Bei
der Europäischen Grünen Partei (EGP) hing zuletzt der Haussegen ein wenig schief.
Nicht nur, dass sie sich bereits seit fast zwei Jahren in einem
Umfragetief befinden
– vor zwei Wochen gab auch noch Rebecca Harms, die seit 2009 eine der beiden
grünen Fraktionsvorsitzenden im Europäischen Parlament gewesen war, ihren
Rücktritt bekannt. In einem Interview
im Deutschlandfunk übte sie dabei einige
Kritik an ihren Fraktionskollegen: Anders als in der Wahlperiode 2009-14 seien
die Grünen heute nicht mehr „so bedingungslos pro Europäische Union, wie das in
diesen Zeiten und dieser Auseinandersetzung gefragt ist“. Stattdessen gebe es „eine
zu starke Ja-aber-Haltung“, manche sähen in der EU gar eine Bedrohung für die
Demokratie.
Für die EU, aber
kritisch in der Sache?
Wenige
Tage später erwiderte darauf, ebenfalls im Deutschlandfunk, der grüne
Europaabgeordnete Sven Giegold. Zum einen komme Harms’ Rücktritt keineswegs
überraschend. Intern sei schon lange geplant gewesen, dass sie den
Fraktionsvorsitz nach der Hälfte der Wahlperiode an Ska Keller abgeben würde,
die bei der Europawahl 2014 als EGP-Spitzenkandidatin angetreten war. Und zum
anderen seien die Grünen allesamt „begeisterte Europäer“. Wenn sie Kritik
übten, dann nur um sich „für ökologische und soziale Veränderung“ einzusetzen, etwa
wenn „die EU Atomkraftwerks-Subventionen zulässt, […] täglich Menschen im
Mittelmeer ersaufen, oder […] Steueroasen begünstigt werden“.
Für
die EU, aber kritisch in der Sache: Tatsächlich scheint dies die Linie zu sein,
zu der die europäischen Grünen wenigstens in ihrem öffentlichen Auftritt derzeit konvergieren. Schon kurz vor Harms’
Rücktrittsankündigung äußerte sich ganz ähnlich zum Beispiel auch Reinhard
Bütikofer, Parteivorsitzender der EGP, in einem
Interview auf EurActiv:
Unser Anspruch ist, unter den pro-europäischen Parteien die zu sein, die sich nicht scheut, auch Kritik zu formulieren, und unter den Kritikern diejenige Kraft zu sein, die verlässlich am europäischen Einigungsprojekt festhält.
Und
Jan Philipp Albrecht fasste auf Twitter zusammen:
Wir @GreensEP verteidigen geschlossen als pro-europäische Kraft die EU und üben Kritik in der Sache an falschen Entscheidungen in Rat & EP.— Jan Philipp Albrecht (@JanAlbrecht) 25. Oktober 2016
Loyale Opposition
Für
eine Partei, die weder in der Europäischen Kommission noch im Europäischen Rat vertreten
ist und auch im Europäischen Parlament oft überstimmt wird, scheint das erst
einmal eine durchaus plausible Haltung zu sein. Letztlich entspricht sie der
Idee einer „loyalen
Opposition“,
die sich zwar inhaltlich der regierenden Mehrheit entgegenstellt, dabei aber doch
vorbehaltlos die Legitimität des politischen Systems anerkennt, aus dem die
Regierung ihre Macht bezieht.
Nur:
Ist das tatsächlich eine sinnvolle Haltung im Umgang mit der Europäischen
Union? Funktionieren die europäischen Institutionen wirklich so gut, dass man
sich nur noch auf Sachdebatten zu konzentrieren braucht? Mir scheint, die Grünen drohen es sich in dieser Frage gerade etwas zu einfach zu machen.
Demokratische Alternanz
Die
Haltung einer loyalen Opposition ergibt vor allem dann Sinn, wenn man in einem
System mit funktionierender demokratischer Alternanz lebt, in dem sich zwei
oder mehr Parteien (oder Koalitionen von Parteien) je nach Wählergunst an der
Regierung abwechseln. Die Minderheitsparteien erfüllen dann die Aufgabe, die
Regierung zu kontrollieren und Bürgern, die mit der Regierung unzufrieden sind,
eine Alternative zu bieten.
Dass
Regierung und Opposition dauerhaft auf eine gemeinsame Linie kommen, ist in
einem solchen System weder vorgesehen noch notwendig. Was sie eint, ist die
Loyalität zu dem System selbst, das beiden Seiten bei jeder Wahl erneut eine
faire Möglichkeit gibt, selbst eine Mehrheit zu erringen, um dann ihre jeweils eigene
Politik umzusetzen. In der Sache aber müssen die Oppositionsparteien wenigstens
teilweise andere Positionen vertreten als die Regierung – sonst wären sie als
Wahlalternative nutzlos. Wenn sie Kritik an der Regierung üben und Vorschläge
machen, wie man Dinge anders oder besser tun könnte, dann geht es ihnen also
nicht wirklich darum, die Regierung selbst von diesen Alternativen zu
überzeugen. Ihr eigentlicher Adressat sind vielmehr die Wähler, deren
Unterstützung sie bei der nächsten Wahl gewinnen wollen.
Zwang zur großkoalitionären Zusammenarbeit
Im
politischen System der Europäischen Union gibt es jedoch keine funktionierende
Alternanz. Wie ich an anderer
Stelle ausführlicher beschrieben habe, sind die Verfahren der EU eher auf
Konsens ausgelegt – was de facto die
drei größten europäischen Parteien, die christdemokratische EVP, die
sozialdemokratische SPE und die liberale ALDE, zu einer permanenten
großkoalitionären Zusammenarbeit zwingt.
Gleichzeitig
bedeutet diese permanente Große Koalition aber auch, dass kleinere Parteien wie
die Europäische Linke (EL), die nationalkonservative AKRE oder eben die Grünen strukturell
einen deutlich geringeren Anteil an der Macht besitzen. Gewiss: Mit Alexis
Tsipras (Syriza/EL), Theresa May (Cons./AKRE) und Beata Szydło (PiS/AKRE) stellen die kleinen Parteien derzeit drei
Regierungschefs im Europäischen Rat. Auch in der Europäischen Kommission waren
sie alle schon einmal vertreten und können das auch in Zukunft wieder sein. Im
Europäischen Parlament können die kleinen Parteien sogar hier und da Einfluss
auf die Formulierung eines Rechtsakts nehmen, und wenn im Rat Einstimmigkeit
nötig ist, können sie einen Beschluss womöglich auch einmal ganz zu Fall bringen.
Es
fehlt das zentrale Versprechen einer Opposition
Das zentrale Versprechen aber, das eine
demokratische Opposition den Wählern bieten muss – „Bringt uns an die
Regierung, damit sich etwas ändert!“ –, können die kleinen europäischen
Parteien nicht abgeben: Denn konstruktiv entscheidungsfähig sind die EU-Institutionen
in der Regel eben doch immer nur dann, wenn EVP und SPE zu einem Kompromiss finden. Am Ende
ist deshalb die Große Koalition derzeit schlicht alternativlos – und zwar, um
es noch einmal deutlich zu sagen, nicht nur aufgrund irgendeines
Wahlergebnisses, sondern wegen der institutionellen Funktionsweise der EU.
Die Europäische Linke, noch mehr aber die AKRE und
Rechtsaußenparteien wie ADDE und BENF ziehen daraus die naheliegende
Schlussfolgerung, das System der EU selbst in Frage zu stellen. Zwar bietet ihr
Nationalpopulismus in der Regel nur noch schlechtere Lösungen (der Brexit ist gerade das eindrucksvollste Beispiel dafür). Aber durch ihre Illoyalität zum politischen System der EU sind sie für
die Wähler zumindest als echte Alternative zu erkennen.
Das
EU-Demokratiedefizit ist real
Und die Grünen? Wenn sie sich darauf verlegen, nur
noch in Sachthemen Kritik zu üben, dann stellt sich die Frage, wen sie mit ihren
Argumenten eigentlich überzeugen wollen. EVP, SPE und ALDE benötigen sie nicht für
die Mehrheitsbildung und können sie deshalb getrost überhören. Und solange sich
an der permanenten Großen Koalition nichts ändert, macht es für die Wähler
ebenfalls keinen großen Unterschied, ob die Grünen im Europäischen Parlament
nun mit 30, 40 oder 50 Sitzen vertreten sind.
Nun könnte man die politische Strategie der Grünen
natürlich einfach Sorge der Partei sein lassen. Doch auch demokratisch-normativ
scheint mir der Ansatz, sich in der EU allein auf Sachdebatten zu beschränken,
nicht zufriedenstellend. Denn hinter jenem institutionellen Konsenszwang, der
die permanente Große Koalition bewirkt, steht ja ein wirkliches
Demokratiedefizit, das letztlich den Einfluss der Wähler auf die europäische
Politik vermindert. Die geringe Akzeptanz, unter der die EU heute leidet, ist nicht
nur ein Kommunikationsproblem, sondern auch Ausdruck
eines echten Mangels an demokratischer Legitimität.
Kann man „proeuropäisch“ sein und dennoch dieses
Demokratiedefizit kritisieren? Ich denke, wenn man den Nationalpopulisten nicht
das Feld überlassen will, führt
daran kein Weg vorbei.
Freiheit,
Gleichheit und Demokratie
Die europäische Integration ist kein Selbstzweck,
sondern dient der Verwirklichung bestimmter übergeordneter politischer Ziele. Um
welche Ziele es dabei geht, dazu kann man unterschiedliche
Narrative entwickeln. Am überzeugendsten scheint mir ein Dreiklang aus
Freiheit, Gleichheit und Demokratie: die Freiheit, das eigene Leben zu
gestalten, ohne von nationalen Grenzen gehindert zu werden; die Gleichheit, unabhängig
von der Herkunft überall dieselben Bürgerrechte zu genießen; die Demokratie, gemeinsame politische
Angelegenheiten in gemeinsam gewählten Institutionen zu entscheiden.
Das politische System der EU in ihrer heutigen Form
erfüllt diese Ziele besser als jedes System unabhängiger Nationalstaaten und
besser als jede andere heute existierende internationale Organisation. Aber vollkommen
verwirklicht sind sie noch nicht, und so ist die EU bis heute ein eigenartiges
Halbwesen, die europäische Integration ein nur teilweise eingelöstes Versprechen. Und solange das so bleibt, steht auch die Legitimität der EU auf wackeligen Füßen.
Kritik bleibt notwendig
Um den Zielen gerecht zu werden, für die sie
existiert, muss die EU sich also weiterentwickeln: in Richtung von mehr grenzüberschreitender Freiheit, mehr bürgerlicher Gleichheit und mehr überstaatlicher Demokratie. Ich denke nicht, dass man dafür die EU zerstören und durch ein völlig neues Gebilde ersetzen müsste, wie das etwa Ulrike Guérot vor einigen Monaten in der ZEIT forderte. Aber nur den Status quo zu
verteidigen, ist auch keine Lösung. Und deshalb bleibt Kritik an der EU notwendig – nicht nur an einzelnen
Sachentscheidungen, sondern auch an ihrer institutionellen Funktionsweise selbst.
Den europäischen Grünen aber sei ein Blick in ihr Europawahlprogramm
von 2014 empfohlen. Darin forderten
sie nicht weniger als „eine demokratische Erneuerung der EU“ und „einen
neuen demokratischen Konvent“ zur Ausarbeitung einer Vertragsreform. Auf konkrete Initiativen in diese Richtung warten wir seither vergebens.
Bild: Rock Cohen [CC BY-SA 2.0], via Flickr.
Ich klammere mal das Innergrüne aus, aber ansonsten finde ich den Artikel top. Es wäre wichtig, dass die Strukturfehler der EU und die tiefen Wunden, die dadurch in die Europäische Idee des Miteinanders gerissen werden, auf das Tableau der öffentlichen Debatte gelangen.
AntwortenLöschenDaran müssen wir arbeiten. Jeder auf seine Weise, aber im Ziel und im Geist vereint.
Das zentrale Versprechen aber, das eine demokratische Opposition den Wählern bieten muss – „Bringt uns an die Regierung, damit sich etwas ändert!“ –, können die kleinen europäischen Parteien nicht abgeben
AntwortenLöschenDieses Versprechen können die Grünen auch in Deutschland nicht abgeben. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Linkspartei (in einer Links-Koalition) dies im Bund könnte.
Ich sehe hier tatsächlich den Widerspruch zwischen allen etablierten Parteien und ihrer Wählerschaft: Der Abgeordnete ist daran interessiert, Macht auszuüben und Entscheidungen zu treffen ("Opposition ist Mist", Franz Müntefering). Der Wähler ist - zumindest viele Wähler sind es - daran interessiert, dass seine politischen Positionen verteten werden, auch wenn dies Opposition bedeutet.
Das mag sein, aber es ist ein anderes Problem als das in diesem Artikel beschriebene. Natürlich müssen auch auf nationaler Ebene in einer Regierungskoalition alle Parteien Kompromisse machen und können ihr Programm nicht einfach umsetzen. Und natürlich gibt es in einem Mehrparteiensystem auch keinen einfachen direkten Zusammenhang zwischen der Zahl der Wählerstimmen und der Wahrscheinlichkeit einer Regierungsbeteiligung, weil dazwischen eben noch die Koalitionsfrage liegt.
LöschenAber: Wo auf nationaler Ebene die demokratische Alternanz funktioniert, darf man doch erwarten, dass sich nach einer Wahl die Parteien mit den größten inhaltlichen Überschneidungen zu einer Koalition zusammenfinden. In der EU hingegen liegt die permanente Große Koalition eben nicht darin begründet, dass EVP, SPE und ALDE so große programmatische Überschneidungen hätten. Vielmehr ist es so, dass für Entscheidungen der EU in aller Regel so große Mehrheiten in so vielen verschiedenen Institutionen notwendig sind, dass an einer Zusammenarbeit der größten Parteien einfach kein Weg vorbeiführt.
In Deutschland können die Grünen oder Linken deshalb durchaus versprechen, dass sie nach der Wahl versuchen werden, einen (oder zwei) Koalitionspartner zu finden, mit dem sie möglichst viel von ihrer Programmatik umsetzen können. Auf EU-Ebene können sie das nicht.