05 August 2012

Mario Draghi und die Rolle der Europäischen Zentralbank in der Eurokrise

Mario Draghi will den Euro retten, aber nicht ganz alleine. Schließlich gibt es dafür auch gewählte Politiker.
In der wilden Achterbahnfahrt der Eurokrise übernahm in den letzten zehn Tagen die Europäische Zentralbank das Steuer. Mitte der vorvergangenen Woche kündigte deren Präsident Mario Draghi an, die EZB werde „alles Erforderliche tun, um den Euro zu retten – und glauben Sie mir, es wird ausreichen“. Die Anleger interpretierten das als eine Ankündigung, dass die Zentralbank das zuletzt ruhende Programm zum Aufkauf von Staatsanleihen der Krisenstaaten wiederaufnehmen würde, und reagierten euphorisch: Die europäischen Aktienkurse und der Euro-Wechselkurs stiegen kräftig an. Diesen Donnerstag nun beschloss der EZB-Rat in der Tat die Wiederaufnahme des Aufkaufprogramms. In seiner Presseerklärung jedoch formulierte Draghi Bedingungen dafür: Die EZB werde nur von solchen Staaten Anleihen kaufen, die auch an einen der Rettungsfonds EFSF oder ESM einen Hilfsantrag stellen und sich gegebenenfalls deren wirtschaftspolitischen Vorgaben unterwerfen. Die spanischen Staatsanleihen, die europäischen Aktienmärkte und der Eurokurs reagierten umgehend mit einer schroffen Talfahrt – ehe sie sich am Freitag, als sich die Aufregung gelegt hatte, wieder nach oben drehten.

Nebenbei kam es noch zu einer ungewohnt offenen Kritik Draghis an dem Chef der deutschen Bundesbank, Jens Weidmann, der als Einziger im EZB-Rat nicht für die Wiederaufnahme des Programms gestimmt hatte. Und der Generalsekretär der bayrischen CSU (EVP), Alexander Dobrindt, unterstellte Draghi, aufgrund seiner nationalen Herkunft als Italiener voreingenommen zu sein, was so ziemlich das härteste politische Foul ist, das man gegenüber dem Repräsentanten einer supranationalen europäischen Institution begehen kann.

Was aber hinter der ganzen Aufregung steht, ist ein Streit darüber, welche Rolle die Europäische Zentralbank in der künftigen Funktionsweise der Währungsunion und bei der Lösung der Eurokrise spielen soll. Dabei gibt es im Wesentlichen drei Möglichkeiten.

Das Problem

Das strukturelle Ausgangsproblem der Eurokrise besteht darin, dass die Währungsunion keine Mechanismen bereithält, um asymmetrische Wirtschaftsschocks aufzufangen, bei denen manche Mitgliedstaaten stärker getroffen werden als andere. Kommt es, wie zu Beginn der jetzigen Krise, zu solch einem asymmetrischen Schock im Finanzbereich, so setzt sich in den betroffenen Ländern eine Teufelsspirale zwischen Banken- und Staatsverschuldung in Gang. Dabei können sich sogar Negativ-Blasen bilden, in denen die Staatsanleihen der Krisenstaaten eigentlich schon unterbewertet sind, die Anleger sie jedoch weiterhin nicht kaufen wollen, weil sie davon ausgehen, dass die Kurse erst einmal weiterhin sinken werden – was dann zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird.

Die einzige Chance, diese Spirale ohne Staatsbankrott zu durchbrechen, besteht darin, glaubwürdig äußere Hilfe bereitzustellen: Irgendjemand muss beginnen, als lender of last resort wieder Anleihen der Krisenstaaten zu kaufen (oder ihnen anderweitig Geld zur Verfügung zu stellen). Dadurch wird der Abwärtstrend gestoppt, sodass auch die übrigen Anleger wieder an steigende Kurse glauben und Anleihen zu kaufen beginnen. Gelingt dies, so entstehen dem lender of last resort nicht einmal Verluste, da er die Anleihen später gewinnbringend wieder verkaufen kann. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sein Einschreiten in der Krise auch wirklich glaubwürdig ist – und das kann es nur dann sein, wenn ihm wenigstens potenziell unbegrenzte Finanzmittel zur Verfügung stehen. Andernfalls werden die übrigen Anleger befürchten, dass der lender of last resort zuletzt selbst überfordert ist, und kein Vertrauen in seine Rettungsaktion fassen.

Option 1: Die Zentralbanklösung

Und an dieser Stelle kommt die Zentralbank ins Spiel: Da sie in der Lage ist, selbst Geld zu schaffen, ist ihr finanzieller Spielraum definitionsgemäß unbegrenzt. Würde sich die EZB also zu einem beherzten Eingreifen aufraffen, so könnte sie die südeuropäische Schuldenkrise quasi schlagartig beenden – und vermutlich war es das, was die Anleger aus Draghis Äußerungen vor zehn Tagen heraushörten.

Tatsächlich sind Aktionen, bei denen Zentralbanken im großen Stil Anleihen ihrer eigenen Staaten kaufen, außerhalb der Eurozone vollkommen üblich. Allein in den letzten Monaten intervenierten die Bank of England, die amerikanische Federal Reserve und die japanische Zentralbank, um die Kurse nationaler Staatsanleihen zu stützen und dadurch auch die Konjunktur zu fördern. Die EZB hingegen kaufte Anleihen der Krisenländer bisher nur in recht bescheidenem Umfang und immer nur, um in Zeiten höchster Not vorübergehend Abhilfe zu schaffen. Diese Zurückhaltung wurde (vor allem außerhalb Deutschlands) oft kritisiert, hat jedoch einige recht gute Gründe:

Das erste Problem der EZB besteht darin, dass die Käufe von Staatsanleihen potenziell die Inflation anheizen können: Um in der Krise glaubwürdig zu intervenieren, muss sie bereit sein, neues Geld zu schöpfen, sodass sich die Geldmenge insgesamt erhöht. Nun werden die Gefahren, die von der Inflation ausgehen, in den meisten Ländern der Welt weit weniger gravierend eingeschätzt als in der deutschen Öffentlichkeit. Außer Frage steht jedoch, dass unter normalen Umständen eine moderate und stabile Preissteigerungsrate für das Wirtschaftswachstum am besten ist – und dass diese am besten erreicht werden kann, wenn sich die Zentralbank ausschließlich auf diese Aufgabe konzentriert. Entsprechend ist in Art. 127 AEUV die Preisstabilität als das „vorrangige Ziel“ der EZB definiert (anders als etwa bei der amerikanischen Fed, die außer der Inflationskontrolle auch die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und niedrige langfristige Zinsen zur Aufgabe hat).

Zweitens ergibt sich ein demokratisches Problem: Die EZB besitzt eine sehr weitgehende politische Unabhängigkeit, die sich gerade dadurch rechtfertigen lässt, dass sie sich ausschließlich auf das eher „technische“ Ziel der Preisstabilität konzentrieren soll. Der Aufkauf von Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten hat jedoch deutlich darüber hinausgehende Umverteilungswirkungen, die besser von einem gewählten Organ beschlossen werden sollten.

Und drittens beinhaltet ein Ankauf von Staatsanleihen durch die Zentralbank jeweils auch ein Moral-Hazard-Problem: Außer den systembedingten, nicht von einzelnen Mitgliedstaaten verschuldeten Krisen kann es schließlich auch vorkommen, dass ein Land durch eigene finanzpolitische Nachlässigkeit in Bedrängnis gerät. Wenn auch in diesen Fällen die EZB Staatsanleihen aufkauft, ist der Anreiz für die Mitgliedstaaten gering, selbst Vorsorge zu treffen. Hilfe in der Krise sollte deshalb immer zumindest mit der Möglichkeit zu Reformauflagen verbunden sein, die die EZB – wiederum mangels politischer Legitimation – allein nicht stellen kann.

Nicht nur Deutschland lehnt deshalb den unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB ab. Auch die Zentralbank selbst weigerte sich bisher, die Krisenlösung eigenständig herbeizuführen, und verteidigte diese Position auch etwa gegenüber der spanischen Regierung unter Mariano Rajoy (PP/EVP). Stattdessen forderte die EZB immer wieder, dass die Politik die Verantwortung übernehmen sollte.

Option 2: Die politische Lösung

Für eine solche politische Lösung gäbe es verschiedene Möglichkeiten. Die eleganteste Lösung wäre in meinen Augen eine vollständige Fiskalunion, bei der der größte Teil der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben in Europa nicht mehr über die nationalen Haushalte, sondern über das Budget der EU läuft (etwa durch die Einrichtung einer gesamteuropäischen Sozialversicherung). Dadurch würden die nationalen Haushalte insgesamt an wirtschaftlicher Relevanz verlieren, asymmetrische Schocks würden unwahrscheinlicher und gegebenenfalls der Bankrott einzelner Länder leichter zu verdauen.

Da sich die nationalen Staats- und Regierungschefs jedoch zu einer solchen Fiskalunion kaum aufraffen werden, werden die nationalen Haushalte wohl auch weiterhin im Mittelpunkt der europäischen Finanzpolitik stehen. Entsprechend ist es auch bei dieser Option nötig, dass ein europäischer lender of last resort einspringt, um in einer Krise die Anleihen der betroffenen Mitgliedstaaten zu stabilisieren – nur eben nicht mit Zentralbank-, sondern mit Steuergeld.

Genau dies ist der Sinn der europäischen „Rettungsschirme“ EFSF und ESM. Diese unterliegen der politischen Kontrolle der Regierungen der Mitgliedstaaten und werden von diesen mit Kapital ausgestattet. Damit werden die wichtigsten Probleme der Zentralbanklösung vermieden: Da das Kapital von EFSF und ESM aus Steuergeldern finanziert ist, wirken sich ihre Hilfen nicht auf die Inflation aus. Auch die demokratische Kontrolle des ESM ist angesichts der fehlenden Beteiligung des Europäischen Parlaments zwar nicht wirklich zufriedenstellend, aber immerhin besser als die der Europäischen Zentralbank. Und anders als die EZB hat der ESM die Möglichkeit, Krisenstaaten, die seine Hilfe in Anspruch nehmen, Reformprogramme zu diktieren, was die Gefahr eines Moral Hazard deutlich reduziert.

Doch die Rettungsschirme haben einen anderen, gravierenden Nachteil: Ihr Kapital ist schlicht zu klein. Die EFSF kann maximal 440, der ESM maximal 500 Milliarden Euro verleihen, was für eine Rettung Spaniens oder Italiens viel zu wenig wäre. Damit fehlt es ihnen an der Glaubwürdigkeit, die ein lender of last resort benötigt, wenn seine Aktionen effektiv sein sollen.

Die nächstliegende Möglichkeit, um dem abzuhelfen, wäre eine unbegrenzte Nachschusspflicht der Mitgliedstaaten für das ESM-Kapital. Der ESM hätte dann die Möglichkeit, Interventionen in beliebiger Höhe durchzuführen, für die die europäischen Steuerzahler aufkommen müssten. Faktisch käme das also einem europäischen Besteuerungsrecht gleich, womit der Rettungsschirm sich noch weiter zum EU-Schattenhaushalt entwickeln würde. Dafür allerdings ist das demokratische Fundament des ESM dann doch etwas schwach – ganz davon abgesehen, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht eine solche EU-Steuer ziemlich sicher für grundgesetzwidrig halten würde.

Option 3: Die gemischte Lösung

Was deshalb zuletzt wiederholt vorgeschlagen wurde, ist eine gemischte Lösung: nämlich dem ESM eine Banklizenz zu erteilen, durch die er (entsprechend Art. 123 Abs. 2 AEUV) die Möglichkeit bekäme, sich von der Europäischen Zentralbank Geld zu leihen. Gegen die Hinterlegung der von ihm gekauften Staatsanleihen erhielte er einen EZB-Kredit, von dem er weitere Staatsanleihen kaufen könnte. Anders als bei der Zentralbanklösung würde also nicht die EZB selbst, sondern der ESM als Krisenretter auftreten – durch die Banklizenz hätte er aber Zugriff auf die unbegrenzten Finanzmittel, die sonst nur der Zentralbank zur Verfügung stehen.

Gegenüber der Zentralbanklösung hätte diese Option den Vorteil, dass der ESM einer etwas besseren demokratischen Kontrolle unterliegt und dass er die Rettung der Krisenstaaten mit Reformauflagen verbinden kann. Was allerdings bleibt, ist das Inflationsproblem: Ob nun die Zentralbank selbst oder der ESM mit Zentralbankgeld die Staatsanleihen kauft – es kommt so oder so zu einer Ausweitung der Geldmenge, die potenziell preistreibend wirken kann. Die EZB könnte damit, so scheint es, einigermaßen leben; die meisten europäischen Regierungen sowieso. Die deutsche Bundesregierung jedoch lehnt eine Banklizenz für den ESM ab.

Draghis Vorstoß

Damit allerdings nähern wir uns allmählich dem Ende dessen, was überhaupt noch möglich ist: Nach Stand der Dinge verweigert sich die Regierung Merkel (CDU/EVP) jeder der drei Lösungsvarianten – der Zentralbank- und der gemischten Option aus Furcht vor einer möglichen Inflation, der politischen Option aus Sorge um die nationale Souveränität. Und da zugleich aus dem Berliner Kanzleramt auch keine konstruktiven Alternativvorschläge kommen, wächst die Sorge, dass die Währungsunion zuletzt doch noch zerbrechen könnte.

In dieser Situation nun hat die EZB offenbar den Versuch unternommen, einseitig eine Lösung herbeizuführen, die der dritten, gemischten Option ähnelt. Denn genau darauf laufen die letzten Erklärungen Mario Draghis faktisch hinaus: dass die EZB Anleihen von Krisenstaaten kaufen wird, aber nur, wenn diese zuvor einen Antrag an den Rettungsschirm stellen und sich dessen Vorgaben unterwerfen. Anders als bei der Variante mit der ESM-Banklizenz würden die Hilfskredite also direkt von der Zentralbank kommen. Indem diese ihre Entscheidung über den Aufkauf von Staatsanleihen aber an einen Beschluss des ESM koppelt, liegt das letzte Wort darüber, ob und zu welchen Bedingungen ein Land gerettet wird, doch beim Rettungsschirm und damit in der Hand der nationalen Regierungen.

Dass die Märkte auf diese Ankündigung (nach der Enttäuschung von Donnerstag) letztlich positiv reagierten, ist nicht überraschend. Draghis Vorstoß vereint zwar eine ganze Reihe von Nachteilen: das Inflationsrisiko, die trotz allem nur mäßige Legitimation des ESM – und vor allem die hohe Komplexität der ganzen Konstruktion, durch die die meisten europäischen Bürger wohl kaum noch verstehen werden, wer eigentlich welche Verantwortung bei der Rettung von Krisenstaaten übernimmt. Immerhin aber zeichnet er einen gangbaren Lösungsweg auf, und das ist mehr, als der Europäische Rat in bald vier Jahren Dauerkrise erreicht hat.

Bild: By World Economic Forum [CC-BY-SA-2.0], via Wikimedia Commons.

1 Kommentar:

  1. Interesting post. The demand that states sign up for ESM/EFSF bailouts (e.g. come under European stewardship) is an expression of power and it is undemocratic. But I think we would all agree that the ECB is subject to intolerable contradictions between its mandate, the need to prevent the collapse of the EU economy, and the completely divergent demands on national governments. No matter what it does it will be harshly criticized by everyone and the ESM/EFSF deal may be what is needed to square the circle (e.g. moral hazard/saving the economy/appeasing the fiscal-monetary hawks). In that Draghi has proved I think pretty skillful. He's a champion of Eurocratic "subtlety" (as Krugman puts it).

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