
- Globale und regionale Abkommen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stützen ein implizites allgemeines Recht auf nationale und internationale Demokratie.
Die Menschenrechtsrevolution seit 1945 hat Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit als Grundlage jedes demokratischen Systems etabliert. Gleichzeitig sind durch die Konsolidierung von Mehrebenen-Regierungssystemen auf globaler und regionaler Ebene neue Parameter für nationale und Forderungen nach internationaler Demokratie entstanden. Das „Recht auf Demokratie”, das erstmals nach dem Fall des Eisernen Vorhangs formuliert wurde, hat seine Höhen und Tiefen erlebt. In unserer Zeit des Demokratieabbaus werden die Existenz und der Inhalt der Rechte auf nationale und internationale Demokratie sowie ihre gegenseitige Abhängigkeit mit besonderem Schwerpunkt auf der Europäischen Union untersucht.
Demokratie als universeller Wert
Die Vereinten Nationen haben die nationale Demokratie als universellen Wert herausgestellt, ihre wesentlichen menschenrechtsbasierten Merkmale definiert und durch Wahlbeobachtung zu ihrer Umsetzung beigetragen. Insbesondere der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen hat betont, dass Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig verstärken. In jüngerer Zeit haben die UN auch die internationale Demokratie gefördert, unter anderem durch projektierte Reformen ihrer eigenen Funktionsweise, beispielsweise im Rahmen des UN-Pakts für die Zukunft 2024. In den Quellen der UN findet sich jedoch kein Hinweis auf ein individuelles oder kollektives allgemeines Menschenrecht auf nationale oder internationale Demokratie, das gegen Demokratieabbau nutzbar gemacht werden könnte.
Es gibt aber ein kollektives Recht der Völker auf nationale und internationale demokratische Selbstbestimmung im Sinne eines Anspruchs auf die Aufrechterhaltung elementarer Standards der Demokratie in nationalen und internationalen Entscheidungsprozessen. Nationale und internationale Demokratie sind voneinander abhängig; Ziel ist es, im Mehrebenensystem einen angemessenen Gesamtstandard der Demokratie zu gewährleisten.
Dieses kollektive Recht auf nationale und internationale Demokratie ist zwar Teil des jus cogens (zwingendes Recht) und hat erga-omnes-Wirkung (schafft Verpflichtungen gegenüber allen anderen Staaten). Es ist allerdings so vage formuliert, dass Verstöße nur in eindeutigen Fällen festgestellt werden können, und ist daher noch schwieriger durchzusetzen als das Recht auf Selbstbestimmung im Allgemeinen.
Menschenrechte als Eckpfeiler der Demokratie
In Bezug auf nationale Regierungssysteme sind wesentliche demokratische Standards sowie ergänzende demokratische Garantien – wie das Recht der Bürger:innen, sich direkt oder durch frei gewählte Vertreter:innen an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen, bei echten, regelmäßigen, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen zu wählen und gewählt zu werden und gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern zu haben, ebenso wie die Informations- und Meinungsfreiheit sowie das Recht auf friedliche Versammlungen und Vereinigungen ohne Diskriminierung – in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 sowie in den Menschenrechtsverträgen auf globaler Ebene (vor allem im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1976) und auf regionaler Ebene in Europa, Afrika, Amerika und der arabischen Welt verankert.
In internationalen gerichtlichen und quasi-gerichtlichen Verfahren sowie politisch durchsetzbar, sind diese Standards und Garantien am wirksamsten (wenn auch nicht lückenlos) in Europa. Dies ist vor allem dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verdanken. Ein allgemeines Recht auf nationale Demokratie wurde bislang jedoch noch nirgendwo anerkannt. Was die internationale Demokratie und die demokratische Interdependenz zwischen den Regierungsebenen angeht, haben bislang nur die Europäische Menschenrechtskonvention und ihr Gerichtshof Problembewusstsein gezeigt und Lösungsansätze gewagt. Auch sie haben jedoch kein allgemeines Recht auf internationale Demokratie oder einen angemessenen Gesamtstandard für Demokratie formuliert.
Die EU als exemplarische, wenn auch unvollkommene Demokratie
In der quasi-föderalen (supranationalen) Verfassung der EU sind Demokratie auf EU-Ebene und auf Ebene der Mitgliedstaaten offensichtlich voneinander abhängig und daher eng miteinander verflochten. Dementsprechend formuliert das EU-Recht konkrete demokratische Anforderungen mit supranationalem Charakter sowohl für die EU als auch für die Mitgliedstaaten. Mehrere dieser supranationalen demokratischen Standards stellen gerichtlich durchsetzbare individuelle Rechte dar, die Vorrang vor nationalem Recht haben.
Art. 2 und 10 EUV verankern sogar ein allgemeines Recht auf nationale Demokratie. Gemäß Art. 4 (2) EUV verfügen die Mitgliedstaaten jedoch über einen weiten Ermessensspielraum bei der Gestaltung ihrer konkreten demokratischen Strukturen, sodass nur elementare demokratische Standards durch das EU-Recht verbindlich vorgeschrieben sind. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) kodifiziert gemeinsame ergänzende demokratische Rechte, die für die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des EU-Rechts verbindlich sind.
Für die europäische Ebene verankert Art. 10 (3) Satz 1 EUV das zentrale demokratische Recht der Unionsbürger auf EU-Demokratie und Art. 9 Satz 1 EUV das allgemeine Recht auf demokratische Gleichheit. Spezifische demokratische Rechte auf EU-Ebene werden durch die GRCh garantiert, zusätzlich zu den oben genannten ergänzenden demokratischen Rechten. Grundsätzlich sind Rechte auf nationale Demokratie sowohl im globalen und regionalen Völkerrecht als auch im EU-Recht im Allgemeinen besser verankert als Rechte auf internationale Demokratie; im EU-Recht sind Rechte auf supranationale Demokratie besser verankert als Rechte auf internationale Demokratie.
Aus einer Synthese all dieser demokratischen Rechte lässt sich ein ungeschriebenes allgemeines individuelles Recht der Unionsbürger:innen auf Demokratie auf EU-Ebene ableiten. Zudem engagiert sich die EU auch aktiv für den „Export“ von Demokratie in Drittstaaten (horizontal) und in die internationale Gemeinschaft (vertikal). Das Menschenrecht auf Demokratie im Allgemeinen und in seinen spezifischen Aspekten ist innerhalb des EU-Mehrebenensystems fester verankert und leichter und wirksamer durchsetzbar als außerhalb. Das Unionsrecht birgt somit großes Potenzial, um einem Demokratieabbau sowohl in einzelnen Mitgliedstaaten als auch auf EU-Ebene entgegenzuwirken.
Ein ungeschriebenes Menschenrecht auf internationale Demokratie
Zusammengefasst beruhen die wichtigsten Elemente der Demokratie auf nationaler Ebene auf einer soliden Grundlage international oder supranational garantierter demokratischer Menschenrechte und sind daher relativ gut durchsetzbar. Diese spezifischen demokratischen Rechte sind die Quelle eines ungeschriebenen allgemeinen Rechts auf nationale Demokratie, das zwar noch nicht fest verankert ist, aber dazu beitragen kann, systemischen Bedrohungen demokratischer Systeme entgegenzuwirken.
Die demokratischen Menschenrechte unterstützen auch die internationale Demokratie. Aus ihrer Synthese lässt sich ein ungeschriebenes allgemeines Menschenrecht auf internationale Demokratie ableiten. Demokratie muss auch international in globalen und regionalen internationalen und supranationalen Organisationen verwirklicht werden, die das moderne Mehrebenensystem prägen.
Nationale und internationale Demokratie sind voneinander abhängig und können in Konflikt geraten. Das allgemeine Menschenrecht auf einen angemessenen Gesamtstandard der Demokratie in Mehrebenensystemen erfordert deshalb ein Gleichgewicht zwischen nationaler und internationaler Demokratie.
Demokratieabbau ist mit internationalem Recht unvereinbar
Es besteht eine offensichtliche und wachsende Kluft zwischen der festen völkerrechtlichen Verankerung und kontinuierlichen Ausweitung ausdrücklich garantierter spezifischer demokratischer Rechte sowie des darauf basierenden impliziten allgemeinen Rechts auf nationale Demokratie einerseits und der zunehmend autokratischen Realität andererseits. Wie bei den Menschenrechten im Allgemeinen verläuft auch die Verwirklichung demokratischer Rechte in Höhen und Tiefen. Nach dem Aufschwung, den wir nach 1989/90 erlebt haben, beobachten wir derzeit eine Abwärtsbewegung.
Um diese Abwärtsbewegung umzukehren, sollten sich Demokrat:innen aller Länder zusammenschließen, um überall und auf allen Ebenen zur Durchsetzung demokratischer Parameter beizutragen. Sie können dabei auf guten rechtlichen und politischen Grundlagen aufbauen: Alle Mitglieder der Menschheitsfamilie genießen eine Reihe spezifischer demokratischer Menschenrechte, die in den verschiedenen globalen und regionalen Menschenrechtsverträgen sowie in der wirklich universellen und oft bestätigten AEMR ausdrücklich verankert sind; sie sind auch Teil des supranationalen EU-Rechts.
Diese Garantien, die mehr oder weniger wirksam vor nationalen, internationalen und supranationalen Gerichten und Vertragsorganen durchsetzbar sind, stützen ein implizites allgemeines individuelles Recht auf nationale und internationale Demokratie auf allen Ebenen, das sich mit dem kollektiven Selbstbestimmungsrecht der Völker überschneidet.
Die Ausübung unserer Menschenrechte stützt die Demokratie
Dieses allgemeine Recht wird zwar selten als solches durchsetzbar sein, aber es prägt die demokratiefreundliche Auslegung jener spezifischen Rechte und kann weitere spezifische demokratische Rechte hervorbringen, die als Lückenfüller fungieren. Ein autokratischer Regierungsstil und erst recht eine Rückentwicklung von etablierten demokratischen Standards hin zur Autokratie dürften mit internationalem und supranationalem Recht unvereinbar sein. Jede einzelne Inhaber:in demokratischer Rechte kann durch die entschlossene Ausübung dieser Rechte zur Aufrechterhaltung der nationalen und internationalen Demokratie beitragen.
Kurz gefasst: Wir verfügen über alle nötigen rechtlichen und politischen Instrumente auf allen Regierungsebenen, um gegen Demokratieabbau vorzugehen. Es gilt, sie entschlossen einzusetzen.
Thomas Giegerich ist pensionierter Professor für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht an der Universität des Saarlandes. |

Bilder: Treppe mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: University of Essex 2015 [CC BY-NC 2.0], via Flickr; Porträt Thomas Giegerich: privat [alle Rechte vorbehalten].

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