D(e)F: Immer wieder ist zu hören, die
europäische Integration sei in erster Linie ein Elitenprojekt, dem die
Bürgerinnen und Bürger lange Zeit weitgehend gleichgültig gegenüberstanden –
und wenn sie doch einmal daran beteiligt wurden, oft destruktiv reagierten, zum
Beispiel in zahlreichen gescheiterten Referenden. In Ihrem Buch „Der verkannte
Bürger“ zeichnen Sie ein anderes, aktiveres und auch positiveres Bild der
europäischen Bürger. Welche Rolle spielten sie für die Entwicklung der
EU?
Hartmut Kaelble: Die
europäische Integration war und ist aus drei Gründen kein abgehobenes,
bürgerfernes Elitenprojekt: Erstens traf die Europapolitik immer wieder in
der Geschichte der europäischen Integration auf ein Absinken des Vertrauens der
Bürger und hatte sich damit auseinanderzusetzen. Zweitens besaßen die
europäischen Bürger seit den Anfängen der europäischen Integration zunehmend
eigene Vorstellungen von einem vereinten Europa, die sich oft deutlich von der
Europapolitik unterschieden.
Drittens
nahmen die Bürger Einfluss auf die Europapolitik. Sie taten dies nicht nur alle
fünf Jahre in den Europawahlen, in denen neuerdings die Beteiligung wieder ansteigt,
auch nicht nur in Europareferenden, in denen die Beteiligung oft höher war als
bei den Europawahlen. Sie nahmen auch Einfluss über die enorme Vielfalt und
Dichte von europäischen Interessenorganisationen, über Eingaben beim
Europäischen Parlament, über Beschwerden bei der Europäischen Kommission und
bei dem Europäischen Bürgerbeauftragten, durch Klagen vor dem Europäischen
Gerichtshof und seit einigen Jahren durch die Europäische Bürgerinitiative,
manchmal auch durch europäische soziale Bewegungen.
Die
Europäische Union war und ist sicher kein reines Bürgerprojekt. Aber wenn man
sie als reines Elitenprojekt ansieht, schneidet man einen wichtigen Teil der
Wirklichkeit ab.
Hoffnungen auf ein politisches Europa
Bleiben wir
kurz bei dem zweiten Punkt. In Ihrem Buch beschreiben Sie anhand von historischen
Umfragen, welche Erwartungen die Bürger mit der europäischen Integration
verbanden. Oft gingen diese Erwartungen an den tatsächlichen
Integrationsschritten vorbei: Die Europapolitik setzte stark auf das
wirtschaftliche Zusammenwachsen, während eine Integration in genuin politischen
Politikfeldern immer wieder auch als Bedrohung für die nationale Souveränität
betrachtet wurde.
Die Bürger
hingegen bewerteten Maßnahmen zur wirtschaftlichen Integration oft eher ambivalent,
während die politische Einigung, etwa in der Außenpolitik oder der inneren
Sicherheit, und die Idee eines starken Europäischen Parlaments fast immer und
fast überall hohe Zustimmung genossen. Setzten Europapolitiker also jahrzehntelang
die falschen Schwerpunkte?
Ohne Zweifel
gab es den wichtigen Unterschied zwischen einerseits den utopisch erscheinenden
Wünschen und Hoffnungen in Politikfeldern, in denen die Europapolitik noch
keine Entscheidungen fällte, und andererseits der Auseinandersetzung der Bürger
mit Entscheidungen der Europapolitik, die anfangs vor allem im wirtschaftlichen
Bereich gefällt wurden.
Außenpolitik, äußere Sicherheit, Terrorismusbekämpfung, Forschungspolitik, Umweltpolitik, Menschenrechtspolitik und ein starkes Europäisches Parlament waren lange Zeit eher Felder der Hoffnungen und Wünsche der Bürger. Solche utopisch anmutenden Erwartungen haben eine lange Tradition, da Europa auch im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oft als Projektionsfläche für solche Hoffnungen genutzt wurde. Kritische Auseinandersetzungen mit Entscheidungen von europäischen Instanzen entwickelten sich dagegen erst allmählich seit den 1950er Jahren mit dem Ausbau der europäischen Integration und mit der zunehmend schärferen Wahrnehmung der europäischen Institutionen und der Europapolitik durch die Bürger.
Mehr EU-Kompetenzen führen nicht immer zu mehr Dissens
Könnte es sich bei dieser Beobachtung auch um eine Art „Sonntagsreden-Phänomen“ handeln – in dem Sinne, dass eine politische Union zwar als Zukunftsvision beliebt ist, die konkreten Schritte dorthin aber doch auf Widerstand stoßen?
Ich kann nicht sehen, dass ein breiter Konsens unter Bürgern nur bestand, solange ein Politikfeld eher ein Bereich der utopischen Hoffnungen war, weil die Europapolitik noch keine Entscheidungskompetenzen besaß, und dieser Konsens verfiel, sobald ein Politikfeld in den Entscheidungsbereich der Europapolitik kam. In einer Reihe von Feldern, in denen die Europäische Union mehr oder weniger umfangreiche Entscheidungskompetenzen erhielt, stützte weiterhin eine breite Mehrheit der europäischen Bürger eine europäische statt eine rein nationale Politik, etwa in der Außenpolitik, in der Umweltpolitik, in der Forschungspolitik und in der Menschenrechtspolitik.
Ohne Zweifel
ist ein solcher Konsens in anderen Feldern der Europapolitik nicht gegeben. Das
bekannteste Konfliktfeld, in dem auch unter Bürgern kein breiter Konsens
besteht, ist die Asyl- und Migrationspolitik. In einem anderen Politikfeld, dem
Euro, sind die Bürger der Europäischen Union gespalten in die gegenwärtigen Euroländer,
in denen sie den Euro meist unterstützen, und die Mitgliedsländer ohne Euro, in
denen sie den Euro meist ablehnen. Grundsätzlich gilt aber: Mehr Kompetenzen
für die Europäische Union heißt nicht unbedingt mehr Dissens unter den Bürgern.
Vertrauenskrisen gibt es immer wieder …
Dass die
Zustimmung zur europäischen Integration insgesamt auffällig stabil war, zeigt
auch Ihre Untersuchung zu den Vertrauenskrisen, die das europäische Projekt
immer wieder erfuhr. Sie identifizieren insgesamt vier solche Krisen – das
Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954, die
Eurosklerose-Krise der 1970er und 1980er Jahre, die Krise nach dem Ende des
Kalten Krieges und dem Vertrag von Maastricht in den 1990ern und schließlich
die Eurokrise 2009-2012.
Während
dieser Krisen ging das in Umfragen gemessene Vertrauen in die EU teils massiv
zurück, erreichte aber oft schon wenig später wieder sehr gute Werte. Auch
heute ist die Zustimmung zur EU wieder hoch, obwohl die Verwerfungen der
Eurokrise erst wenige Jahre her sind. Alle Befürchtungen einer dauerhaften
Abkehr der Bürger vom europäischen Projekt scheinen fürs Erste widerlegt zu
sein. Wie ist diese bemerkenswerte Resilienz zu erklären? Und warum kommt es
trotzdem immer wieder zu solch massiven Einbrüchen im Vertrauen der Bürger zur
EU?
Ich möchte
in meinem Buch zeigen, dass der Vertrauenseinbruch der Bürger während der
Finanzkrisen 2009-2012 nicht, wie von manchen behauptet wurde, einzigartig tief
war, sondern schon früher solche Krisen entstanden und auch danach während der
Flüchtlingskrise wieder das Vertrauen einbrach.
Jeder dieser
Vertrauenseinbrüche hatte seine eigenen Ausmaße und seine besonderen Gründe.
Ganz allgemein kann man jedoch sagen, dass solche Vertrauenseinbrüche der
Bürger immer dann entstanden, wenn die Europapolitik ein grundlegendes Problem
nicht löste. Das Vertrauen stieg danach dann wieder an, wenn die Europapolitik
Entscheidungen traf: Die Entscheidung für eine europäische
Wirtschaftsgemeinschaft 1957 beendete die Vertrauenskrise, die durch den Fall
der europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 entstanden war. Die
Entscheidungen für ein europäisches Währungssystem, für regelmäßige Beratungen
der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft und für die
Direktwahl des europäischen Parlaments milderten den Vertrauenseinbruch der
1970er Jahre ab, der durch den Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton
Woods, durch die Ölkrisen, durch das Absinken des Wirtschaftswachstums und das Scheitern
von Reformen der Europäischen Gemeinschaft ausgelöst wurden war. Mit solchen
energischen Entscheidungen kam die Europäische Union auch aus den tiefen
Vertrauenskrisen der frühen 1990er Jahre und der Finanzkrise 2009-2012 heraus.
… aber die grundsätzliche Zustimmung zur EU ist stabil
Sie treffen
allerdings mit Ihrer Frage nach der grundlegenden Einstellung der Bürger zur
europäischen Integration, also nach der, wie Sie sagen, „Resilienz“, einen
wichtigen Punkt. Die Umfragen lassen darauf schließen, dass die Bürger
unterschieden zwischen ihrem sich ändernden Vertrauen in die aktuelle
Europapolitik und Ihrer grundsätzlichen Einstellung zur europäischen
Integration. Ihre grundsätzliche Befürwortung der europäischen Integration und
ihre Identifikation mit Europa schwankte nur wenig.
Wenn manche
Experten der Geschichte der internationalen Beziehungen die Epoche der
multilateralen Beziehungen mit den 1990er Jahren enden lassen wollen und für
die jüngste Geschichte eine neue Epoche der unilateralen Beziehungen ausrufen,
liegen sie vielleicht für die derzeitigen Präsidenten der USA, Russlands
und Chinas einigermaßen richtig, aber nicht für die Bürger der Europäischen
Union und im Übrigen auch nicht für die überwiegende Mehrheit der Regierungen
der Mitgliedsländer der Union.
Politisierung ohne existenzielle Spaltung
Dennoch hat
sich seit den 1990er Jahren die Einstellung der europäischen Bürger zur EU
insofern gewandelt, als es heute zu zunehmend polarisierten Debatten kommt.
Europapolitische Referenden sind oft heftig umkämpft, und der Gegensatz
zwischen nationalistischen und kosmopolitisch-proeuropäischen Haltungen kann
wie in Frankreich 2017 sogar zum zentralen Thema in nationalen Wahlkämpfen
werden – von der tiefen gesellschaftlichen Spaltung zwischen „Remainern“ und
„Leavern“ in Großbritannien ganz zu schweigen.
Kann man vor diesem Hintergrund überhaupt noch von
einer Einstellung „der“ europäischen Bürger zur EU sprechen? Oder haben wir es
mit unterschiedlichen (transnationalen) Lagern zu tun, mit jeweils eigenen und
oft entgegengesetzten Sichtweisen, Erwartungen, Hoffnungen und Ängsten
gegenüber der überstaatlichen Integration?
Ich glaube,
man sollte zwei Entwicklungen unterscheiden. Auf der einen Seite politisierte
sich die öffentliche Debatte über die Europapolitik seit den 1980er und 1990er
Jahren ganz erheblich. Kontroversen über Europapolitik nahmen zu, nicht zuletzt
auch deshalb, weil der Alltag der Bürger von den Entscheidungen in Brüssel
zunehmend stärker berührt wurde. Auch Ihr Blog ist Teil dieser Politisierung.
Auf diese Weise hat sich die Europapolitik auch normalisiert: Sie ist den
nationalen Politiken und Debatten, auch den nationalen politischen Lagern
ähnlicher geworden. Das ist insgesamt ein positiver Prozess.
Auf der
anderen Seite stellen Sie die berechtigte Frage, ob die Gegensätze zwischen
Europagegnern und Europabefürwortern, die wir bei manchen Europareferenden wie
etwa in Frankreich 2005 und jetzt besonders dramatisch in der Brexit-Entscheidung
in Großbritannien erleben, nicht die Bürger der Europäischen Union zu spalten
drohen. Eine solche Existenzkrise der Europäischen Union sehe ich aber nicht.
Die Zustimmung zu den zuvor genannten, gemeinsamen Politikfeldern der
Europäischen Union umfasst weiterhin die große Mehrheit der Bürger. Die starke
Zunahme der Wahlbeteiligung bei den letzten Wahlen im Mai zeigte, dass die
Bürger die Union sogar mehr unterstützen, wenn sie gefährdet erscheint.
Europagegner sind nur eine
Minderheit
Die Minderheit
der europäischen Bürger, die die europäische Integration strikt ablehnen, hat
nur um ein paar Prozentpunkte zugenommen, und liegt heute bei grob 20%, in
manchen Ländern sicher höher, in anderen Ländern niedriger. Sie hat keine
erkennbare Chance auf eine Mehrheit. Die Europagegner im Europäischen Parlament
haben, wie Sie es in Ihren Prognosen
vorhersahen, nur
begrenzt zugenommen, obwohl sie während des Wahlkampfs Kreide gefressen hatten
und die französischen und italienischen Europagegner ihre Forderung nach einem Euro-Austritt
zurücknahmen. Die proeuropäischen Parteien besitzen weiterhin eine beherrschende
Mehrheit der Sitze. Ich sehe, von Großbritannien abgesehen, fast nirgends eine
tiefe gefährliche gesellschaftliche Spaltung um die Zugehörigkeit zur
Europäischen Union.
Theoretisch,
aber eben nur theoretisch, könnte sich das in der Zukunft ändern: Wie in jedem
Land der Welt gibt es auch in der Europäischen Union sensible Fragen, in denen
die Bürger in Dissens geraten können. Unter den Bürgern der Union sind dies vor
allem drei europäische Themen: die schon erwähnte Immigration und Flüchtlinge,
die Religion und das Ausmaß der Kompetenzen der Mitgliedsländer. Die Aufgabe
der Europäischen Union besteht darin, in diesen Fragen mit einer für die Bürger
einsichtigen Mischung aus klarer Linie und Kompromissen zu steuern. Ich glaube,
die Europäische Union hat das verstanden.
Hartmut Kaelble: Der verkannte Bürger. Eine andere Geschichte der europäischen Integration seit 1950, Frankfurt am Main (Campus) 2019, 168 Seiten, kartoniert: 24,95 Euro.
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Hartmut Kaelble war von 1971 bis 1991 Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Freien Universität Berlin und von 1991 bis 2008 Professor für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Dieses Interview entstand im Juni/Juli 2019 per E-Mail.
Bild: privat.
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