06 Oktober 2025

Europa auf Touren bringen: Neuer Schwung für den deutsch-französischen Motor

Von Sabine Hoscislawski
People repairing an engine at a vintage vehicle event in Villemanoche (Yonne, France) in 2016
Der deutsch-französische Motor muss wieder in Gang gebracht werden.

Die deutsch-französische Zusammenarbeit hat die europäische Integration seit ihren Anfängen geprägt. In der Vergangenheit war es die starke politische Führungsrolle Frankreichs und Deutschlands – der sogenannte deutsch-französische Motor –, die es der EU ermöglichte, schwierige Situationen zu meistern. Erfolge der vergangenen Jahre – wie die Unterzeichnung des Vertrags von Aachen 2019, die Einigung auf NextGenerationEU (NGEU) als Reaktion auf die Corona-Pandemie 2020 oder die Initiative vom November 2024 zur Koordinierung der Sicherheitspolitik zwischen Vertreter:innen der Verteidigungsministerien Frankreichs, Deutschlands, Italiens, Polens und des Vereinigten Königreichs (die „Group of Five“) – sind ein Beweis für die Leistungsfähigkeit dieses Motors.

Ihre Größe und wirtschaftlichen, diplomatischen und internationalen Kapazitäten machen die beiden Gründungsmitglieder der EU für die europäische Führungsrolle unverzichtbar. Die stark institutionalisierten bilateralen Beziehungen erfordern einen kontinuierlichen Dialog zwischen den beiden Partnern und unterstützen ihr Potenzial für eine Führungsrolle in der EU.

Ein stotternder Motor

In der Vergangenheit ermöglichten gerade ihre Unterschiede, als Motor für europäische Projekte zu fungieren oder Krisen zu bewältigen. Oft gelang es dem Duo, Kompromisse zu finden, die für alle EU-Partner akzeptabel waren. Allerdings funktioniert der Motor für die EU nur dann, wenn er selbst reibungslos läuft. In den vergangenen Jahren war dies nicht der Fall.

Die Themen, die zwischen den beiden Partnern traditionell umstritten waren – beispielsweise die Rolle der Kernenergie, das Mercosur-Abkommen, Eurobonds oder die Beschaffung von Verteidigungsgütern – sind es größtenteils auch geblieben. Gemeinsame europäische Antworten wurden dadurch erschwert. Die vorgezogenen Wahlen in Frankreich im Sommer 2024 und das Scheitern der Koalition in Deutschland im Herbst 2024 markierten einen Tiefpunkt in ihrer Führungsrolle für die EU, da beide Staaten mit ihren eigenen innenpolitischen Herausforderungen beschäftigt waren.

Dringender Handlungsbedarf

Europäische Einheit wird heute dringend gebraucht. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und Donald Trumps Rückkehr ins Präsidentenamt der USA hatten gravierende Auswirkungen auf die Sicherheits- und Handelsarchitektur Europas. Zudem gibt es eine Reihe weiterer Themen, die eine gemeinsame und starke europäische Antwort erfordern: die Klima- und Umweltkrise, die digitale Revolution sowie interne europäische Herausforderungen wie Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit und zunehmender Rechtsextremismus. Dasselbe gilt für die Verhandlungen über den Vorschlag der Kommission für den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen der EU, der im Juli 2025 veröffentlicht wurde.

Der deutsch-französische Motor muss daher wieder in Gang gebracht werden. Mit dem „Neustart“ der deutsch-französischen Beziehungen unter der neuen deutschen Regierung gibt es nun eine Dynamik für Veränderungen.

Keine Antwort auf die Sorbonne-Rede

Die Amtseinführung des pro-europäischen Präsidenten Emmanuel Macron im Jahr 2017 hätte für die deutsch-französische Zusammenarbeit und die europäische Integration ein Segen sein können. Kurz nach seinem Amtsantritt wandte er sich in seiner wegweisenden Sorbonne-Rede über seine Ideen für die Zukunft der EU ausdrücklich an Deutschland. Eine angemessene Antwort von Bundeskanzlerin Angela Merkel erhielt er jedoch nicht. Ihr Nachfolger, Bundeskanzler Olaf Scholz, erwähnte die deutsch-französischen Beziehungen in einer Europa-Rede an der Prager Karlsuniversität im Sommer 2022, die von einigen Beobachter:innen als verspätete Antwort auf Macrons Sorbonne-Rede angesehen wurde, nicht einmal.

Einen Tiefpunkt erreichten die Beziehungen im Oktober 2022, als das Treffen des deutsch-französischen Ministerrats in letzter Minute verschoben wurde – ein ungewöhnlicher Schritt angesichts der Regelmäßigkeit dieser Beziehungen. Auch wenn die beiden Partner anschließend öffentlich ihre Kooperationsbereitschaft bekundeten – beispielsweise mit Macrons gut inszeniertem Staatsbesuch in Deutschland und den Regierungsberatungen im Mai 2024 –, blieb der von vielen erwartete Impuls durch die Koalition von Bundeskanzler Scholz aus.

Beschäftigt mit innenpolitischen Angelegenheiten

Weiter geschwächt wurde der deutsch-französische Motor durch koalitionsinterne Streitigkeiten in Deutschland. Zum ersten Mal regierte in Deutschland eine Koalition aus Sozialdemokrat:innen, Grünen und Liberalen, die schon bald mit Differenzen zu kämpfen hatte.

Auf EU-Ebene enthielt sich die Koalition aufgrund interner Meinungsverschiedenheiten nicht nur häufig bei Abstimmungen im Rat (das sogenannte German Vote), sondern überraschte ihre europäischen Partner auch mehrfach damit, bereits geklärten Fragen nicht zuzustimmen. Dies erschwerte allen Partnern – einschließlich Frankreich – die Zusammenarbeit mit Deutschland.

Neue Hoffnungen

Am 6. Mai 2025 trat die neue deutsche Regierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz, bestehend aus Christdemokrat:innen und Sozialdemokrat:innen, ihr Amt an. Die neue Koalition verfügt nur über eine knappe Mehrheit, was ihre Arbeit nicht einfach machen wird, und erste Streitigkeiten – beispielsweise über die Nominierung von Richter:innen für das Bundesverfassungsgericht – lassen bereits Risse in der Koalition erkennen. Die ersten Monate von Merz’ Kanzlerschaft geben jedoch Anlass zur Hoffnung auf ein deutsches „Comeback” auf EU-Ebene. Der neue Kanzler vertritt einen neuen Stil in den deutsch-französischen Beziehungen und der deutschen Europapolitik.

Tatsächlich ist der Atlantiker Merz ein überzeugter Europäer und frankophil. Er hatte Macron bereits als Oppositionsführer besucht und seine Bemühungen nach dem Sieg seiner Partei bei der Bundestagswahl im Februar 2025 intensiviert. Der französische Präsident und der neue Kanzler scheinen sich auf persönlicher Ebene gut zu verstehen, was für eine erfolgreiche deutsch-französische Beziehung immer wichtig ist.

Merz’ erste Auslandsreise als Kanzler nach Paris an seinem ersten Tag im Amt war von einer neuen Herzlichkeit geprägt. In einem Gastbeitrag in Die Welt und Le Figaro forderten Merz und Macron einen „deutsch-französischen Neuanfang für Europa“ und unterstrichen damit ihr Engagement für eine engere deutsch-französische Zusammenarbeit. Auf dem deutsch-französischen Ministerrat am 29. August 2025 stellten sie ein Bündel an gemeinsamen Projekten und Initiativen vor mit einem Schwerpunkt in der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik.

Wie der deutsch-französische Motor wieder rund laufen kann

Auf rhetorischer und symbolischer Ebene hat der neue Kanzler sein Engagement für die deutsch-französischen Beziehungen und die europäische Zusammenarbeit bereits unter Beweis gestellt – beispielsweise bei Besuchen in Frankreich, Polen und der Ukraine. Dieser positive Start muss nun mit Inhalt gefüllt werden. Dabei sind folgende Punkte wichtig:

1. Den Krisenmodus verlassen

Die deutsch-französische Partnerschaft muss den Krisenmodus verlassen und die Agenda für langfristige EU-Projekte festlegen. Merz’ und Macrons gemeinsamer Gastbeitrag in der Welt und Le Figaro sowie die auf dem jüngsten deutsch-französischen Ministerrat präsentierte Ausarbeitung der dort skizzierten Punkte können als Ausgangspunkt betrachtet werden.

Ein detaillierter Zeitplan zur Umsetzung ihrer Agenda fehlt jedoch und wichtige Themen wie die Klimakrise und der Aufstieg rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte werden nicht ausreichend adressiert. Frankreich und Deutschland sollten sicherstellen, dass diese Themen im Mittelpunkt ihrer Agenda stehen, und ihre Vorhaben schnell weiter konkretisieren.

2. Auf eine französische Rechtsaußen-Regierung vorbereiten

Deutschland muss sich darauf vorbereiten, dass die französische extreme Rechte in hohe Staatsämter gelangt. Der Sturz der zweiten Regierung in Frankreich über das Budget innerhalb von zehn Monaten zeigt, wie schwierig die politische und ökonomische Lage in Frankreich ist. Spätestens im Jahr 2027 könnte das Präsidentenamt mit einer Person besetzt sein, die deutlich euroskeptischer, protektionistischer und deutschlandfeindlicher ist als Macron. Daher sollte Bundeskanzler Merz das derzeitige Momentum nutzen und die Initiative ergreifen, gemeinsam mit seinen französischen Partnern wichtige Projekte auf den Weg zu bringen. Auf EU-Ebene gehören dazu eine Einigung über den nächsten MFR, die Vollendung der Kapitalmarktunion und die Vorbereitung auf eine weitere EU-Erweiterung.

Auf bilateraler Ebene und jenseits der hohen Politik sollte Deutschland die vielfältigen deutsch-französischen Kanäle innerhalb der Zivilgesellschaft stärken. Die Finanzierung deutsch-französischer Bürgerformate wie des Deutsch-Französischen Bürgerfonds oder des Deutsch-Französischen Zukunftswerks sollte ebenso sichergestellt werden wie die verschiedenen Austauschformate des Deutsch-Französischen Jugendwerks und gemeinsame Hochschul- und Forschungsstrukturen wie die Deutsch-Französische Hochschule. Schwachstellen in der Beziehung, wie die Tatsache, dass immer weniger Menschen „die Sprache des Nachbarn“ lernen, müssen behoben werden.

3. Die anderen europäischen Partner einbinden

Nicht zuletzt muss die neue Regierung mit ihren anderen europäischen Partnern, insbesondere im Osten, auf Kurs bleiben. Mit ihrer Russlandpolitik vor 2022 haben Frankreich und Deutschland die Perspektiven ihrer östlichen und nordisch-baltischen Partner vernachlässigt und Vertrauen verloren. Deutschland sollte eng mit ihnen zusammenarbeiten, auf ihre Anliegen eingehen und sie als gleichberechtigte Partner behandeln. Merz’ Besuch in Warschau unmittelbar nach seinem ersten Treffen als Bundeskanzler mit Macron in Paris und seine Besuche in Litauen und Finnland im Mai unterstreichen die Bedeutung, die der neue Kanzler dem Osten beimisst.

Merz muss diesen eingeschlagenen Weg fortsetzen. Insbesondere mit Polen scheint der Weg bereits holprig zu sein. Die deutsche und die polnische Regierung streiten sich über Grenzkontrollen, und der neue rechtsgerichtete polnische Präsident Karol Nawrocki dürfte die erhoffte neue Dynamik im Weimarer Dreieck behindern. Auch wenn es nicht einfach sein wird, sollte Deutschland dennoch versuchen, die französisch-polnisch-deutsche Zusammenarbeit in Politikbereichen wie Sicherheit oder Erweiterung zu fördern, um dem deutsch-französischen Motor eine breitere Perspektive zu geben, die auch Osteuropa einbezieht.

Gelingt es, das Führungsvakuum der EU zu beenden?

Nach den ersten Monaten der neuen deutschen Regierung scheint der deutsch-französische Motor besser zu laufen als zuvor. Über die positiven Signale hinaus wird seine Stärke jedoch auch davon abhängen, wie die beiden Parteien mit ihren Differenzen umgehen. Auch ihre jeweilige innenpolitische Lage wird entscheidend sein. Letztlich wird nur die Zeit zeigen, ob die derzeitige hohe Geschwindigkeit des deutsch-französischen Motors das Führungsvakuum auf EU-Ebene beenden kann.

Sabine Hoscislawski ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Politik (IEP) in Berlin und Redakteurin der Zeitschrift integration.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch in der Reihe Berlin Perspectives des Instituts für Europäische Politik (IEP).


Übersetzung: Manuel Müller.
Bilder: Autoreparatur: François GOGLINS [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons; Porträt Sabine Hoscislawski: IEP [alle Rechte vorbehalten].

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