12 Juli 2019

„Die europäische Integration war und ist kein bürgerfernes Projekt“: Ein Interview mit Hartmut Kaelble

Hartmut Kaelble.
D(e)F: Immer wieder ist zu hören, die europäische Integration sei in erster Linie ein Elitenprojekt, dem die Bürgerinnen und Bürger lange Zeit weitgehend gleichgültig gegenüberstanden – und wenn sie doch einmal daran beteiligt wurden, oft destruktiv reagierten, zum Beispiel in zahlreichen gescheiterten Referenden. In Ihrem Buch „Der verkannte Bürger“ zeichnen Sie ein anderes, aktiveres und auch positiveres Bild der europäischen Bürger. Welche Rolle spielten sie für die Entwicklung der EU?

Hartmut Kaelble: Die europäische Integration war und ist aus drei Gründen kein abgehobenes, bürgerfernes Elitenprojekt: Erstens traf die Europapolitik immer wieder in der Geschichte der europäischen Integration auf ein Absinken des Vertrauens der Bürger und hatte sich damit auseinanderzusetzen. Zweitens besaßen die europäischen Bürger seit den Anfängen der europäischen Integration zunehmend eigene Vorstellungen von einem vereinten Europa, die sich oft deutlich von der Europapolitik unterschieden.

Drittens nahmen die Bürger Einfluss auf die Europapolitik. Sie taten dies nicht nur alle fünf Jahre in den Europawahlen, in denen neuerdings die Beteiligung wieder ansteigt, auch nicht nur in Europareferenden, in denen die Beteiligung oft höher war als bei den Europawahlen. Sie nahmen auch Einfluss über die enorme Vielfalt und Dichte von europäischen Interessenorganisationen, über Eingaben beim Europäischen Parlament, über Beschwerden bei der Europäischen Kommission und bei dem Europäischen Bürgerbeauftragten, durch Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof und seit einigen Jahren durch die Europäische Bürgerinitiative, manchmal auch durch europäische soziale Bewegungen.

Die Europäische Union war und ist sicher kein reines Bürgerprojekt. Aber wenn man sie als reines Elitenprojekt ansieht, schneidet man einen wichtigen Teil der Wirklichkeit ab.

Hoffnungen auf ein politisches Europa

Bleiben wir kurz bei dem zweiten Punkt. In Ihrem Buch beschreiben Sie anhand von historischen Umfragen, welche Erwartungen die Bürger mit der europäischen Integration verbanden. Oft gingen diese Erwartungen an den tatsächlichen Integrationsschritten vorbei: Die Europapolitik setzte stark auf das wirtschaftliche Zusammenwachsen, während eine Integration in genuin politischen Politikfeldern immer wieder auch als Bedrohung für die nationale Souveränität betrachtet wurde.

Die Bürger hingegen bewerteten Maßnahmen zur wirtschaftlichen Integration oft eher ambivalent, während die politische Einigung, etwa in der Außenpolitik oder der inneren Sicherheit, und die Idee eines starken Europäischen Parlaments fast immer und fast überall hohe Zustimmung genossen. Setzten Europapolitiker also jahrzehntelang die falschen Schwerpunkte?

Ohne Zweifel gab es den wichtigen Unterschied zwischen einerseits den utopisch erscheinenden Wünschen und Hoffnungen in Politikfeldern, in denen die Europapolitik noch keine Entscheidungen fällte, und andererseits der Auseinandersetzung der Bürger mit Entscheidungen der Europapolitik, die anfangs vor allem im wirtschaftlichen Bereich gefällt wurden.

Außenpolitik, äußere Sicherheit, Terrorismusbekämpfung, Forschungspolitik, Umweltpolitik, Menschenrechtspolitik und ein starkes Europäisches Parlament waren lange Zeit eher Felder der Hoffnungen und Wünsche der Bürger. Solche utopisch anmutenden Erwartungen haben eine lange Tradition, da Europa auch im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oft als Projektionsfläche für solche Hoffnungen genutzt wurde. Kritische Auseinandersetzungen mit Entscheidungen von europäischen Instanzen entwickelten sich dagegen erst allmählich seit den 1950er Jahren mit dem Ausbau der europäischen Integration und mit der zunehmend schärferen Wahrnehmung der europäischen Institutionen und der Europapolitik durch die Bürger.

Mehr EU-Kompetenzen führen nicht immer zu mehr Dissens

Könnte es sich bei dieser Beobachtung auch um eine Art „Sonntagsreden-Phänomen“ handeln – in dem Sinne, dass eine politische Union zwar als Zukunftsvision beliebt ist, die konkreten Schritte dorthin aber doch auf Widerstand stoßen?

Ich kann nicht sehen, dass ein breiter Konsens unter Bürgern nur bestand, solange ein Politikfeld eher ein Bereich der utopischen Hoffnungen war, weil die Europapolitik noch keine Entscheidungskompetenzen besaß, und dieser Konsens verfiel, sobald ein Politikfeld in den Entscheidungsbereich der Europapolitik kam. In einer Reihe von Feldern, in denen die Europäische Union mehr oder weniger umfangreiche Entscheidungskompetenzen erhielt, stützte weiterhin eine breite Mehrheit der europäischen Bürger eine europäische statt eine rein nationale Politik, etwa in der Außenpolitik, in der Umweltpolitik, in der Forschungspolitik und in der Menschenrechtspolitik.

Ohne Zweifel ist ein solcher Konsens in anderen Feldern der Europapolitik nicht gegeben. Das bekannteste Konfliktfeld, in dem auch unter Bürgern kein breiter Konsens besteht, ist die Asyl- und Migrationspolitik. In einem anderen Politikfeld, dem Euro, sind die Bürger der Europäischen Union gespalten in die gegenwärtigen Euroländer, in denen sie den Euro meist unterstützen, und die Mitgliedsländer ohne Euro, in denen sie den Euro meist ablehnen. Grundsätzlich gilt aber: Mehr Kompetenzen für die Europäische Union heißt nicht unbedingt mehr Dissens unter den Bürgern.

Vertrauenskrisen gibt es immer wieder …

Dass die Zustimmung zur europäischen Integration insgesamt auffällig stabil war, zeigt auch Ihre Untersuchung zu den Vertrauenskrisen, die das europäische Projekt immer wieder erfuhr. Sie identifizieren insgesamt vier solche Krisen – das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954, die Eurosklerose-Krise der 1970er und 1980er Jahre, die Krise nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Vertrag von Maastricht in den 1990ern und schließlich die Eurokrise 2009-2012.

Während dieser Krisen ging das in Umfragen gemessene Vertrauen in die EU teils massiv zurück, erreichte aber oft schon wenig später wieder sehr gute Werte. Auch heute ist die Zustimmung zur EU wieder hoch, obwohl die Verwerfungen der Eurokrise erst wenige Jahre her sind. Alle Befürchtungen einer dauerhaften Abkehr der Bürger vom europäischen Projekt scheinen fürs Erste widerlegt zu sein. Wie ist diese bemerkenswerte Resilienz zu erklären? Und warum kommt es trotzdem immer wieder zu solch massiven Einbrüchen im Vertrauen der Bürger zur EU?

Ich möchte in meinem Buch zeigen, dass der Vertrauenseinbruch der Bürger während der Finanzkrisen 2009-2012 nicht, wie von manchen behauptet wurde, einzigartig tief war, sondern schon früher solche Krisen entstanden und auch danach während der Flüchtlingskrise wieder das Vertrauen einbrach.

Jeder dieser Vertrauenseinbrüche hatte seine eigenen Ausmaße und seine besonderen Gründe. Ganz allgemein kann man jedoch sagen, dass solche Vertrauenseinbrüche der Bürger immer dann entstanden, wenn die Europapolitik ein grundlegendes Problem nicht löste. Das Vertrauen stieg danach dann wieder an, wenn die Europapolitik Entscheidungen traf: Die Entscheidung für eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1957 beendete die Vertrauenskrise, die durch den Fall der europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 entstanden war. Die Entscheidungen für ein europäisches Währungssystem, für regelmäßige Beratungen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft und für die Direktwahl des europäischen Parlaments milderten den Vertrauenseinbruch der 1970er Jahre ab, der durch den Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods, durch die Ölkrisen, durch das Absinken des Wirtschaftswachstums und das Scheitern von Reformen der Europäischen Gemeinschaft ausgelöst wurden war. Mit solchen energischen Entscheidungen kam die Europäische Union auch aus den tiefen Vertrauenskrisen der frühen 1990er Jahre und der Finanzkrise 2009-2012 heraus.

… aber die grundsätzliche Zustimmung zur EU ist stabil

Sie treffen allerdings mit Ihrer Frage nach der grundlegenden Einstellung der Bürger zur europäischen Integration, also nach der, wie Sie sagen, „Resilienz“, einen wichtigen Punkt. Die Umfragen lassen darauf schließen, dass die Bürger unterschieden zwischen ihrem sich ändernden Vertrauen in die aktuelle Europapolitik und Ihrer grundsätzlichen Einstellung zur europäischen Integration. Ihre grundsätzliche Befürwortung der europäischen Integration und ihre Identifikation mit Europa schwankte nur wenig.

Wenn manche Experten der Geschichte der internationalen Beziehungen die Epoche der multilateralen Beziehungen mit den 1990er Jahren enden lassen wollen und für die jüngste Geschichte eine neue Epoche der unilateralen Beziehungen ausrufen, liegen sie vielleicht für die derzeitigen Präsidenten der USA, Russlands und Chinas einigermaßen richtig, aber nicht für die Bürger der Europäischen Union und im Übrigen auch nicht für die überwiegende Mehrheit der Regierungen der Mitgliedsländer der Union.

Politisierung ohne existenzielle Spaltung

Dennoch hat sich seit den 1990er Jahren die Einstellung der europäischen Bürger zur EU insofern gewandelt, als es heute zu zunehmend polarisierten Debatten kommt. Europapolitische Referenden sind oft heftig umkämpft, und der Gegensatz zwischen nationalistischen und kosmopolitisch-proeuropäischen Haltungen kann wie in Frankreich 2017 sogar zum zentralen Thema in nationalen Wahlkämpfen werden – von der tiefen gesellschaftlichen Spaltung zwischen „Remainern“ und „Leavern“ in Großbritannien ganz zu schweigen.

Kann man vor diesem Hintergrund überhaupt noch von einer Einstellung „der“ europäischen Bürger zur EU sprechen? Oder haben wir es mit unterschiedlichen (transnationalen) Lagern zu tun, mit jeweils eigenen und oft entgegengesetzten Sichtweisen, Erwartungen, Hoffnungen und Ängsten gegenüber der überstaatlichen Integration?

Ich glaube, man sollte zwei Entwicklungen unterscheiden. Auf der einen Seite politisierte sich die öffentliche Debatte über die Europapolitik seit den 1980er und 1990er Jahren ganz erheblich. Kontroversen über Europapolitik nahmen zu, nicht zuletzt auch deshalb, weil der Alltag der Bürger von den Entscheidungen in Brüssel zunehmend stärker berührt wurde. Auch Ihr Blog ist Teil dieser Politisierung. Auf diese Weise hat sich die Europapolitik auch normalisiert: Sie ist den nationalen Politiken und Debatten, auch den nationalen politischen Lagern ähnlicher geworden. Das ist insgesamt ein positiver Prozess.

Auf der anderen Seite stellen Sie die berechtigte Frage, ob die Gegensätze zwischen Europagegnern und Europabefürwortern, die wir bei manchen Europareferenden wie etwa in Frankreich 2005 und jetzt besonders dramatisch in der Brexit-Entscheidung in Großbritannien erleben, nicht die Bürger der Europäischen Union zu spalten drohen. Eine solche Existenzkrise der Europäischen Union sehe ich aber nicht. Die Zustimmung zu den zuvor genannten, gemeinsamen Politikfeldern der Europäischen Union umfasst weiterhin die große Mehrheit der Bürger. Die starke Zunahme der Wahlbeteiligung bei den letzten Wahlen im Mai zeigte, dass die Bürger die Union sogar mehr unterstützen, wenn sie gefährdet erscheint.

Europagegner sind nur eine Minderheit

Die Minderheit der europäischen Bürger, die die europäische Integration strikt ablehnen, hat nur um ein paar Prozentpunkte zugenommen, und liegt heute bei grob 20%, in manchen Ländern sicher höher, in anderen Ländern niedriger. Sie hat keine erkennbare Chance auf eine Mehrheit. Die Europagegner im Europäischen Parlament haben, wie Sie es in Ihren Prognosen vorhersahen, nur begrenzt zugenommen, obwohl sie während des Wahlkampfs Kreide gefressen hatten und die französischen und italienischen Europagegner ihre Forderung nach einem Euro-Austritt zurücknahmen. Die proeuropäischen Parteien besitzen weiterhin eine beherrschende Mehrheit der Sitze. Ich sehe, von Großbritannien abgesehen, fast nirgends eine tiefe gefährliche gesellschaftliche Spaltung um die Zugehörigkeit zur Europäischen Union.

Theoretisch, aber eben nur theoretisch, könnte sich das in der Zukunft ändern: Wie in jedem Land der Welt gibt es auch in der Europäischen Union sensible Fragen, in denen die Bürger in Dissens geraten können. Unter den Bürgern der Union sind dies vor allem drei europäische Themen: die schon erwähnte Immigration und Flüchtlinge, die Religion und das Ausmaß der Kompetenzen der Mitgliedsländer. Die Aufgabe der Europäischen Union besteht darin, in diesen Fragen mit einer für die Bürger einsichtigen Mischung aus klarer Linie und Kompromissen zu steuern. Ich glaube, die Europäische Union hat das verstanden.

Hartmut Kaelble: Der verkannte Bürger. Eine andere Geschichte der europäischen Integration seit 1950, Frankfurt am Main (Campus) 2019, 168 Seiten, kartoniert: 24,95 Euro.

Hartmut Kaelble war von 1971 bis 1991 Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Freien Universität Berlin und von 1991 bis 2008 Professor für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Dieses Interview entstand im Juni/Juli 2019 per E-Mail.

Bild: privat.

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