03 November 2016

Streit bei den Grünen: Dürfen Proeuropäer die EU kritisieren?

An diesem europäischen Blumenbeet gibt es nun wirklich nichts auszusetzen.
Bei der Europäischen Grünen Partei (EGP) hing zuletzt der Haussegen ein wenig schief. Nicht nur, dass sie sich bereits seit fast zwei Jahren in einem Umfragetief befinden – vor zwei Wochen gab auch noch Rebecca Harms, die seit 2009 eine der beiden grünen Fraktionsvorsitzenden im Europäischen Parlament gewesen war, ihren Rücktritt bekannt. In einem Interview im Deutschlandfunk übte sie dabei einige Kritik an ihren Fraktionskollegen: Anders als in der Wahlperiode 2009-14 seien die Grünen heute nicht mehr „so bedingungslos pro Europäische Union, wie das in diesen Zeiten und dieser Auseinandersetzung gefragt ist“. Stattdessen gebe es „eine zu starke Ja-aber-Haltung“, manche sähen in der EU gar eine Bedrohung für die Demokratie.

Für die EU, aber kritisch in der Sache?

Wenige Tage später erwiderte darauf, ebenfalls im Deutschlandfunk, der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold. Zum einen komme Harms’ Rücktritt keineswegs überraschend. Intern sei schon lange geplant gewesen, dass sie den Fraktionsvorsitz nach der Hälfte der Wahlperiode an Ska Keller abgeben würde, die bei der Europawahl 2014 als EGP-Spitzenkandidatin angetreten war. Und zum anderen seien die Grünen allesamt „begeisterte Europäer“. Wenn sie Kritik übten, dann nur um sich „für ökologische und soziale Veränderung“ einzusetzen, etwa wenn „die EU Atomkraftwerks-Subventionen zulässt, […] täglich Menschen im Mittelmeer ersaufen, oder […] Steueroasen begünstigt werden“.

Für die EU, aber kritisch in der Sache: Tatsächlich scheint dies die Linie zu sein, zu der die europäischen Grünen wenigstens in ihrem öffentlichen Auftritt derzeit konvergieren. Schon kurz vor Harms’ Rücktrittsankündigung äußerte sich ganz ähnlich zum Beispiel auch Reinhard Bütikofer, Parteivorsitzender der EGP, in einem Interview auf EurActiv:
Unser Anspruch ist, unter den pro-europäischen Parteien die zu sein, die sich nicht scheut, auch Kritik zu formulieren, und unter den Kritikern diejenige Kraft zu sein, die verlässlich am europäischen Einigungsprojekt festhält.
Und Jan Philipp Albrecht fasste auf Twitter zusammen:

Loyale Opposition

Für eine Partei, die weder in der Europäischen Kommission noch im Europäischen Rat vertreten ist und auch im Europäischen Parlament oft überstimmt wird, scheint das erst einmal eine durchaus plausible Haltung zu sein. Letztlich entspricht sie der Idee einer „loyalen Opposition“, die sich zwar inhaltlich der regierenden Mehrheit entgegenstellt, dabei aber doch vorbehaltlos die Legitimität des politischen Systems anerkennt, aus dem die Regierung ihre Macht bezieht.

Nur: Ist das tatsächlich eine sinnvolle Haltung im Umgang mit der Europäischen Union? Funktionieren die europäischen Institutionen wirklich so gut, dass man sich nur noch auf Sachdebatten zu konzentrieren braucht? Mir scheint, die Grünen drohen es sich in dieser Frage gerade etwas zu einfach zu machen.

Demokratische Alternanz

Die Haltung einer loyalen Opposition ergibt vor allem dann Sinn, wenn man in einem System mit funktionierender demokratischer Alternanz lebt, in dem sich zwei oder mehr Parteien (oder Koalitionen von Parteien) je nach Wählergunst an der Regierung abwechseln. Die Minderheitsparteien erfüllen dann die Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren und Bürgern, die mit der Regierung unzufrieden sind, eine Alternative zu bieten.

Dass Regierung und Opposition dauerhaft auf eine gemeinsame Linie kommen, ist in einem solchen System weder vorgesehen noch notwendig. Was sie eint, ist die Loyalität zu dem System selbst, das beiden Seiten bei jeder Wahl erneut eine faire Möglichkeit gibt, selbst eine Mehrheit zu erringen, um dann ihre jeweils eigene Politik umzusetzen. In der Sache aber müssen die Oppositionsparteien wenigstens teilweise andere Positionen vertreten als die Regierung – sonst wären sie als Wahlalternative nutzlos. Wenn sie Kritik an der Regierung üben und Vorschläge machen, wie man Dinge anders oder besser tun könnte, dann geht es ihnen also nicht wirklich darum, die Regierung selbst von diesen Alternativen zu überzeugen. Ihr eigentlicher Adressat sind vielmehr die Wähler, deren Unterstützung sie bei der nächsten Wahl gewinnen wollen.

Zwang zur großkoalitionären Zusammenarbeit

Im politischen System der Europäischen Union gibt es jedoch keine funktionierende Alternanz. Wie ich an anderer Stelle ausführlicher beschrieben habe, sind die Verfahren der EU eher auf Konsens ausgelegt – was de facto die drei größten europäischen Parteien, die christdemokratische EVP, die sozialdemokratische SPE und die liberale ALDE, zu einer permanenten großkoalitionären Zusammenarbeit zwingt.

Gleichzeitig bedeutet diese permanente Große Koalition aber auch, dass kleinere Parteien wie die Europäische Linke (EL), die nationalkonservative AKRE oder eben die Grünen strukturell einen deutlich geringeren Anteil an der Macht besitzen. Gewiss: Mit Alexis Tsipras (Syriza/EL), Theresa May (Cons./AKRE) und Beata Szydło (PiS/AKRE) stellen die kleinen Parteien derzeit drei Regierungschefs im Europäischen Rat. Auch in der Europäischen Kommission waren sie alle schon einmal vertreten und können das auch in Zukunft wieder sein. Im Europäischen Parlament können die kleinen Parteien sogar hier und da Einfluss auf die Formulierung eines Rechtsakts nehmen, und wenn im Rat Einstimmigkeit nötig ist, können sie einen Beschluss womöglich auch einmal ganz zu Fall bringen.

Es fehlt das zentrale Versprechen einer Opposition

Das zentrale Versprechen aber, das eine demokratische Opposition den Wählern bieten muss – „Bringt uns an die Regierung, damit sich etwas ändert!“ –, können die kleinen europäischen Parteien nicht abgeben: Denn konstruktiv entscheidungsfähig sind die EU-Institutionen in der Regel eben doch immer nur dann, wenn EVP und SPE zu einem Kompromiss finden. Am Ende ist deshalb die Große Koalition derzeit schlicht alternativlos – und zwar, um es noch einmal deutlich zu sagen, nicht nur aufgrund irgendeines Wahlergebnisses, sondern wegen der institutionellen Funktionsweise der EU.

Die Europäische Linke, noch mehr aber die AKRE und Rechtsaußenparteien wie ADDE und BENF ziehen daraus die naheliegende Schlussfolgerung, das System der EU selbst in Frage zu stellen. Zwar bietet ihr Nationalpopulismus in der Regel nur noch schlechtere Lösungen (der Brexit ist gerade das eindrucksvollste Beispiel dafür). Aber durch ihre Illoyalität zum politischen System der EU sind sie für die Wähler zumindest als echte Alternative zu erkennen.

Das EU-Demokratiedefizit ist real

Und die Grünen? Wenn sie sich darauf verlegen, nur noch in Sachthemen Kritik zu üben, dann stellt sich die Frage, wen sie mit ihren Argumenten eigentlich überzeugen wollen. EVP, SPE und ALDE benötigen sie nicht für die Mehrheitsbildung und können sie deshalb getrost überhören. Und solange sich an der permanenten Großen Koalition nichts ändert, macht es für die Wähler ebenfalls keinen großen Unterschied, ob die Grünen im Europäischen Parlament nun mit 30, 40 oder 50 Sitzen vertreten sind.

Nun könnte man die politische Strategie der Grünen natürlich einfach Sorge der Partei sein lassen. Doch auch demokratisch-normativ scheint mir der Ansatz, sich in der EU allein auf Sachdebatten zu beschränken, nicht zufriedenstellend. Denn hinter jenem institutionellen Konsenszwang, der die permanente Große Koalition bewirkt, steht ja ein wirkliches Demokratiedefizit, das letztlich den Einfluss der Wähler auf die europäische Politik vermindert. Die geringe Akzeptanz, unter der die EU heute leidet, ist nicht nur ein Kommunikationsproblem, sondern auch Ausdruck eines echten Mangels an demokratischer Legitimität.

Kann man „proeuropäisch“ sein und dennoch dieses Demokratiedefizit kritisieren? Ich denke, wenn man den Nationalpopulisten nicht das Feld überlassen will, führt daran kein Weg vorbei.

Freiheit, Gleichheit und Demokratie

Die europäische Integration ist kein Selbstzweck, sondern dient der Verwirklichung bestimmter übergeordneter politischer Ziele. Um welche Ziele es dabei geht, dazu kann man unterschiedliche Narrative entwickeln. Am überzeugendsten scheint mir ein Dreiklang aus Freiheit, Gleichheit und Demokratie: die Freiheit, das eigene Leben zu gestalten, ohne von nationalen Grenzen gehindert zu werden; die Gleichheit, unabhängig von der Herkunft überall dieselben Bürgerrechte zu genießen; die Demokratie, gemeinsame politische Angelegenheiten in gemeinsam gewählten Institutionen zu entscheiden.

Das politische System der EU in ihrer heutigen Form erfüllt diese Ziele besser als jedes System unabhängiger Nationalstaaten und besser als jede andere heute existierende internationale Organisation. Aber vollkommen verwirklicht sind sie noch nicht, und so ist die EU bis heute ein eigenartiges Halbwesen, die europäische Integration ein nur teilweise eingelöstes Versprechen. Und solange das so bleibt, steht auch die Legitimität der EU auf wackeligen Füßen.

Kritik bleibt notwendig

Um den Zielen gerecht zu werden, für die sie existiert, muss die EU sich also weiterentwickeln: in Richtung von mehr grenzüberschreitender Freiheit, mehr bürgerlicher Gleichheit und mehr überstaatlicher Demokratie. Ich denke nicht, dass man dafür die EU zerstören und durch ein völlig neues Gebilde ersetzen müsste, wie das etwa Ulrike Guérot vor einigen Monaten in der ZEIT forderte. Aber nur den Status quo zu verteidigen, ist auch keine Lösung. Und deshalb bleibt Kritik an der EU notwendig – nicht nur an einzelnen Sachentscheidungen, sondern auch an ihrer institutionellen Funktionsweise selbst.

Den europäischen Grünen aber sei ein Blick in ihr Europawahlprogramm von 2014 empfohlen. Darin forderten sie nicht weniger als „eine demokratische Erneuerung der EU“ und „einen neuen demokratischen Konvent“ zur Ausarbeitung einer Vertragsreform. Auf konkrete Initiativen in diese Richtung warten wir seither vergebens.

Bild: Rock Cohen [CC BY-SA 2.0], via Flickr.

3 Kommentare:

  1. Ich klammere mal das Innergrüne aus, aber ansonsten finde ich den Artikel top. Es wäre wichtig, dass die Strukturfehler der EU und die tiefen Wunden, die dadurch in die Europäische Idee des Miteinanders gerissen werden, auf das Tableau der öffentlichen Debatte gelangen.

    Daran müssen wir arbeiten. Jeder auf seine Weise, aber im Ziel und im Geist vereint.

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  2. Gerald Fix6/11/16 11:45

    Das zentrale Versprechen aber, das eine demokratische Opposition den Wählern bieten muss – „Bringt uns an die Regierung, damit sich etwas ändert!“ –, können die kleinen europäischen Parteien nicht abgeben

    Dieses Versprechen können die Grünen auch in Deutschland nicht abgeben. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Linkspartei (in einer Links-Koalition) dies im Bund könnte.

    Ich sehe hier tatsächlich den Widerspruch zwischen allen etablierten Parteien und ihrer Wählerschaft: Der Abgeordnete ist daran interessiert, Macht auszuüben und Entscheidungen zu treffen ("Opposition ist Mist", Franz Müntefering). Der Wähler ist - zumindest viele Wähler sind es - daran interessiert, dass seine politischen Positionen verteten werden, auch wenn dies Opposition bedeutet.

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    1. Das mag sein, aber es ist ein anderes Problem als das in diesem Artikel beschriebene. Natürlich müssen auch auf nationaler Ebene in einer Regierungskoalition alle Parteien Kompromisse machen und können ihr Programm nicht einfach umsetzen. Und natürlich gibt es in einem Mehrparteiensystem auch keinen einfachen direkten Zusammenhang zwischen der Zahl der Wählerstimmen und der Wahrscheinlichkeit einer Regierungsbeteiligung, weil dazwischen eben noch die Koalitionsfrage liegt.

      Aber: Wo auf nationaler Ebene die demokratische Alternanz funktioniert, darf man doch erwarten, dass sich nach einer Wahl die Parteien mit den größten inhaltlichen Überschneidungen zu einer Koalition zusammenfinden. In der EU hingegen liegt die permanente Große Koalition eben nicht darin begründet, dass EVP, SPE und ALDE so große programmatische Überschneidungen hätten. Vielmehr ist es so, dass für Entscheidungen der EU in aller Regel so große Mehrheiten in so vielen verschiedenen Institutionen notwendig sind, dass an einer Zusammenarbeit der größten Parteien einfach kein Weg vorbeiführt.

      In Deutschland können die Grünen oder Linken deshalb durchaus versprechen, dass sie nach der Wahl versuchen werden, einen (oder zwei) Koalitionspartner zu finden, mit dem sie möglichst viel von ihrer Programmatik umsetzen können. Auf EU-Ebene können sie das nicht.

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