Es
hat schon fast etwas Routiniertes an sich: Am morgigen Mittwoch
werden die Europaabgeordneten wieder
einmal darüber debattieren, ob es nicht besser wäre, das
ständige Pendeln zwischen Straßburg und Brüssel aufzugeben. Wieder
einmal wird viel von jährlich 180 Millionen Euro unnötiger Kosten
für die europäischen Steuerzahler, von 19.000 Tonnen unnützer
CO2-Ausstöße, von zwei Dutzend sinnlosen Reisetagen für
die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter die Rede sein. Wieder einmal
wird sich eine große Mehrheit dafür aussprechen, nur noch einen
einzelnen Parlamentssitz zu unterhalten – wie zum Beispiel schon in
einer Resolution
von 2013, in Absatz
52-53 der Verhofstadt-Resolution vom 16. Februar 2017 oder in
Absatz
31 einer Resolution vom 27. April 2017.
Und
wieder einmal wird zuletzt nicht viel passieren: Denn die multiplen
Sitze des Parlaments sind in den EU-Verträgen festgeschrieben, für
deren Reform die französische Regierung ein Vetorecht besitzt. Die
aber verteidigt Straßburg nun schon seit Jahrzehnten mit Händen und
Füßen. Schließlich bringen die regelmäßigen Besuche des
Europäischen Parlaments der Stadt nicht nur Sichtbarkeit, sondern
auch Einnahmen für ihre Hoteliers und Restaurantbetreiber.
Oder
besteht doch Hoffnung, dass sich diesmal etwas ändert? Wenigstens
zwei Aspekte, an die vor kurzem noch niemand denken konnte, dürften
der ewigen Debatte diese Woche einen neuen Dreh geben. Doch dazu
gleich mehr.
Symbolische
Wahl Straßburg
Die
Hintergründe des Sitze-Streits sind schnell erklärt. Als 1952 die
ersten Vorläufer der heutigen EU-Institutionen eingerichtet wurden,
wollte man diese aus machtpolitischen Gründen bewusst nicht in einem
der großen Mitgliedstaaten platzieren, sondern im kleinen,
unprätentiösen Luxemburg. Allerdings fand sich dort kein freies
Gebäude, das groß genug war, um als Plenarsaal für das Europäische
Parlament in Frage zu kommen. Die Wahl fiel deshalb auf das
nahegelegene Straßburg, wo sich schon der Sitzungssaal des kurz
zuvor gegründeten Europarats befand.
Für
Straßburg sprach außerdem auch die symbolische Dimension dieses
Ortes: Unmittelbar an der deutsch-französischen Grenze gelegen,
gehörte die Stadt zu den Hauptleidtragenden der früheren Kriege
zwischen den beiden Ländern. Und schließlich besaß auch das
Europäische Parlament in den Anfangsjahren noch so gut wie keine
politischen Kompetenzen; seine wichtigste Funktion bestand darin,
eine Bühne für feierliche Reden zu Frieden und Eintracht zu sein.
Warum also nicht auch mit der Wahl des Sitzes ein Zeichen für die
deutsch-französische Aussöhnung setzen?
Das
Parlament will nach Brüssel
Als
das Parlament dann wirklich seine Arbeit aufnahm, waren die
Abgeordneten jedoch nicht bereit, sich mit dieser rein zeremoniellen
Rolle zu begnügen. Sie wollten vor Ort sein, wo die Entscheidungen
fielen – und das war am Sitz der Europäischen Kommission, die sich
ab 1957 in Brüssel befand. Die Mitgliedstaaten kamen diesem
Umzugswunsch des Parlaments jedoch nicht nach, sondern blieben bei
Straßburg als dem offiziellen Arbeitsort, womit eine jahrzehntelange
Auseinandersetzung begann.
1981
beschloss das Parlament schließlich, in Straßburg künftig nur noch
Plenarsitzungen abzuhalten, Ausschuss- und Fraktionssitzungen
hingegen in Brüssel. Diese unpraktische Maßnahme war in erster
Linie dazu gedacht, den Europäischen Rat unter Druck zu setzen. Doch
zur Verblüffung und Frustration des Parlaments machten die
nationalen Regierungen daraus 1992 (nach langen Auseinandersetzungen
zwischen Belgien und Frankreich) eine Dauerlösung, die 1997 auch
noch in einem Protokoll
zum EU-Vertrag verankert wurde.
Single-Seat-Kampagne
Damit
war der viel kritisierte „Wanderzirkus“ in der Welt, und es
begannen die bis heute andauernden Bemühungen des Parlaments,
Brüssel als alleinigen Sitz zu etablieren. Nach Inkrafttreten des
Vertrags von Lissabon rief eine parteiübergreifende
Parlamentariergruppe die Single-Seat-Kampagne
ins Leben, die heute von rund drei Vierteln der Abgeordneten sowie
von allen Parlamentsfraktionen mit Ausnahme der rechtspopulistischen
ENF und EFDD unterstützt
wird.
Zentrale
Forderung der Kampagne ist, dass das Parlament selbst das Recht
erhalten soll, über seinen
Tagungsort zu entscheiden.
Nach der derzeitigen Stimmung unter den Abgeordneten würde das auf einen
Komplettumzug nach Brüssel hinauslaufen.
Dieser Lösung aber hat sich
vor allem Frankreich (unter
wechselnden Regierungen)
immer verweigert.
Dass
einige im Europäischen
Parlament jetzt dennoch die
Chance auf einen Durchbruch sehen,
liegt zum
einen daran, dass in
Frankreich gerade ein offen europafreundlicher Präsident gewählt
wurde. Emmanuel
Macron (LREM/–) hat sich
bislang zwar nicht öffentlich zur Straßburg-Frage geäußert, ihm
wird
jedoch nachgesagt, für Kompromisse offener zu sein als seine
Vorgänger –
auch wenn die bekannteste Single-Seat-Befürworterin in seiner
Regierung, die langjährige Europaabgeordnete Sylvie Goulard
(MoDem/ALDE), inzwischen
zurückgetreten ist.
Der
Brexit als Chance
Der
Hauptgrund für den neuen vorsichtigen Optimismus im Parlament ist
jedoch ein anderer. Jenseits
des Nationalstolzes auf
Straßburg
als „europäische
Hauptstadt“
ist ein wesentlicher Grund
für Frankreichs
Blockadehaltung nämlich wirtschaftlicher Art:
Was
sollte die
Stadt nach einem Wegzug des
Europäischen Parlaments mit
dem dann leerstehenden Plenargebäude
anfangen? Wie könnten die
wegfallenden Einnahmen ausgeglichen
werden, die ihr durch
die prominenten Pendler entstehen?
Seit
kurzem aber gäbe es die Chance, Straßburg in diesen Fragen ein
Angebot zu machen. Auslöser
dafür ist, wie so oft in
letzter Zeit, der Brexit. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der
EU müssen nämlich auch die beiden in London angesiedelten
EU-Behörden einen neuen Sitz bekommen: die Europäische
Bankenaufsicht (EBA) und die Europäische
Arzneimittelagentur (EMA). Vor
allem Letztere ist eine große Behörde mit hunderten Mitarbeitern,
an deren Konferenzen jährlich
tausende Experten teilnehmen.
Sie in Straßburg anzusiedeln
würde deshalb die
wirtschaftlichen Verluste eines Wegzugs des Europäischen Parlaments
weitgehend kompensieren –
und hätte
zudem noch eine
gewisse sachliche Logik: Immerhin
ist Straßburg
schon heute auch Sitz der
europäischen
Arzneibuch-Kommission (EDQM) des Europarats.
Ein
Deal im gesamteuropäischen Interesse
Ein
Deal, bei dem Straßburg die Europäische Arzneimittelagentur
zugesprochen bekommt und Frankreich dafür eine Vertragsreform im
Sinne der Single-Seat-Kampagne akzeptiert, würde also dem
gesamteuropäischen Interesse
entsprechen, ohne irgendeinen
Beteiligten deutlich schlechter zu stellen als bisher –
nicht verwunderlich also, dass die Europaabgeordneten gerade
jetzt einen neuen Vorstoß versuchen.
Dass
es dazu kommt, ist nach Stand der Dinge dennoch eher
unwahrscheinlich. Denn zum
einen dürfte es Macron auf
einer symbolischen Ebene trotz allem schwerfallen, der französischen
Öffentlichkeit eine bloße Agentur als angemessenen Ersatz für den
Straßburger Parlamentssitz zu präsentieren.
Und
zum anderen weckt die Arzneimittel-Agentur
auch in anderen
Mitgliedstaaten Begehrlichkeiten: Nicht
weniger als 21
Länder würden
sie gerne
in einer ihrer Städte beherbergen. Für
die Ansiedlungsentscheidung hat sich der Europäische Rat deshalb
jüngst ein
etwas skurriles mehrstufiges Verfahren ausgedacht, mit dem bis
November ein neuer Sitz gefunden werden soll. Ein
Deal mit dem Europäischen Parlament ist bei diesem Gerangel der
nationalen Partikularinteressen nicht vorgesehen. Auch
die deutsche Bundesregierung setzt sich lieber dafür ein, die
EMA in Bonn anzusiedeln, als die
europäische Pendelei
zwischen Brüssel und
Straßburg zu beenden.
Die
Straßburg-Lobby
Und
noch ein Faktor schwächt die Befürworter eines Komplettumzugs des
Europäischen Parlaments nach Brüssel: Das dortige Plenargebäude
ist nämlich seit längerem sanierungsbedürftig, und wie vor einigen
Wochen bekannt wurde, ist die Parlamentsverwaltung der Ansicht, dass
es am
besten komplett neu gebaut werden sollte. Das wäre nicht
nur teuer, sondern würde auch eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen.
Sollte das Parlament seinen
Zweitsitz in Straßburg also gerade dann aufgeben, wenn der Erstsitz
in Brüssel unbenutzbar ist?
Tatsächlich
könnte die Baufälligkeit des Brüsseler Parlamentsgebäudes einer
anderen Gruppierung in die Hände spielen, die bislang nur ein
Schattendasein führt: Der
Kampagne Strasbourg
The Seat, die sich dafür
einsetzt, Straßburg als Sitz
zu erhalten – und, wenn man das
ständige Pendeln des Europäischen Parlaments unbedingt
beenden will,
lieber auf den Standort
Brüssel zu
verzichten. Dieser
Vorschlag findet wenig überraschend vor allem in Frankreich viele
Freunde, wird aber auch von einzelnen Politikern
aus anderen Ländern
unterstützt.
Entscheidend
bleibt die räumliche Nähe zur Kommission
Was
ist nun von all dem zu halten? Die
Faktoren,
die im Einzelnen für Brüssel und für Straßburg sprechen, sind
vielfältig und mit wenig Aufwand auf den Webseiten der jeweiligen
Kampagnen zu finden. Entscheidend
bleibt in meinen Augen jedoch jenes
Argument, das die Europaabgeordneten schon seit den 1950er Jahren
nach Brüssel gedrängt hat:
die räumliche Nähe zur Europäischen Kommission.
Es
gibt weltweit einige Beispiele für starke Verfassungsgerichte, die
nicht in der jeweiligen Hauptstadt ihres Landes angesiedelt sind: das
deutsche Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe etwa, oder das tschechische
Verfassungsgericht in Brünn. Die
räumliche Trennung unterstreicht hier die Gewaltenteilung: Die
Judikative soll
einer anderen Logik folgen
als die legislative und die
exekutive Gewalt;
und wenn ein Gericht ein Gesetz auf seine Verfassungskonformität überprüft, ist
es wünschenswert, dass es sich nicht zu sehr in die politischen
Diskurse hineinziehen lässt, die zum Entstehen dieses Gesetzes
geführt haben.
Zwischen
Legislative und Exekutive aber soll es in einem parlamentarischen
Regierungssystem gerade keine strikte Trennung geben. Vielmehr
soll das von den Bürgern
gewählte Parlament die
Regierung wählen und kontrollieren,
sodass die politische Ausrichtung der Parlamentsmehrheit und der
Regierung möglichst eng
übereinstimmen. Für diese
Kontrolle des Parlaments
über die Exekutive aber ist
eine gewisse räumliche Nähe unabdingbar. Nicht
zufällig gibt es deshalb mit
Südafrika und Chile weltweit
nur zwei Staaten,
in denen das Parlament seinen Sitz nicht in derselben Stadt hat wie
die Regierung. Und
im Fall Chiles fiel die
Entscheidung für den externen Parlamentssitz im
Jahr 1987, unter
der Diktatur von Augusto Pinochet.
Verantwortlich
sind die nationalen Regierungen
Wenn
wir die Europäische Union zu einem starken parlamentarischen System
weiterentwickeln wollen –
und es spricht vieles dafür, dass das der
beste Weg zu mehr europäischer Demokratie ist –, dann
sollten wir dem
mehrheitlichen Wunsch der
Europaabgeordneten folgen und
das Europäische Parlament
dauerhaft und ausschließlich
in Brüssel ansiedeln. Straßburg
war ein schönes deutsch-französisches Symbol in den Anfangsjahren
der europäischen Integration, aber in der heutigen Zeit hat es seine
Bedeutung verloren. Worum es
heute gehen muss, ist die
demokratische Kontrolle der Europäischen Kommission durch das
gewählte
Parlament, und dafür
ist ein gemeinsamer Sitz der Institutionen in der EU-Hauptstadt
Brüssel ohne Zweifel die beste Lösung.
Nur:
Herbeigeführt werden kann
diese Lösung allein
durch die nationalen
Regierungen, ohne die eine Reform der
EU-Verträge
nicht möglich ist. Sie
sind es, die wir Bürger zur Verantwortung ziehen müssen, wenn sie
nicht bereit sind,
ihre nationalen
Partikularinteressen beiseite
zu legen, um den unwürdigen
Wanderzirkus um das
Europäische Parlament zu beenden.
Bild: Andrew and Annemarie [CC BY-SA 2.0], via Flickr.
Grundsätzlich sollte das Parlament nicht nur das Recht haben, sich seinen Sitz selbst auszusuchen, sondern auch ein echtes Budgetrecht und ein Initiativrecht. mich wundert, dass Du als Föderalist nun nur die erste Forderung unterstützt, die noch dazu einem Föderalsystem widerspricht. Brüssel als "Single Seat" bedeutet weitere Zentralisierung der Entscheidung und weitere Staatswerdung der EU, aber eben ohne echte Demokratie (Initiativ- und Budgetrecht). Schwach finde ich auch, dass Du das populistische "Wanderzirkus"-Argument aufgreifst. Wenn überhaupt, dann müsste man im selben Atemzug Luxemburg nennen, wohin viel mehr Reisen stattfinden als nach Straßburg. Im übrigen reisen viele Abgeordnete eben nicht aus Brüssel nach Straßburg, sondern von ihrem Wahlkreis, bzw. nach Straßburg fahren sie dahin zurück, Vor allem bei deutschen MEP ist dieser Trend stark ausgeprägt. Der eigentliche "Wanderzirkus" findet ohnehin zwischen dem Parlament und den Wahlkreisen statt - aber das gehört in einem parlamentarischen System dazu und wird zurecht nicht kritisiert. Last but not least ist der Zeitpunkt der Initiative eben nicht gut gewählt, sondern geschmacklos - vier Tage, nachdem das Straßburger Parlament zur Totenhalle bzw. zum Pantheon für Helmut Kohl umfunktioniert wurde. Mehr dazu auf meinem Blog: http://lostineu.eu/nach-trauerfeier-strassburg-ade/
AntwortenLöschenBudgetrecht und Initiativrecht für das Parlament: Na klar, jederzeit. Von der Notwendigkeit europäischer Steuern und Anleihen, über die allein das Europäische Parlament entscheiden sollte, war auf diesem Blog auch schon öfter die Rede, zum Beispiel hier, hier oder hier. Das Initiativrecht fürs Parlament finde ich ebenfalls richtig, halte aber die Relevanz, die diesem Thema in der öffentlichen Debatte zugeschrieben wird, für übertrieben, wie ich hier näher erklärt habe.
LöschenFöderalismus und Zentralisierung: Es ist gerade Kennzeichen des Föderalismus, dass er nicht pauschal für Zentralismus oder Dezentralismus ist, sondern eine "rationale", an Sachargumenten orientierte Balance anstrebt. (Das unterscheidet ihn von der Idee der nationalen Souveränität, bei der eine Entscheidungsebene – die nationale – gegenüber allen anderen bevorzugt wird.) In Bezug auf den Sitz der Institutionen gibt es starke sachliche Argumente, die dafür sprechen, Parlament und Exekutive am selben Ort anzusiedeln, um eine effektive demokratische Kontrolle zu ermöglichen. Jedenfalls aber sollte die Entscheidung darüber gemeinsam und demokratisch fallen. Das französische Beharren auf seinem Vetorecht widerspricht dagegen jedem föderalistischen Ansatz.
Wahlkreise: Sicher, die Abgeordneten reisen nach Straßburg in der Regel aus ihren Wahlkreisen an, sodass das Straßburg-Brüssel-Pendeln für sie nur eine, nicht zwei unnötige Reisen bedeutet. Aber es sind ja nicht nur die Abgeordneten, die nach Straßburg müssen, sondern auch hunderte Mitarbeiter und tonnenweise Aktenmaterial. Hinzu kommt der Unterhalt der zusätzlichen Büros usw. Ich denke nicht, dass man bei den Ausgaben des Parlaments allzu knausrig sein sollte – eine funktionierende Demokratie hat eben ihren Preis, und wenn die Straßburg-Pendelei zu einer besseren europäischen Demokratie beitragen würde, hätte ich nichts dagegen, dass wir uns das auch etwas kosten lassen. Aber da der Doppelsitz in Wirklichkeit keinen demokratischen Mehrwert bietet, erscheint es mir auch nicht populistisch, die Ausgaben dafür als unnötige Verschwendung zu kritisieren. (Gleiches gilt natürlich auch für den "Drittsitz" der Parlamentsverwaltung in Luxemburg.)
Helmut Kohl: Was hat denn das damit zu tun? Der Zeitpunkt für den jüngsten Single-Seat-Vorstoß hat damit zu tun, dass die Entscheidung über den neuen Sitz der EMA kurz bevorsteht. Der zeitliche Zusammenfall mit Helmut Kohls Tod und dem Staatsakt im Straßburger Plenarsaal ist reiner Zufall. Und übrigens war Kohl während seiner Kanzlerschaft für einen guten Deal mit Frankreich, bei dem niemand mit leeren Händen zurückbleibt, immer zu haben...