten Masse wird vermutlich nur ein „Postengeschacher“ der „großen Koalition im EP“ ankommen – befürchte ich.

    Insgesamt wieder ein schöner Beitrag mit guten Hintergrundinformationen.

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