22 November 2017

„Bundestag, machʼs europäisch“: Eine Petition für mehr europäische Demokratie

Dieses Jahr noch einen Beitrag zur europäischen Demokratie leisten? Hier ist die Gelegenheit dazu.
Mehr Demokratie auf europäischer Ebene: Das finden (mit Ausnahme der AfD) alle Parteien im Deutschen Bundestag eigentlich erst einmal gut. Konkrete Vorschläge, um dieses Ziel zu erreichen, waren in der deutschen politischen Debatte in den letzten Monaten jedoch kaum zu hören. Im Bundestagswahlkampf spielte die europäische Demokratie praktisch keine Rolle, und auch der letzte Stand der gescheiterten Jamaika-Sondierungsgespräche enthielt dazu nur den dürren Satz: „Den Rechtsstaatsmechanismus der EU wollen wir verbessern, die Kommission in ihrer Rolle als Hüterin der Verträge stärken sowie die Parlamentarisierung und Demokratisierung der EU fortsetzen.“

Dieses vage Bekenntnis ist nicht genug. Seit Anfang des Jahres haben das Europäische Parlament, die Europäische Kommission und die französische Regierung jeweils eigene, ambitionierte Vorschläge zur institutionellen Reform der EU unterbreitet. Die Gelegenheit für echte Fortschritte in diese Richtung ist damit so gut wie seit langem nicht mehr – aber sie wird ungenutzt verstreichen, wenn nicht auch Deutschland seinen Beitrag dazu leistet. Es ist deshalb an der Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen: Wenn den deutschen Parteien wirklich an einem demokratischeren Europa gelegen ist, dann müssen sie dieses schöne Schlagwort jetzt in konkrete Maßnahmen übertragen.

Jetzt ist der Bundestag gefordert

Gefordert ist dabei auch und in erster Linie der Deutsche Bundestag. Denn es ist zwar richtig, dass die Gestaltung der deutschen Europapolitik vor allem Aufgabe der Bundesregierung ist. Doch diese ist seit der Bundestagswahl nur noch geschäftsführend im Amt. Sie trifft deshalb nach gängiger politischer Praxis keine weitreichenden Entscheidungen mehr, die die nachfolgende Regierung binden würden. Und nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche sieht es so aus, als könnte es bis zur Ernennung dieser Nachfolgeregierung noch eine ganze Weile dauern.

Der Bundestag hingegen hat sich nach der Wahl bereits wieder neu konstituiert und ist damit voll handlungsfähig. Soll Deutschland in den nächsten Monaten eine mutige, gestaltende Europapolitik verfolgen, dann führt der beste Weg dazu deshalb über das Parlament: Wenn die Abgeordneten sie ausdrücklich zum Handeln auffordern, braucht in einer parlamentarischen Demokratie auch eine geschäftsführende Regierung sich nicht aus Rücksicht auf ihre Nachfolge zurücknehmen.

Dreizehn konkrete Vorschläge

Bereits vor einigen Wochen hat ein Netzwerk europapolitischer Vereine und Initiativen eine Petition an den Deutschen Bundestag verfasst, in dem sie die Abgeordneten dazu auffordern, dreizehn spezifische Maßnahmen zur Stärkung der europäischen Demokratie zu unterstützen. Den Anstoß zu dieser Petition gab die Gruppe The European Moment, zu den weiteren Verfassern und Unterstützern zählen unter anderem die Jungen Europäischen Föderalisten, European Alternatives, das European Democracy Lab, die Europa-Union Deutschland sowie DiEM25. Und auch ich selbst war an der Formulierung der Petition beteiligt.

Der volle Wortlaut ist auf einer eigens dafür eingerichteten Homepage nachzulesen. Noch bis zum 14. Dezember ist es außerdem möglich, die Petition auf der Seite des Deutschen Bundestags online mitzuunterzeichnen.

Inhaltlich zielt die Petition auf vier Themenschwerpunkte ab: die Stärkung des Europawahlrechts, die Demokratisierung der EU-Institutionen, die Sicherung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten und eine größere Transparenz bei europapolitischen Entscheidungen. Regelmäßigen Lesern dieses Blogs werden viele der konkreten Forderungen, die sich unter diesen Schwerpunkten verbergen, bereits bekannt vorkommen – im Folgenden sollen die dreizehn Vorschläge dennoch kurz erläutert werden.

Für ein stärkeres Europawahlrecht

● Als erste Maßnahme fordert die Petition ein klares Bekenntnis zum Spitzenkandidaten-Verfahren, bei dem die europäischen Parteien vor der Europawahl ihre Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten benennen. Dieses Verfahren, das bei der Europawahl 2014 bereits zum ersten Mal angewendet wurde, stärkt die europäischen Parteien und ist ein wichtiger Schritt zu einer parlamentarischen Demokratie auf europäischer Ebene. Da es auf Kosten der Macht des Europäischen Rates geht, stößt es bei vielen nationalen Regierungen jedoch bis heute auf Widerwillen. Auch die deutsche Bundesregierung hat sich bis jetzt nicht klar dazu bekannt, dass es die europäischen Spitzenkandidaten auch in Zukunft geben sollte. Es wird Zeit, das sich das ändert.

● Die zweite Forderung bezieht sich auf eine „europäische Zweitstimme“ bei der Europawahl: Die 73 Sitze im Europäischen Parlament, die durch den britischen EU-Austritt frei werden, sollen künftig über gesamteuropäische Wahllisten besetzt werden. Warum ich selbst das für einen der wichtigsten Hebel überhaupt zur Stärkung der europäischen Demokratie halte, habe ich hier ausführlich beschrieben.

● Darüber hinaus fordert die Petition langfristig die vollständige Stimmgleichheit bei Europawahlen. Um einen Sitz im Europäischen Parlament zu gewinnen, sind in manchen EU-Mitgliedstaaten derzeit deutlich weniger Stimmen nötig als in anderen. Dadurch entstehen nennenswerte Verzerrungen zwischen Stimm- und Sitzanteil der europäischen Parteien, die einer repräsentativen Demokratie nicht gut anstehen. Um diesem Problem abzuhelfen, gibt es verschiedene Optionen. Eine davon wäre, die europäische Zweitstimme für einen europäischen Verhältnisausgleich zu nutzen – wie das funktionieren könnte, habe ich hier und hier näher beschrieben.

Für demokratischere und effektivere Institutionen

● Der zweite Themenblock betrifft die europäischen Institutionen. Dabei fordert die Petition zunächst ein Initiativ- und Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments in allen Gesetzgebungsverfahren. Mit der Idee einer europäischen parlamentarischen Demokratie ist es kaum vereinbar, wenn wichtige steuer- oder sozialpolitische Entscheidungen in der EU allein durch einstimmigen Beschluss der nationalen Regierungen im Ministerrat getroffen werden statt im Europäischen Parlament.

● Außerdem sollen künftig die Mitglieder der Europäischen Kommission allein durch das Europäische Parlament gewählt und nicht mehr von den nationalen Regierungen vorgeschlagen werden. Außerdem soll das Parlament die Möglichkeit erhalten, die Kommission durch ein konstruktives Misstrauensvotum abzulösen. Neben den gesamteuropäischen Europawahllisten halte ich diesen Vorschlag (wie ich hier näher beschrieben habe) für den wichtigsten Ansatz für eine dauerhafte Stärkung der europäischen Demokratie. Er würde eine echte parlamentarische Verantwortlichkeit der Kommission bringen – und dadurch nicht nur den Einfluss der europäischen Wähler auf die Vergabe europapolitischer Spitzenämter verbessern, sondern auch die institutionelle Dynamik der EU insgesamt verändern.

● Des Weiteren setzt sich die Petition dafür ein, dass das Europäische Parlament seinen Arbeitsort künftig selbst festlegt und so die Möglichkeit bekommt, das regelmäßige Pendeln von Brüssel nach Straßburg zu beenden. Dadurch ließe sich nicht nur viel Geld und CO2 sparen. Auch für den politischen Einfluss des Europäischen Parlaments ist die räumliche Nähe zu den übrigen EU-Institutionen in Brüssel sinnvoll.

● Schließlich fordert die Petition, dass die Europäische Bürgerinitiative verbindlicher werden soll. In ihrer aktuellen Form spielt die Bürgerinitiative in der europäischen Politik praktisch kaum eine Rolle: Die Hürden dafür sind zu groß, die Effekte zu klein. Nur mit einer sinnvollen Reform könnte dieses Instrument künftig für eine echte direktdemokratische Bürgerbeteiligung nützlich werden.

Für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten

● Im dritten Themenfeld geht es darum, wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten gesichert werden kann – eine Frage, die vor allem durch die Entwicklungen in Ungarn und Polen gerade besondere Dringlichkeit hat. Die Petition fordert, dass Verstöße gegen die europäischen Rechtsstaatsstandards künftig direkt vor dem Europäischen Gerichtshof verhandelt werden können. Was für ein solches „systemisches Vertragsverletzungsverfahren“ spricht, habe ich hier und hier ausführlicher beschrieben.

● Entscheidend für die demokratische Kultur in den Mitgliedstaaten ist aber natürlich die dortige Zivilgesellschaft. Die Petition will deshalb, dass die EU die Handlungsfähigkeit der Zivilgesellschaft in den Mitgliedstaaten stärker fördert.

● Und schließlich fordert die Petition alle Bundestagsparteien dazu auf, sich innerhalb ihrer jeweiligen europäischen Dachparteien für die Grundwerte der EU einzusetzen. Das betrifft natürlich vor allem die CDU/CSU, die in der Europäischen Volkspartei bis heute mit der ungarischen Fidesz zusammenarbeitet. Aber auch andere Parteien dürfen sich angesprochen fühlen. So kooperiert zum Beispiel die SPD (SPE) mit der rumänischen Regierungspartei PSD, die zuletzt durch Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz aufgefallen ist, die FDP (ALDE) mit der tschechischen ANO, die jüngst mit einem europaskeptisch-populistischen Kurs die nationale Parlamentswahl gewann.

Für mehr Transparenz bei europäischen Entscheidungen

● Im letzten Themenfeld geht es um Transparenz. Dabei setzt sich die Petition dafür ein, dass Sitzungen des Ministerrats und anderer zwischenstaatlicher EU-Gremien künftig im Internet live übertragen werden – so wie das beim Europäischen Parlament und seinen Ausschüssen schon lange der Fall ist.

● Des Weiteren fordert die Petition ein verpflichtendes Lobbyregister für alle EU-Institutionen. Bislang gibt es nur ein freiwilliges Transparenzregister des Europäischen Parlaments und der Kommission. Ein Vorschlag der Kommission, dieses Register verpflichtend zu machen und auch auf den Rat auszuweiten, wurde von den nationalen Regierungen noch nicht beantwortet.

● Und schließlich sollen auch die Verhandlungsmandate für internationale Abkommen der EU künftig veröffentlicht werden. Mit dieser Forderung reagiert die Petition auf den langjährigen Streit um TTIP und andere Freihandelsabkommen, bei denen die fehlende Transparenz zu großem öffentlichem Misstrauen führte und die Verhandlungen delegitimierte.

Jetzt mitunterzeichnen

Natürlich hat weder der Bundestag noch die Bundesregierung es allein in der Hand, diese dreizehn Forderungen zu verwirklichen. Aber in der aktuellen politischen Stimmung können sie einen entscheidenden Beitrag leisten, um auch auf europäischer Ebene den Ball ins Rollen zu bringen. Der erste Schritt dazu muss sein, den Vorschlägen zu einer demokratischeren EU im deutschen Politikbetrieb größere Sichtbarkeit zu verschaffen. Und dafür kann die Petition ein geeignetes Mittel sein.

Wenn eine Petition an den Deutschen Bundestag innerhalb von vier Wochen von 50.000 Menschen unterzeichnet wird, so wird im Petitionsausschuss in einer öffentlichen Sitzung darüber beraten. Berechtigt zur Unterschrift ist dabei nach Art. 17 GG „jedermann“ – unabhängig von der Staatsangehörigkeit. In unserem Fall endet die Mitzeichnungsfrist am 14. Dezember 2017. Wer also in diesem Jahr noch schnell einen Beitrag zu mehr europäischer Demokratie leisten möchte: Hier ist die Gelegenheit dazu.

Die Petition kann hier auf der Homepage des Deutschen Bundestags online mitgezeichnet werden. Dafür ist es notwendig, sich mit Name und Anschrift zu registrieren. Das dauert aber nur wenige Minuten.

Alternativ gibt es auf der Homepage der Petition eine Vorlage für eine Unterschriftenliste. Diese kann auf Papier ausgedruckt, unterschrieben und bis zum Stichtag an die auf der Liste angegebene Adresse eingeschickt werden.

Bilder: The European Moment.

2 Kommentare:

  1. Der beschriebe Ansatz hat zwei Schwächen. 1. Nicht nur rechtsstaatliche Standards sollten gerichtlich einklagbar sein, sondern jeder europäische Standard.
    2. hat die Forderung nach Werteeinsatz in den Dachparteien etwas erzieherisches, was den zu erziehenden sicher nicht passt und stellt somit ein spalterisches Risiko dar. Das Einhalten von Regeln zu verlangen, für die es keine Sanktionen gibt sollte man sich um der Vertiefung der EU Willen verkneifen.
    Mit einer solchen Umstellung verlöre der beschriebene Ansatz auch sein chauvinistisches Hintergrundrauschen.

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    1. Lieber Geht-Dich Nichts-An,

      zu 1: Tatsächlich ist die Einhaltung jedes europäischen Rechtsakts vor dem Europäischen Gerichtshof einklagbar, nämlich mit dem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258ff AEUV. Das Problem ist, dass sich solche Verfahren jeweils nur auf spezifische Rechtsakte beziehen können, nicht auf die Einhaltung des Demokratie- bzw. Rechtsstaatsprinzips im Allgemeinen. Die Idee bei dem „systemischen“ Vertragsverletzungsverfahren ist deshalb, die EU-Grundwerte in Art. 2 EUV justiziabel zu machen, sodass der EuGH auch auf Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip unmittelbar reagieren könnte. Ausführlicher habe ich über diese Ansatz hier geschrieben; in der rechtswissenschaftlichen Debatte wird er u.a. von Kim Lane Scheppele vertreten (z.B. hier).

      Zu 2: Sinn der europäischen Dachparteien ist es, nationale Parteien verschiedener Länder mit ähnlichen politischen Zielen und Werten zu vereinigen. Diese Ziele und Werte werden von den Mitgliedern der Dachparteien definiert und in ihren Programmen festgelegt. Und natürlich sind Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Werte, zu denen sich sowohl die europäischen Christdemokraten (EVP) als auch die europäischen Sozialdemokraten (SPE) und die europäischen Liberalen (ALDE) bekennen. Wenn nun einzelne nationale Mitgliedsparteien von EVP, SPE oder ALDE gegen diese Werte verstoßen, dann ist es Aufgabe der anderen Mitglieder, auf deren Einhaltung zu pochen – andernfalls würden die europäischen Dachparteien ihre inhaltliche Linie und damit ihren politischen Sinn verlieren. Daran ist auch nichts "Chauvinistisches". Vielmehr handelt es sich um eine notwendige Debatte über Verstöße einzelner Politiker und Parteien gegen gemeinsame, europaweit geteilte Werte.

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