Der aktuelle Beitrag von Natasha Wunsch erscheint auf diesem Blog in deutscher Übersetzung. Das englischsprachige Original ist hier zu finden.
- „Für die EU geht es auch darum, ihre Glaubwürdigkeit im Umgang mit Rechtsstaatlichkeitsverletzungen in ihrer Mitte wiederherzustellen.“
Der Gipfel des Europäischen Rates im Juli 2020 veranschaulichte das traditionelle Dilemma der EU: In sensiblen Fragen einen Konsens zwischen 27 Mitgliedstaaten zu erreichen, bedeutet in der Regel, sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen. Diesmal haben die Staats- und Regierungschefs wohl noch weniger erreicht. Hinsichtlich des entscheidenden Konditionalitätsregimes, das zum Schutz des EU-Haushalts und zur Sanktionierung von Mitgliedstaaten, die gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen, eingeführt werden soll, sind die Schlussfolgerungen des Gipfels so vage, dass alle Seiten den Sieg in dieser Frage für sich beanspruchen konnten. Dies führt zu einer anhaltenden Unsicherheit, die die erfolgreiche Verabschiedung des neuen mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) für 2021-27 zu gefährden droht.
Die Auszahlung von EU-Mitteln an die Mitgliedstaaten daran zu binden, dass diese die Rechtsstaatlichkeit und die gemeinsamen Werte der EU achten, ist ein vielversprechender Ansatz, um das langwierige und bisher ergebnislose Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn und Polen zu umgehen. Die Herausforderung für die deutsche Ratspräsidentschaft besteht darin, die Verabschiedung des MFR und des Wiederaufbaufonds Next Generation EU zu begleiten und gleichzeitig die Konkretisierung eines Konditionalitätsregimes voranzutreiben, das die Fähigkeit und Entschlossenheit der EU unter Beweis stellt, Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zu bekämpfen. Für diesen heiklen Balanceakt ist es nötig, Pragmatismus mit Entschlossenheit und raschem Handeln zu verbinden, um die Einführung eines wirksamen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus zu gewährleisten.
Die Rechtsstaatlichkeits-Herausforderung
Eine angemessene Reaktion auf Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit durch die Mitgliedstaaten zu finden, ist für die EU in den letzten Jahren immer dringlicher geworden. Das Verfahren nach Art. 7 EUV, das ursprünglich zu diesem Zweck konzipiert wurde, hat sich in der Praxis als ungeeignet erwiesen, die Regierungen der Fidesz in Ungarn und der PiS in Polen davon abzuhalten, die Unabhängigkeit der Justiz und die Medienfreiheit in diesen Ländern zu untergraben. Die Verfahren, die im Dezember 2017 gegen Polen und im September 2018 gegen Ungarn eingeleitet wurden, haben bisher keine greifbaren Ergebnisse erbracht. Dies ist nicht zuletzt auf die institutionellen Hürden zurückzuführen, die die Mitgliedstaaten dazu zwingen, zunächst eine qualifizierte Mehrheit und dann Einstimmigkeit zu erreichen, um gegen das Zielland Sanktionen bis hin zur Aussetzung des Stimmrechts zu verhängen.
Als Reaktion auf eine Forderung des Europäischen Parlaments schlug die Europäische Kommission 2018 einen alternativen Mechanismus vor, der direktere Konsequenzen für die betroffenen Länder hat. Seine Grundidee besteht darin, die Auszahlung von EU-Geldern an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen. Der ursprüngliche Vorschlag sah vor, dass die Kommission dem Rat in Fällen, in denen ein allgemeiner Mangel an Rechtsstaatlichkeit festgestellt würde, geeignete Maßnahmen vorschlagen sollte. Diese Maßnahmen sollten als angenommen gelten, sofern der Rat nicht innerhalb eines Monats mit einer qualifizierten Mehrheit dagegen stimmt. Im Gegensatz zu dem aufwändigen und hoch politisierten Artikel-7-Verfahren sollte das neue Instrument Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit rascher, einfacher und wirksamer angehen.
Auf dem Gipfel im Juli schien der Europäische Rat eine abgeschwächte Version des Kommissionsmechanismus zu billigen. Während er die Notwendigkeit eines Konditionalitätsregimes für EU-Gelder anerkennt, heißt es in den Schlussfolgerungen, die Kommission solle „im Fall von Verstößen Maßnahmen vorschlagen, die vom Rat mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden“. Der Europäische Rat werde „sich rasch mit der Angelegenheit befassen“.
Die Grenzen der konstruktiven Zweideutigkeit
Der Wortlaut der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates lässt jedoch mindestens drei alternative Interpretationen zu, die sich in ihren Implikationen stark unterscheiden.
Die erste beinhaltet eine höhere Schwelle für die Verhängung von Sanktionen: Anstelle der ursprünglich im Kommissionsvorschlag enthaltenen umgekehrten qualifizierten Mehrheit träte eine formelle Genehmigung durch den Rat. Dies wäre eine Verbesserung gegenüber dem derzeitigen Zustand, in dem ein Konditionalitätsmechanismus für EU-Fördermittel vollständig fehlt. Allerdings lägen die Hürden für seine wirksame Umsetzung höher. Vor allem aber würde die Notwendigkeit einer offiziellen Billigung durch die Mitgliedstaaten zu einer Politisierung des Instruments beitragen – was gerade eine der Schwächen des Artikel-7-Verfahrens war, die der neue Mechanismus eigentlich ausgleichen soll.
Im Anschluss an den Europäischen Rat warben der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki für eine alternative Auslegung. Ihnen zufolge impliziert der ausdrückliche Hinweis darauf, dass der Europäische Rat auf diese Frage zurückkommen werde, dass jede Entscheidung über die Einführung eines Konditionalitätsregimes bei einem künftigen Gipfel unter der Einstimmigkeitsregel getroffen werden müsse. Diese Interpretation würde jedem Mitgliedstaat ein Vetorecht bei einer solchen Initiative einräumen und damit zu einer Pattsituation führen, die der gegenwärtigen Blockade bei Artikel 7 ähnelt.
Ein dritter Standpunkt schließlich vertritt die Auffassung, dass die Sprache des Europäischen Rates die Tür für eine Annahme des Kommissionsvorschlags im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren öffnet. Dies würde nur eine qualifizierte Mehrheit im Rat erfordern und damit die noch zögernden Mitgliedstaaten beiseiteschieben, die fürchten, auf diese Weise möglicherweise den Weg zu ebnen für noch weiterreichende Änderungen in der Form, wie die EU ihre Mittel ausbezahlt.
Einspruch des Europäischen Parlaments
Die zweideutige Sprache erlaubte es den Staats- und Regierungschefs, eine schriftliche Einigung über die Einführung eines Konditionalitätsregimes für EU-Mittel zu erzielen. Neben unterschiedlichen Auslegungen zwischen den Mitgliedstaaten gibt es aber noch einen weiteren Stolperstein: Das Europäische Parlament, das sich traditionell sehr klar für eine entschiedene Reaktion der EU auf Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit einsetzt, ist selbst mit der ehrgeizigsten Lesung der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates unzufrieden und hat eine Neuverhandlung gefordert.
In einem gemeinsamen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Ende August forderten die Konservativen, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen im Europäischen Parlament, zur umgekehrten qualifizierten Mehrheit zurückzukehren und jährliche Kontrollberichte über die EU-Werte in den zu verabschiedenden Rechtsakt aufzunehmen. Andernfalls drohen sie damit, die Annahme des MFR zu blockieren.
Ob das Europäische Parlament den EU-Haushalt und den Wiederaufbaufonds Next Generation EU wirklich wegen eines unzureichenden Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ablehnen würde, ist eine offene Frage. Dennoch zeigt die aktuelle Konfrontation, wie angespannt die Situation ist, in der sich die deutsche Ratspräsidentschaft um eine Einigung bemühen muss.
Deutschlands Balanceakt
Viel wird davon abhängen, ob Deutschland seine Ratspräsidentschaft nutzen kann, um gleichzeitig die Annahme des MFR und des Wiederaufbaufonds Next Generation EU sicherzustellen und den Weg für die Einführung eines wirksamen Konditionalitätsregimes zu ebnen. Komplizierte Zeitfragen erschweren ein kohärentes Vorgehen. Der Wiederaufbaufonds, mit dem die EU zum ersten Mal Schulden wird aufnehmen können, muss von allen nationalen Parlamenten ratifiziert werden. Solange dies nicht geschehen ist, können skeptische Mitgliedstaaten die Ratifizierung als Druckmittel einsetzen, um die Annahme einer Rechtsstaatlichkeits-Konditionalität für EU-Mittel zu verhindern. Gleichzeitig gehören Polen und Ungarn aber auch zu den Hauptnutznießern des MFR, sodass eine rasche Annahme in ihrem eigenen Interesse liegt.
Vorerst hat sich Bundeskanzlerin Merkel für einen pragmatischen Ansatz entschieden. Im Vorfeld des Gipfeltreffens des Europäischen Rates erklärte sie: „Damit man Fonds mit Rechtsstaatlichkeit […] verbinden kann, braucht man erst einmal Fonds.“ Dennoch hat Deutschland auch signalisiert, dass es seine Ratspräsidentschaft nutzen will, um die Annahme des Kommissionsvorschlags von 2018 zu verfolgen.
Deutschland ist aufgrund seines politischen Ansehens sowie seiner Rolle als EU-Nettozahler in der einzigartigen Lage, beide Dossiers noch in diesem Jahr voranzutreiben. Während des Juli-Gipfels hat Merkel persönlich die Verhandlungen mit Orbán geführt. Darin könnte in der Tat der Schlüssel zu einer Lösung liegen: Einigen Medienquellen zufolge versicherte sie ihm, dass sie versuchen werde, das laufende Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn bis Ende des Jahres abzuschließen. Im Gegenzug könnte Orbán zu einem Kompromiss über die genaue Ausgestaltung des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus bereit sein.
Auf dem Weg zu einem wirksamen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus
Auf dem Juli-Gipfel gelang es dem Europäischen Rat, eine Einigung über die Notwendigkeit eines Konditionalitätsregimes für EU-Gelder zu erzielen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die EU diesen politischen Konsens nun in eine gesetzliche Regelung umsetzt, die anders als das Artikel-7-Verfahren als wirksame Abschreckung für Mitgliedstaaten wirkt, die gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Zwei Elemente werden wesentlich sein: den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus zu konkretisieren und ihn gleichzeitig zu entpolitisieren.
Den Verordnungsvorschlag der Kommission von 2018 als Ausgangspunkt zu nehmen, scheint der einfachste Weg zu sein, der offenbar auch von der deutschen Regierung favorisiert wird. Er enthält die notwendige rechtliche Begründung sowie eine klare Artikulierung der Fälle, in denen der Mechanismus ausgelöst werden kann, die sich weitgehend mit den gegen Ungarn und Polen erhobenen Vorwürfen decken.
Konkrete Kriterien
Vor dem Hintergrund der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates erscheint es schwierig, die vom Europäischen Parlament geforderte umgekehrte qualifizierte Mehrheit beizubehalten. Damit es nicht jedes Mal, wenn die Kommission vorschlägt, einem Mitgliedstaat EU-Gelder vorzuenthalten, zu langwierigen politischen Debatten kommt, muss der Mechanismus umso konkreter auf die Art von Verstößen, die zu Sanktionen führen können, und deren Bewertung eingehen.
Was den Anwendungsbereich des Mechanismus betrifft, scheint es sinnvoller, sich an einen engeren Katalog von Kriterien zu halten, die objektiver bewertet werden können. Auf diese Weise könnten die implizit von dem Mechanismus betroffenen Länder – Polen und Ungarn wurden vom Europäischen Gerichtshof wegen Verstößen gegen EU-Recht verurteilt – weiterhin ins Visier genommen werden, ohne dabei Bedenken wegen einer unangemessenen politischen Einmischung in innere Angelegenheiten auszulösen.
Entscheidungen entpolitisieren
Was die nötige Entpolitisierung betrifft, sieht der Kommissionsvorschlag eine qualitative Bewertung vor, die sich auf ein breites Spektrum von Quellen stützt. Hierzu gehören nicht nur EU-Institutionen, sondern auch externe Einrichtungen wie der Europarat und insbesondere dessen Venedig-Kommission, die über beträchtliche Fachkenntnisse in Fragen der Rechtsstaatlichkeit verfügt.
Angesichts der politischen Hindernisse, die einer wirksamen Anwendung des Artikel-7-Verfahrens entgegenstehen, sollte das einzuführende Verfahren vorzugsweise unabhängig von politischen Mehrheiten sein und stattdessen auf einer einfachen gerichtlichen Beurteilung beruhen. Hierfür wurden verschiedene Vorschläge unterbreitet. So würde zum Beispiel der Rückgriff auf die EU-Agentur für Grundrechte die Feststellung, ob ein bestimmtes Land gegen die Rechtsstaatlichkeit verstößt, von den anderen Mitgliedstaaten auf ein unpolitisches Gremium verlagern.
Ein anderer Ansatz würde alle Sanktionen im Zusammenhang mit EU-Geldern an die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (Art. 19 EUV) knüpfen. Dies würde einen objektiven Auslöser schaffen und einen Mechanismus hervorbringen, der zwar in seiner Reichweite begrenzt ist, sich aber auf diejenigen Verstöße konzentriert, die die Integrität der EU und die Interessen anderer Mitgliedstaaten am stärksten gefährden.
Eine Frage der Glaubwürdigkeit
Beim Aufbau eines wirksamen Konditionalitätsregimes geht es für die EU auch darum, ihre Glaubwürdigkeit im Umgang mit Rechtsstaatlichkeitsverletzungen in ihrer Mitte wiederherzustellen.
Die kommenden Monate werden zeigen, ob die deutsche Ratspräsidentschaft in der Lage ist, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Wenn keine solche Lösung gefunden wird, wäre das nicht nur ein Problem für den Schutz der finanziellen Interessen der EU. Sie würde auch Gefahr laufen, ihre eigenen Werte sowie ihre Glaubwürdigkeit bei der Förderung der Demokratie in Drittstaaten weiter zu untergraben.
Natasha Wunsch ist Assistenzprofessorin in Politikwissenschaft/Europäischer Integration an der Sciences Po Paris, Senior Researcher in der European Politics Group der ETH Zürich und Hauptforscherin des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekts „Democratic Backsliding in Eastern Europe: Sequence, Strategies, Citizens“. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt an der Schnittstelle von europäischer Politik und vergleichender Demokratisierungsforschung, mit einem besonderen Fokus auf die postkommunistische Region.
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