25 Oktober 2016

Ärger um Paul Magnette: Ist die wallonische CETA-Blockade undemokratisch?

Von diesen zwei Sozialdemokraten hat nur einer ein EU-Mandat.
Im Februar 2012 war Paul Magnette (PS/SPE) belgischer Minister für öffentliche Unternehmen, Wissenschaft und Entwicklungszusammenarbeit – und überhaupt nicht gut auf den europäischen Währungskommissar Olli Rehn (Kesk./ALDE) zu sprechen, der das Land mitten in der Wirtschaftskrise zum Abbau der Staatsausgaben drängte. In einem Interview erklärte Magnette, Haushaltsdisziplin seit zwar notwendig, die Europäische Kommission habe aber kein Recht, sich in die Details der belgischen Wirtschaftspolitik einzumischen. (Ich habe damals ausführlich über diesen Konflikt geschrieben.) Das Interview gipfelte in den Worten:
Wer kennt Olli Rehn? Wer hat jemals das Gesicht von Olli Rehn gesehen? Wer weiß, wo er herkommt und was er getan hat? Niemand. Und dabei sagt er uns, wie wir unsere Wirtschaftspolitik führen sollen. Europa hat keine demokratische Legitimation, dies zu tun.
Viereinhalb Jahre später ist Paul Magnette Präsident der Region Wallonie, und auf einmal scheinen seine Worte auf ihn selbst zuzutreffen. Denn natürlich ist auch er für den größten Teil der europäischen Bevölkerung ein völlig Unbekannter – oder war es wenigstens bis vor einigen Tagen. Sein Mandat verdankt er jedenfalls allein den rund 3,6 Millionen Wallonen, von denen rund 2,2 Millionen an der letzten Regionalwahl teilgenommen haben. Und dass Magnette vor seiner Zeit als aktiver Politiker Universitätsprofessor war und einige lesenswerte Bücher über die EU-Bürgerschaft und die europäische Demokratie geschrieben hat, wissen außerhalb akademischer Fachkreise wohl ebenfalls nur die wenigsten Europäer.

Kurz: Kaum jemand in Europa hat jemals das Gesicht von Paul Magnette gesehen. Und dennoch sagt er uns, ob wir mit Kanada ein Freihandelsabkommen abschließen dürfen oder nicht. Hat das wallonische Regionalparlament die demokratische Legitimation, dies zu tun?

Langjähriger Widerstand gegen CETA

Die Hintergründe sind rasch erzählt (und dieser Tage ohnehin in allen Zeitungen zu lesen): Seit Jahren haben die Europäische Kommission und die kanadische Regierung über das Freihandelsabkommen CETA verhandelt, das die wirtschaftliche Integration zwischen der EU und Kanada voranbringen soll. Da CETA nicht nur Zölle abbaut und bestimmte technische Standards harmonisiert, sondern auch umstrittene Regelungen zum Investitionsschutz und zur Marktliberalisierung enthält, regte sich auch schon früh Widerstand dagegen – etwa durch den Verein Campact, aber auch durch die Europäische Linke und die Grünen.

Aber auch bei den europäischen Sozialdemokraten, etwa der deutschen SPD, hatte CETA nicht nur Freunde. Und nicht zuletzt erklärte das wallonische Regionalparlament (mit einer Mehrheit aus Sozialisten, Christdemokraten und Grünen und gegen die Stimmen der Liberalen) bereits im vergangenen April, dass es das Abkommen ablehne und alles rechtlich in seiner Macht Stehende tun werde, um es zu stoppen.

Streit um die Beteiligung der nationalen Parlamente

Zum Knackpunkt wurde im Juli schließlich die Frage, welche Parlamente an der Ratifikation des Abkommens beteiligt werden sollen. Nach Art. 207 AEUV besitzt die Europäische Union nämlich die alleinige Zuständigkeit für die Außenhandelspolitik. Um in Kraft zu treten, müssen Freihandelsabkommen deshalb nur vom Europäischen Parlament und vom EU-Ministerrat ratifiziert werden – wobei im Ministerrat Einstimmigkeit erforderlich ist, wenn es in dem Abkommen (wie bei CETA) auch um Direktinvestitionen geht.

Dagegen wurde jedoch bald die Kritik laut, dass CETA inhaltlich weit über die bloße Handelspolitik hinausgehe. Es müsse deshalb als „gemischtes Abkommen“ behandelt werden, bei dem nicht nur Kanada und die EU, sondern auch alle 28 Mitgliedstaaten Vertragspartner sind und ein Ratifikationsrecht haben. Die Europäische Kommission widersetzte sich dieser Sichtweise zunächst und wurde dabei auch von der italienischen Regierung unterstützt. Verschiedene andere Regierungen, unter anderem die deutsche, beharrten jedoch auf einer Behandlung als gemischtes Abkommen.

Die Kommission gab dem Druck der Regierungen nach

Am Ende gab die Kommission nach und erklärte, sie betrachte CETA rechtlich zwar weiterhin als ein Abkommen, das unter die alleinige Zuständigkeit der EU falle. Angesichts der „politischen Lage im Ministerrat“ werde sie es jedoch als gemischtes Abkommen behandeln und damit den nationalen Parlamenten zur Ratifikation vorlegen.

Ich habe im Juli auf diesem Blog darüber geschrieben, weshalb ich diese Entscheidung der Kommission für einen Fehler halte. Tatsächlich hätte die Kommission (nach Art. 218 Abs. 11 AEUV) die Möglichkeit gehabt, zunächst ein Gutachten des Europäischen Gerichtshofs einzuholen, in dem dieser die Frage nach der alleinigen oder gemischten Zuständigkeit verbindlich geklärt hätte. Indem sie dem politischen Druck der Regierungen nachgab, zeigte sie sich in der Wahl des Verfahrens offen opportunistisch und schwächte damit das langfristige Vertrauen in die europäischen Institutionen.

Belgien kann nicht unterschreiben

Was aber brachte die Kommission zu ihrer Entscheidung? Ein wesentlicher Grund dürfte wohl der Zeitfaktor gewesen sein: Ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof kann sich leicht über einige Jahre hinziehen, und währenddessen wäre die gesamte CETA-Ratifikation in der Schwebe geblieben.

Stattdessen setzte die Kommission offenbar darauf, dass die nationalen Regierungen CETA als gemischtes Abkommen rasch unterschreiben und jenen Teil davon, der auch in ihren Augen unter die alleinige Zuständigkeit der EU fällt, zur „vorläufigen Anwendung“ freigeben würden. Dieser Teil wäre dann gleich nach der Ratifikation durch das Europäische Parlament in Kraft getreten; nur für den Rest des Abkommens wäre auch die Ratifikation der nationalen Parlamente nötig gewesen.

Was die Kommission dabei offenbar nicht bedacht (oder nicht erwartet) hat, ist, dass die belgische Regierung schon ihre Unterschrift für CETA nur leisten kann, wenn sie dafür auch die Unterstützung der Regionen des Landes hat. Und so wurde die Wallonie zum Stolperstein, über den nun das gesamte Abkommen scheitern könnte. Dass der Vertrag wie vorgesehen in den nächsten Tagen unterschrieben wird, erscheint derzeit jedenfalls ziemlich unwahrscheinlich.

Die Legitimation von Paul Magnette

Wie aber steht es nun um die demokratische Legitimation von Paul Magnette und seiner Wallonen? Auf den ersten Blick sieht ihr Vorgehen nicht allzu gut aus: Schließlich geht CETA nicht nur die Wallonen an, sondern alle 510 Millionen Europäer und 35 Millionen Kanadier; und eine Entscheidung, die alle betrifft, sollte von allen gemeinsam getroffen und nicht von einer kleinen Minderheit blockiert werden können. Selbst der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold – alles andere als ein Freund des Abkommens – beklagte jüngst, das wallonische Veto sei „ein Sieg für die CETA-Kritiker, aber eine Niederlage für Europas Handlungsfähigkeit“, und forderte „effizientere Entscheidungsprozesse“ für die EU.

Auf der anderen Seite sind diese effizienteren Entscheidungsprozesse im EU-Vertrag natürlich auch jetzt schon enthalten: eben jene Regelungen, die für Handelsverträge gelten, die unter die alleinige Zuständigkeit der EU fallen. In dem Augenblick, in dem die Kommission und der Ministerrat CETA als gemischtes Abkommen anerkannten, akzeptierten sie das mögliche Veto durch einen Mitgliedstaat – und damit auch durch eine Region, wo die nationale Verfassung des Mitgliedstaats das vorsieht. Das Nein der Wallonie als „anmaßenden Widerstand“ zu bezeichnen (wie jüngst im Spiegel zu lesen), unterschlägt, dass das Regionalparlament nur seine verfassungsmäßigen Rechte ausübte.

War die Wallonie zu einem Kompromiss verpflichtet?

Daneben gibt es allerdings noch ein weiteres Argument, das der Rechtswissenschaftler Franz Mayer auf dem Verfassungsblog jüngst mit erfreulicher Klarheit dargelegt hat. In seinen Augen war es politisch durchaus wünschenswert, dass CETA als gemischtes Abkommen behandelt wurde: Schließlich habe die Beteiligung der nationalen Parlamente in den letzten Monaten eine „sehr intensive Debatte“ erzeugt und „das Abkommen mit Kanada an verschiedenen Stellen letztlich entscheidend verbessert“:
So gesehen war CETA auf einem guten Weg zu einem Beispiel für einen intensiven und gelungenen, wenn auch sehr aufwändigen demokratischen Mehrebenenprozess. Bis die Wallonen kamen. Wenn es nicht mehr um Verbesserung geht, sondern um Blockade, dann ist der besagte demokratische Prozess am Ende und der demokratische Mehrwert gemischter Abkommen verpufft.
Diese Vorstellung, dass man die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten an Entscheidungen beteiligen müsse, diese sich der gemeinsamen Linie letztlich aber auch nicht widersetzen dürften, ist in der EU-Politik weit verbreitet. Dahinter steht oft ein Ideal deliberativer Kompromisssuche: der Wunsch, dass alle Akteure an einem gemeinsamen Strang ziehen und daher auch ihr Vetorecht letztlich nur nutzen werden, um Entscheidungen zu „verbessern“. Oder, wie es die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) bereits 2010 in einer Rede als „neue Unionsmethode“ formulierte: „jeder in seiner Zuständigkeit, alle für das gleiche Ziel“.

Ein Parlament ist dazu da, Entscheidungen zu treffen

Letztlich aber funktioniert parlamentarische Demokratie so eben nicht. Parlamente sind nicht nur dazu da, in einem deliberativen Verfahren ihre Meinung zu einem übergeordneten Ziel zu äußern. Vielmehr sollen sie (im Rahmen ihrer rechtlichen Kompetenzen) ihre eigenen Entscheidungen treffen, für die sie sich dann allein vor ihren Wählern verantworten müssen. Eine politische Verantwortung gegenüber Dritten haben sie allenfalls moralisch, aber nicht institutionell – und das ist auch gut so, da sonst das besondere Repräsentationsverhältnis zu ihren Wählern gefährdet wäre.

Eigene Entscheidungen zu treffen, bedeutet aber eben auch: Wenn man einem Parlament das Recht gibt, ein Abkommen mit einem Veto zu blockieren, dann muss man damit rechnen, dass es dieses Veto auch nutzt. Man mag diese Entscheidung für kurzsichtig halten, für egoistisch oder für dumm. Aber ein Nein ist nicht an sich weniger demokratisch als ein Ja – und am Ende sind es nur die wallonischen Bürger, die bei der nächsten Regionalwahl über die Entscheidungen ihres Parlament das Urteil zu treffen haben.

Paul Magnette und dem wallonischen Parlament ist aus demokratischer Sicht kein Vorwurf zu machen. Und gerade deshalb sollte es bei Entscheidungen, die die EU als Ganzes betreffen, keine nationalen Vetorechte geben.

Bild: European Union 2016 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

2 Kommentare:

  1. Lieber Manuel, hab vielen Dank für den schönen Beitrag! Neben Deiner richtigen Bemerkung, dass ein Gutachten nach Art. 218(11) AEUV sehr lange dauert gibt es noch einen weiteren Grund, warum die Kommission ein solches für CETA nicht angestrebt hat. Mit dem Gutachtenverfahren 2/15 (http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=170868&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=495955) liegt dem EuGH zum Freihandelsabkommen mit Singapur derzeit ohnehin die Frage vor, ob Art. 207 AEUV Abkommen wie CETA alleine trägt (Standpunkt der Kommission) oder doch ein gemischtes Abkommen notwendig ist (Standpunkt der Mitgliedstaaten und des Rates). Die Anhörung im September diesen Jahres fand auch vor dem Hintergrund der laufenden CETA- und TTIP-Verhandlungen statt. Derzeit warten alle Beteiligten auf die Stellungnahme der Generalanwältin Sharpston: http://eulawanalysis.blogspot.be/2016/10/the-future-of-eu-external-trade-policy.html

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  2. Die Überschrift: "Ist die wallonische CETA-Blockade undemokratisch?" wird am Artikelende letzendlich verneint. Die Wallonen haben ihr demokratisches Recht in Anspruch genommen. Die Schlussfolgerung des Verfassers besteht im anschließenden Satz dann seltsamerweise darin, dieses Recht abzuschaffen: "Und gerade deshalb sollte es bei Entscheidungen, die die EU als Ganzes betreffen, keine nationalen Vetorechte geben."

    Seltsam deshalb, weil dies eine Änderung der EU-Verträge in Richtung Bundesstaat erforderlich machen würde. Nun ist dies zwar erklärtes Ziel dieses Blogs, nur hat dieses Ziel noch irgendetwas mit der Realität zu tun? Ist es irgendwie auch nur vorstellbar, dass die Nationalstaaten einer solchen weiteren Entmachtung zustimmen werden? Ich denke, Herr Müller, sie müssen sich schon die Frage gefallen lassen, ob Sie nicht Illusionen anhängen, die zwar aus Sicht eines Bundesstaates EU stimmig sind, aber keinerlei Chance auf Realisierung haben. Und weil diese Realisierung nicht möglich ist, können auch die sich verschärfenden Probleme in der EU nicht gelöst werden, was wiederum deren Zerfall wahrscheinlicher werden lässt.

    Leider wiederholen Sie hier Ihre m.E. fragwürdige Ansicht Ihres Beitrages vom 6. Juli, dass die EU-Kommission befugt sei, den Absimmungsmodus zu Ceta festzulegen (Junckers "EU-only"). Ich wiederhole nochmal die Feststellung von Pürsten auf http://norberthaering.de/de/27-german/news/641-ceta-poker#weiterlesen:

    "An den hier kolportierten Vorschlag der Kommission [EU only] ist der Rat umso weniger gebunden, als dieser dem hier erteilten Mandat widerspricht. Das Mandat für CETA lautete ausdrücklich auf den Abschluss eines gemischten Abkommens (s. Vermerk des Rates zur Mandatserweiterung vom 14. 7. 11, Anlage II)."
    Ihre Antwort darauf war, nun das sei eben Pürstens Meinung, die EU-Kom. habe eine andere. Entkräftung sieht anders aus.

    Auch Ihr Verweis auf Franz Mayer möchte ich kritisieren: "Bis die Wallonen kamen. Wenn es nicht mehr um Verbesserung geht, sondern um Blockade..." Wer legt den fest, wo Verbesserung endet und Blockade beginnt? Franz Mayer? Ich z.B sehe es genau anders: Die Wallonen und Brüsseler(!) fordern eine wirkliche Substanz und rechtliche Verbindlichkeit von Verbesserungen. Man muss sich allerdings fragen, warum die jetzt immer als Beweis für die Fortschrittlichkeit von Ceta bemühten Zusatzerklärungen nicht von Anfang an Bestandteil des Vertrages sind?

    Und noch eine Anmerkung zu den Akteuren einer Verständigung über Ceta in in letzter Minute: Parl.präsident Schulz spricht mit den Beteiligten persönlich! Hier zeigt sich, dass das Verständnis von Gewaltenteilung zw. Legislative und Exekutive nicht sonderlich ausgeprägt ist. Man stelle sich vor, BT-Präs. Lammert würde sich nach Art von Schulz in internationale Verhandlungen der Bundesregierung einschalten! Dieses Beispiel sagt viel über das Demokratie- und Rechtsstaatsverständnis manch führender EU-Politiker aus.

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