01 Juli 2016

Die Bürger in den Mittelpunkt: Die Vereinten Nationen brauchen eine Grunderneuerung für das 21. Jahrhundert

Das neue Verfahren bei der Wahl des UN-Generalsekretärs zeigt: Reformen der Vereinten Nationen sind, trotz allem, möglich. In einer Serie von Gastartikeln antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft auf die Frage: Wenn Sie eines an der Funktionsweise der UN ändern könnten, was wäre es? Heute: Dhananjayan Sriskandarajah. (Zum Anfang der Serie.)

„Ein System, das Staaten wichtiger nimmt als Menschen, kann nicht mehr akzeptabel sein.“
Die meisten der heutigen intergouvernementalen Institutionen – einschließlich der Vereinten Nationen – wurden in den 1940er und 1950er Jahren entworfen: Sie haben die Vorrangstellung von Staaten in ihrer Blaupause und die Nachkriegshierarchien in ihrem Herzen. Dieses System globalen Regierens hat einige sehr bedeutende und positive Ergebnisse mit sich gebracht, von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte über die Flüchtlingskonvention von 1951 bis zum Washingtoner Artenschutzübereinkommen. Aber es ist auch ein System, das die Macht des Staates auf Kosten des Bürgers festgeschrieben hat. Das muss sich ändern.

Ein globales Demokratiedefizit

Im Herzen unserer globalen Regierungsinstitutionen schwärt ein Demokratiedefizit. Immer mehr Menschen sind – auf nationaler Ebene – wütend über ihre fehlenden Mitspracherechte, über Ungleichheit, Korruption und die Zerstörung der Umwelt. Die Frustration über die wahrgenommene Unfähigkeit der Machthaber, im besten Interesse ihrer Bürger zu handeln, wächst. Es gibt Wut über das eklatante, endemische Zusammenspiel zwischen wirtschaftlichen und politischen Eliten. Aber statt dass unsere globalen Regierungsinstitutionen den Menschen, die auf nationaler Ebene unterdrückt, marginalisiert oder ausgegrenzt werden, Schutz und Unterstützung bieten, verstärken sie noch das Demokratiedefizit, indem sie die Herrschaft der nationalen Autoritäten legitimieren.

Diese Institutionen haben es nicht geschafft, mit den geopolitischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte mitzuhalten. Organe wie der UN-Sicherheitsrat spiegeln die Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg wider, die längst vergangen ist. Auf operativer Ebene halten diese fundamentalen Machtungleichgewichte unsere internationalen Institutionen in Geiselhaft, indem sie sie auf die Wünschen einer Handvoll Staaten ausrichten, statt auf die Bedürfnisse der Weltbevölkerung.

Partizipatorische Demokratie

Während die partizipatorische Demokratie in politische Institutionen auf allen anderen Ebenen eingezogen ist, vom Gemeinderat über Regionalversammlungen bis zu nationalen Parlamenten, gelang es der globalen Ebene nicht, auf die veränderten Erwartungen in Sachen Bürgerbeteiligung zu reagieren. Ihre Institutionen sind nach wie vor weit entfernt und weitgehend entkoppelt von den Menschen, deren Leben sie beeinflussen.

Es heißt, dass intergouvernementale Entscheidungen, häufig mit Bezug auf die wichtigsten globalen Themen – vom Klimawandel bis zum internationalen Steuerrecht – nur von ungewählten Funktionären getroffen werden können, die hinter verschlossenen Türen Deals aushandeln. Aber die Unzufriedenheit mit dieser Konstruktion wächst. Konsultationsverfahren, mit denen die Zivilgesellschaft einbezogen werden soll, sind im Wesentlichen oberflächliche Pflichtübungen. Die Vertreter der Zivilgesellschaft sind von den eigentlichen Arenen der Entscheidungsfindung und Politikgestaltung unserer internationalen Institutionen ausgeschlossen und werden höchstens eingeladen, um schablonenhafte Alibi-Beiträge zu liefern.

Wir brauchen eine Neugestaltung unserer globalen Institutionen

Dieses System, das Staaten – und oft auch Unternehmen – wichtiger nimmt als Menschen, kann nicht mehr akzeptabel sein. Wir brauchen dringend eine Neugestaltung unserer globalen Institutionen, in deren Mittelpunkt die Bürgerbeteiligung stehen muss. Wir brauchen eine Demokratisierung des globalen Regierens, indem ein Umfeld geschaffen wird, das es der Zivilgesellschaft ermöglicht, sich substantiell einzubringen. Wir müssen auf der Prämisse aufbauen, dass die Entscheidungsfindung auf globaler Ebene genauso transparent und rechenschaftspflichtig sein sollte wie auf jeder anderen Regierungsebene. Und so direkt wie möglich.

Das bedeutet, dass beispielsweise südafrikanische Diplomaten ihrer Wählerschaft zu Hause erklären sollten, warum sie in Genf immer wieder gegen Menschenrechtsresolutionen stimmen. Und die Rechenschaftspflicht der Sekretariate unserer internationalen Institutionen sollte sich nicht nur nur auf eine Handvoll „ständiger Vertreter“ erstrecken (ein Ausdruck, der wie kein anderer bezeichnend für das Gesamtproblem ist).

Ein „Unterhaus“ für die Generalversammlung

Wir brauchen radikal neue Formen der Repräsentation und Aufsicht. Vielleicht sollte die UN-Generalversammlung ein „Unterhaus“ erhalten, mit von den Bürgern direkt gewählten Repräsentanten, als Gegengewicht zu den Exzessen der dominanten Staaten im Oberhaus. Vielleicht könnten die globalen Regierungsinstitutionen regelmäßig darauf geprüft werden, wie gut sie auf Themen reagieren, die von der Bevölkerung statt nur von den Regierungen bestimmt werden.

Die Leiter von UN-Agenturen sollten regelmäßige Interaktionen mit der Zivilgesellschaft und den Medien haben. Die Agenturen sollten leicht zugängliche Datenbanken mit Informationen und Statistiken über ihre Tätigkeiten aufbauen. Durch diese und weitere Schritte könnten die UN sicherstellen, dass die Rechte der Zivilgesellschaft, die in ihren eigenen Verträgen festgeschrieben sind, in der Praxis auch wirklich realisiert werden.

Generalsekretär: Einer für sieben Milliarden

Ermutigend sind die kleinen Schritte, die dieses Jahr bereits unternommen wurden, um die Wahl des neuen UN-Generalsekretärs zu öffnen. Die Undurchsichtigkeit des bisherigen Ernennungsverfahrens war symptomatisch für die Missachtung der Bürger – und, im Gegenzug, für den Vorrang der Staaten –, die dem UN-System zu eigen ist. Die Rolle des UN-Generalsekretärs ist, den sieben Milliarden Bürgern der Welt zu dienen, nicht den Interessen einer Handvoll Staaten. Ich hoffe, dass der nächste Amtsinhaber dieses Verständnis – dass er der Eine für sieben Milliarden ist – in den Mittelpunkt seiner Amtsführung stellen wird.

Wenn der neue UN-Generalsekretär seinen Posten antritt, wird er hoffentlich einige der Agenturen, die sich derzeit mit Öffentlichkeitsarbeit befassen, zu einem einzigen neuen Einheit zusammenfassen, die vielleicht UNgage heißen könnte und deren Hauptziel es wäre, die Stimme der Bürger hörbar zu machen und in globale Entscheidungsprozesse einzuspeisen. Eine solche Agentur könnte die derzeitigen UN Information Centres ersetzen, deren Hauptzweck nur in der Verbreitung von UN-Propaganda zu bestehen scheint. Stattdessen sollten diese Zentren zu Knotenpunkten einer globalen Konversation in beide Richtungen werden: von den UN zu den Bürgern und zurück.

Von einem staatenzentrierten zu einem bürgerorientierten Modell

Und täuschen wir uns nicht: Diese Schritte sind sowohl realistisch als auch erreichbar. Alle Hindernisse auf dem Weg dorthin werden in erster Linie politisch sein. Am Ende läuft es darauf hinaus, ob die Staaten bereit sind, auf die Macht zu verzichten, die sie derzeit ausüben und oft so eifersüchtig bewachen.

Unsere globalen Regierungsinstitutionen und ihre Entscheidungen waren niemals wichtiger als heute. Eine wachsende Zahl komplexer, drängender Probleme kreuzen die nationalen Grenzen und betreffen die Leben von Menschen, die physisch hunderttausende Kilometer entfernt voneinander leben, in ähnlicher Weise. Das macht es zwingend notwendig, dass wir von einem staatenzentrierten Modell des internationalen Regierens zu einem bürgerorientierten Modell übergehen.

Und die öffentliche Aufmerksamkeit für diese Frage wächst, wie auch der öffentliche Zorn. Wenn die Vereinten Nationen und andere intergouvernementale Institutionen nicht Schritt halten, riskieren sie, auf fatale Weise ihre Glaubwürdigkeit und globale Autorität zu verlieren. Wir haben gelernt, das Prinzip „ein Staat, eine Stimme“ als Grundmerkmal unserer globalen Entscheidungssysteme zu akzeptieren. Aber ich träume von dem Tag, an dem das überwunden wird. „Eine Person, eine Stimme“: Das wäre etwas.
Dr. Dhananjayan Sriskandarajah ist Generalsekretär von CIVICUS: World Alliance for Citizen Participation und Mitglied des UN High-Level Panel on Humanitarian Financing.

Wenn Sie eines an den Vereinten Nationen ändern könnten, was wäre es?

1: Serienauftakt [DE / EN]
2: Ein neues Wahlverfahren für den UN-Generalsekretär [DE / EN] ● Stephen Browne
3: Das Sekretariat der Vereinten Nationen: Unabhängig, effizient, kompetent? [DE / EN] ● Franz Baumann
4: Die Bürger in den Mittelpunkt: Die Vereinten Nationen brauchen eine Grunderneuerung für das 21. Jahrhundert [DE / EN] ● Dhananjayan Sriskandarajah
5: Weichenstellung für die Vereinten Nationen: Wie kann der Sicherheitsrat reformiert werden? [DE] ● Sven Gareis
6: Die Bürger der Welt müssen die Kontrolle zurückgewinnen – mit einem globalen Parlament [DE / EN] ● Andreas Bummel
7:  Elect the Council: Die globale Sicherheit braucht einen reformierten UN-Sicherheitsrat [DE / EN] ● Jakkie Cilliers und Nicole Fritz

Übersetzung aus dem Englischen: Manuel Müller
Bilder: UN Photo/Mark Garten [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; privat [alle Rechte vorbehalten].

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