Knapp anderthalb Jahre ist es her, dass die Bürger:innen der Europäischen Union das zehnte Europäische Parlament gewählt haben. Zum dritten Mal in Folge wurden die Europawahlen von bedeutenden grenzüberschreitenden Ereignissen geprägt: Die Wahl 2014 hatte im Nachgang der Eurokrise stattgefunden, die Wahl 2019 war von der Asylkrise (sowie dank „Fridays for Future” auch von der Klimakrise) beeinflusst. Die Wahl 2024 nun erfolgte im Schatten zweier weiterer Entwicklungen, die viele Europäer:innen noch direkter betrafen als die vorangegangenen Krisen.
Da war zum einen die Covid-19-Pandemie, die das Alltagsleben in einer Weise veränderte und beeinträchtigte, wie es kaum ein:e EU-Bürger:in je zuvor erlebt hatte. Zum anderen brachten der russische Angriff auf die Ukraine und wenig später die Eskalation des Nahostkonflikts Fragen von Krieg und Frieden zurück auf die politische Tagesordnung – und führten zudem zu einer akuten Energie- und Lebenshaltungskosten-Krise. Die Stimmung während der Wahl hätte kaum düsterer sein können: In einer Eurobarometer-Umfrage, die acht Monate vor den Wahlen durchgeführt wurde, gaben fast drei Viertel der Befragten an, dass ihr Lebensstandard gesunken sei oder im nächsten Jahr wahrscheinlich sinken werde.
Bei der Wahl selbst war ein deutlicher Anstieg der Unterstützung für die extreme Rechte zu verzeichnen. Die rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien, die bereits 2014 und 2019 an Boden gewonnen hatten, erzielten ein neues Rekordergebnis. Im Vergleich zu 2019 konnten alle drei Rechtsaußen-Fraktionen sowie die fraktionslosen rechtsextremen Abgeordneten ihre Sitzanzahl erhöhen. Insgesamt erzielte der Rechtsaußen-Block sowohl den höchsten Sitzzuwachs als auch das beste Ergebnis jemals bei einer Europawahl.
Die vielen Facetten der Wahl
Aber der Aufstieg der extremen Rechten ist nicht die einzige Geschichte, die es über diese Europawahl zu erzählen gibt. Um nur einige andere Beispiele zu nennen: Es war auch die erste Wahl, bei der eine amtierende Kommissionspräsident:in als Spitzenkandidat:in einer europäischen Partei angetreten ist. Es war die erste Wahl seit langem, bei der ernsthaft über eine EU-Erweiterung diskutiert wurde. Es war die erste Europawahl, bei der in Deutschland und Belgien 16- und 17-Jährige wählen durften. Es war die erste Wahl nach dem Qatargate-Korruptionsskandal von 2022. Und es war die Wahl, bei der die kleine transnaitonale Partei Volt ihr bislang bestes Ergebnis erzielt hat.
Es war die erste Wahl, bei der der Anteil weiblicher Europaabgeordneter gesunken statt gestiegen ist. Es war die Europawahl, die bislang am stärksten durch Social-Media-Kampagnen beeinflusst wurde. Es war die zweite Europawahl in Folge, bei der die Wahlbeteiligung gestiegen ist (wenn auch weniger als erwartet). Und es war, wieder einmal, eine Nebenwahl, deren öffentliche Sichtbarkeit weit hinter jener von nationalen Wahlen zurückblieb.
38 Kapitel, 67 Autor:innen
Um diese vielen Facetten der Wahl zu analysieren, haben Michael Kaeding, Alex Hoppe und ich einen Sammelband herausgegeben der im Sommer auf Englisch und jetzt auch auf Deutsch bei Springer VS erschienen ist. Das Buch umfasst 38 Kapitel von insgesamt 67 Autor:innen, die zahlreiche unteschiedliche Aspekte der Wahl in den Blick nehmen. Um der grenzüberschreitenden Bedeutung der Wahl gerecht zu werden, nehmen dabei alle Beiträge eine supranationale oder vergleichende Perspektive ein.
Der Sammelband ist als E-Book oder als Printausgabe erhältlich. Er baut auf zwei deutschsprachige Vorgängerbände zu den Europawahlen 2014 (von Michael Kaeding und Niko Switek) und 2019 (von Michael Kaeding, Manuel Müller und Julia Schmälter) auf, ist aber noch umfassender und hat Beiträger:innen aus noch mehr europäischen Ländern.
Chapter videos
Als „Sneak-Preview“ für die einzelnen Kapitel haben einige Autor:innen kurze Videos erstellt, in denen sie (meist auf Englisch) ihre Ergebnisse zusammenfassen. Das Buch selbst ist unter diesem Link zu finden.
Alexander Hoppe (für das Herausgeberteam): Einleitung
Oliver Schwarz: Von 27 auf 37: Ein mögliches Szenario für die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments in einer vollständig erweiterten Europäischen Union
Tyyne Karjalainen: EU-Erweiterung im Europawahlkampf: ein Vergleich zwischen nationalen Parteien und europäischen Fraktionen
Matilde Ceron (auch für Vera Beloshitzkaya und Zoe Lefkofridi): Gendered Shades of Right? Gender+-Gleichstellungsfragen in der politischen Agenda wirtschaftspolitisch rechter Parteien im Europäischen Parlament 2024
Gabriele Abels: Geschlecht und deskriptive Repräsentation: Was gibt es Neues nach den Wahlen 2024?
Caio Ponce de Leon R.F.: Die Macht der „vierten Staatsgewalt“: Inwieweit hat die regionale Presseberichterstattung die regionale Wahlbeteiligung bei den Europawahlen 2024 beeinflusst?
Ruth Berkowitz und Liesa Döpcke: Retten populistische Parteien die EU-Wahlbeteiligung?
Sammy Siegel: Unterschiede in der sozialen Verzerrung der Wahlbeteiligung – Ein Vergleich zwischen Europawahlen und nationalen Wahlen
Eva Heidbreder und Daniel Schade: Interinstitutioneller Wettbewerb und das Spitzenkandidaten-Verfahren: Aller guten Dinge sind drei?
Manuel Müller: Wie viele Stimmen sind nötig, um einen Sitz zu gewinnen? Verzerrungen der Wahlgleichheit bei der Europawahl 2024
Timo R. Stewart: Der Israel-Palästina-Konflikt bei der Europawahl 2024
Michael Kaeding, Manuel Müller, Alexander Hoppe (Hrsg.): Die Europawahl 2024. Rechtsruck im Schatten des Krieges, Cham (Springer VS) 2025.
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