21 Dezember 2024

Was die EU im Jahr 2025 erwartet

Von Manuel Müller
Christmas decoration at Brussels airport
Das Superwahljahr ist vorbei, die neue Kommission ist im Amt – 2025 geht die Reise weiter.

Eigentlich sind die Abläufe klar: Nachdem das Jahr 2024 durch die Europawahl und die Ernennung der neuen Europäischen Kommission bestimmt war, will die EU 2025 wieder ihre Arbeit aufnehmen. Für die ersten hundert Tage ihrer zweiten Amtszeit hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU/EVP) die Umsetzung von mehr als einem halben Dutzend Projekte versprochen. Im Ministerrat übernimmt im ersten Halbjahr Polen, im zweiten Dänemark den Vorsitz – was nach der wenig konstruktiven ungarischen Ratspräsidentschaft 2024 mit Sicherheit eine Verbesserung darstellt. Allerdings: Während die EU die Ärmel hochkrempelt, um ihre Pläne umzusetzen, könnten auch in diesem Jahr leicht wieder externe Ereignisse die Agenda dominieren.

Wahlen in Deutschland, Polen, Rumänien – und Frankreich?

Wer nach dem „Superwahljahr“ 2024 erwartet hatte, dass sich der europäische Wahlkalender 2025 entspannen würde, dürfte enttäuscht werden. Gleich in mehreren großen Mitgliedstaaten sind die Bürger:innen auch im neuen Jahr wieder an die Urnen gerufen. In Deutschland findet am 23. Februar die vorgezogene Bundestagswahl statt. In Rumänien wird die Präsidentschaftswahl wiederholt, deren erste Runde im vergangenen November aufgrund massiver ausländischer Wahlbeeinflussung vom Verfassungsgericht annulliert worden war. Polen wählt im Mai eine neue Präsident:in, Tschechien im Herbst ein neues Parlament – in beiden Fällen geht es um eine Richtungsentscheidung zwischen liberal-konservativen und rechtsautoritären Kräften.

Hinzukommen könnte noch Frankreich, das sich seit der vorgezogenen Parlamentswahl im vergangenen Sommer in einer politischen Dauerkrise befindet. Wie lange die jüngst ins Amt gekommene Regierung unter François Bayrou (MoDem/EDP) sich halten kann, will derzeit niemand voraussagen. Nach der französischen Verfassung kann das Parlament nach einer Wahl zwölf Monate lang nicht aufgelöst werden. Doch diese Frist endet im Juli 2025.

Regierungskrisen, die zu Neuwahlen führen könnten, gibt es außerdem auch in der Slowakei, in Bulgarien (das auf seine achte Parlamentswahl in vier Jahren zusteuert) und womöglich in Spanien.

Weltpolitische Turbulenzen

Noch mehr als durch die innereuropäischen Wahlen aber dürfte die EU durch den Regierungswechsel in den USA erschüttert werden. Mit Beginn der zweiten Amtszeit von Präsident Donald Trump (Rep./IDU) sind heftige weltpolitische Turbulenzen zu erwarten.

Das betrifft besonders die Ukraine, deren weitere Unterstützung durch die USA nun erheblichen Zweifeln ausgesetzt ist. Sollte Trump Finanzhilfen und Waffenlieferungen einstellen, wird die EU diese Lücke allein kaum schließen können. Auch in Europa dreht sich die Debatte deshalb zunehmend um Waffenstillstandsverhandlungen. Der Europäische Rat hat jüngst aber noch einmal das Ziel bekräftigt, die Ukraine so weit zu stärken, dass sie dabei nicht unter die Räder kommt. Indirekt muss es der EU auch darum gehen, dass Russland den Ausgang des Kriegs nicht als Erfolg wahrnimmt und sich davon in den kommenden Jahren zu weiteren Abenteuern ermutigt fühlt.

Derweil spitzt sich in Georgien nach der mutmaßlich manipulierten Wahl im Oktober der Konflikt zwischen der russlandfreundlichen Regierung und der proeuropäischen Opposition immer weiter zu. Im Nahen Osten gibt es vage Hoffnung auf einen Waffenstillstand im Gazastreifen; in Syrien muss sich die EU zu der neuen Regierung unter Führung der HTS-Miliz positionieren, die die Vereinten Nationen offiziell noch immer als Terrororganisation einstufen. Gegenüber China setzt die EU ihren schwierigen Balanceakt zwischen wachsendem geopolitischem Misstrauen und dem Bemühen um Kooperation in globalen Fragen fort.

Weißbuch zur europäischen Verteidigung

Angesichts dieser geopolitischen Unwägbarkeiten ist es kaum verwunderlich, dass sowohl die Kommission als auch die polnische Ratspräsidentschaft die Sicherheitspolitik als ein zentrales Thema der nächsten Monate identifiziert haben. Eines der wichtigsten Projekte auf von der Leyens Hundert-Tage-Agenda ist die Verabschiedung eines „Weißbuchs zur Zukunft der europäischen Verteidigung“.

Darin wird es unter anderem um eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen EU und NATO gehen, um eine Ausweitung der Rüstungsinvestitionen sowie um den Umgang mit neuen Gefahren, etwa in Form von Cyberangriffen oder hybriden Bedrohungen.

Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit

Nicht erst seit der mutmaßlich von Russland finanzierten Tiktok-Kampagne zugunsten des parteilosen rechtsextremen Kandidaten Călin Georgescu bei der rumänischen Präsidentschaftswahl Ende November steht auch der Schutz der europäischen Demokratien vor Manipulationen und Desinformation weit oben auf der EU-Agenda. Einen starken Fokus legt die Kommission auf externe Einmischungen, was angesichts des offenkundig unfreundlichen Verhaltens der russischen Regierung durchaus verständlich ist. Allerdings riskiert die Kommission dabei ein wenig, die kaum geringeren Bedrohungen vonseiten autoritärer Akteur:innen im Inneren aus dem Auge zu verlieren.

Gewisse Fortschritte gab es in dieser Hinsicht zuletzt immerhin vor dem Europäischen Gerichtshof: In dem Vertragsverletzungsverfahren gegen das ungarische „Anti-LGBTIQ*-Gesetz“ sprachen sich die Kommission sowie zahlreiche Mitgliedstaaten dafür aus, Artikel 2 EUV, der die Werte der EU definiert, als justiziabel zu behandeln – ein Ansatz, der auf diesem Blog bereits im März 2013 vertreten wurde. Folgen die Richter:innen dieser Sichtweise in ihrem für Sommer 2025 erwarteten Urteil, so könnte die Kommission künftig deutlich einfacher vor dem EuGH gegen Mitgliedstaatsregierungen vorgehen, die gegen Demokratie- und Rechtsstaatsprinzipien verstoßen.

Rechtsstaatskrise in der Asylpolitik

Eine Rechtsstaatskrise ganz anderer Art zieht allerdings im Bereich Grenzschutz und Asylpolitik auf. Auch dieses Thema ist in der EU schon seit einem guten Jahrzehnt daueraktuell und wird mit den wachsenden geopolitischen Unsicherheiten nicht an Bedeutung verlieren. Unter dem Druck der Rechtsaußen-Parteien hat die EU dabei immer mehr eine abschottende Haltung angenommen. Im kommenden Jahr steht eigentlich vor allem Umsetzung des Neuen Migrations- und Asylpakets auf der Tagesordnung, das 2024 beschlossen wurde und ab Juni 2026 gelten soll.

Allerdings sind inzwischen mehrere Mitgliedstaaten bereits mit weiteren Maßnahmen vorgeprescht. Im Namen der Abwehr von „weaponised migration“ haben Länder wie Finnland und Polen sogenannte „Pushback-Gesetze“ erlassen, die es Grenzschützer:innen erlauben, Menschen ohne Prüfung eines möglichen Asylgesuchs zurückzuweisen. Damit unterlaufen sie völker- und europarechtlich garantierte Schutzstandards, doch die massive Kritik von Verfassungsjurist:innen blieb bislang wirkungslos.

Zuletzt hat nun auch die Kommission deutlich gemacht, dass sie nicht per Vertragsverletzungsverfahren gegen diese Einschränkungen des Asylrechts vorzugehen plant. Ähnlich wie beim Umgang mit den dauerhaften Grenzkontrollen im Schengen-Raum durch Länder wie Deutschland und Österreich wird die Kommission in ihrer Rolle als „Hüterin der Verträge“ nicht gerecht – offenbar aus Gründen politischer Opportunität. Den Betroffenen bleibt damit nur die Hoffnung, individuell Zugang zum europäischen Gerichtssystem zu finden, sodass sich der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahren mit den Pushback-Gesetzen auseinandersetzen kann. Bis dahin nagt das sich ausweitende lawlessness law in der europäischen Asylpolitik an den Grundlagen der europäischen Verfassungsordnung.

Deals und Visionen für Industrie und Landwirtschaft

Kommen wir zur Wirtschaft, um die es in der Europapolitik natürlich auch immer geht. Im Mittelpunkt der Brüsseler Debatten stehen Reformen des europäischen Binnenmarkts, für die zwei Berichte von Enrico Letta und Mario Draghi 2024 umfassende Vorschläge geliefert haben. Zu den 100-Tage-Versprechen Ursula von der Leyens gehören auch ein neuer „Clean Deal für die Industrie“, der europäische Unternehmen bei der Umsetzung der Klimawende unterstützen soll,  sowie eine „Vision für Landwirtschaft und Ernährung“, die (offenbar in Reaktion auf die Bauernproteste 2024) die die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Agrarindustrie stärken soll.

Als Ansatzpunkt gilt dabei zum einen der Abbau von Bürokratie, um Unternehmen zu entlasten. Allerdings geht eine solche Deregulierung oft mit der Gefahr einer Absenkung von Standards einher und dürfte deshalb bei Klimaschützer:innen auf Misstrauen stoßen. Zum anderen wird die EU versuchen, Härten der Klimawende für Industrie und Landwirtschaft mit mehr öffentlichen Investitionen abzufedern. Dafür aber benötigt sie neues Geld.

Mehrjähriger Finanzrahmen: Die Verhandlungen beginnen

Die maximalen Ausgaben der EU werden jeweils für einen langen Zeitraum (üblicherweise sieben Jahre) im Voraus festgelegt. Da es dabei um viel Geld geht und jeder Mitgliedstaat ein Vetorecht besitzt, sind auch die Verhandlungen über diesen mehrjährigen Finanzrahmen immer ein mehrjähriges Unterfangen. Auch wenn der aktuelle Finanzrahmen noch bis 2027 läuft, wird die Kommission schon im Sommer 2025 ihren ersten Vorschlag für die Zeit danach vorlegen.

In der Debatte um den Finanzrahmen gibt es einige Streitfragen, die fast rituell jedes Mal neu durchgespielt werden: Wie hoch fällt das Gesamtbudget aus? Wird der Haushalt weiterhin vor allem über Beiträge der Mitgliedstaaten finanziert oder werden mehr echte EU-Steuern eingeführt? Wie viel Geld fließt in Umverteilungsmaßnahmen wie die Agrar- und Regionalfonds, wie viel wird in „Zukunftsthemen“ investiert?

EU-Anleihen für Rüstungsinvestitionen?

Hinzu kommen diesmal allerdings auch einige neue Schlüsselfragen. Zum einen würde von der Leyen gern die Struktur des Finanzrahmens ändern: Anstelle von thematischen Fonds und Programmen soll es künftig einen länderspezifischen Ansatz geben. Wofür Mitgliedstaaten EU-Geld ausgeben dürfen, würde dann zwischen den einzelnen Regierungen und der EU ausgehandelt. Die Idee erinnert stark an die „Vertragspartnerschaften“, die während der Eurokrise kontrovers diskutiert wurden, oder auch an die Nationalen Aufbau- und Resilienzpläne nach der Corona-Pandemie. Im Einzelnen sind die Pläne der Kommission aber noch recht unklar.

Zum anderen steht die Frage im Raum, ob ein Teil des Budgets künftig schuldenfinanziert sein sollte – ähnlich dem Corona-Wiederaufbaufonds NextGenerationEU im Finanzrahmen 2021-27. Bei einem Ratstreffen im April will die polnische Ratspräsidentschaft über einen anleihenfinanzierten EU-Rüstungsfonds diskutieren, aus dem sich die geplante Steigerung der Verteidigungsausgaben finanzieren ließe. Vor allem die deutsche Bundesregierung gibt sich jedoch skeptisch.

Erweiterung und Reform: Policy reviews“ der Kommission

Und wie steht es um die institutionelle Reform der EU? Ende 2023 legte das Europäische Parlament bekanntlich Vorschläge für eine Änderung der EU-Verträge vor und forderte den Europäischen Rat auf, „umgehend“ einen Konvent nach Art. 48 EUV einzuberufen, der sich damit befassen würde. Der Europäische Rat hat diese Aufforderung bis jetzt ignoriert und wird das wohl auch 2025 weiter tun.

Immerhin aber verabschiedeten die Staats- und Regierungschef:innen im Juni 2024 einen „Fahrplan für die künftige Arbeit an internen Reformen“. Dieser sieht vor, dass die Kommission im Frühling 2025 „Überprüfungen von Politikbereichen im Vorfeld der Erweiterung“ (auf Englisch etwas knackiger: pre-enlargement policy reviews) vorlegt, in denen sie präsentiert, welche internen Reformen aus ihrer Sicht notwendig sind, damit die EU-Erweiterung erfolgreich sein kann. Auch hierum will von der Leyen sich innerhalb der ersten hundert Tage ihrer Amtszeit kümmern.

Diese Reviews sollen auch Bereiche wie den Schutz der Rechtsstaatlichkeit und die europäische „Governance“ umfassen. Bislang allerdings sprechen sowohl der Europäische Rat als auch die Kommissionspräsidentin in diesem Zusammenhang vor allem von Reformen einzelner Politikfelder (etwa des Binnenmarkts oder der Kohäsionspolitik). Zu allen institutionellen Fragen bleiben sie hingegen sehr schmallippig. Wie ambitioniert die Reviews wirklich ausfallen, bleibt deshalb abzuwarten.

Letztes Gelegenheitsfenster in diesem Jahrzehnt

Klar ist indessen, dass sich zwischen der deutschen Bundestagswahl 2025 und der französischen Präsidentschaftswahl 2027 das wahrscheinlich letzte politische Gelegenheitsfenster öffnet, um in diesem Jahrzehnt nennenswerte Integrationsfortschritte zu erreichen. Dass in demselben Zeitraum auch der neue mehrjährige Finanzrahmen ausgehandelt wird, sollte als eine Chance gesehen werden: Je mehr Themen in den Reformverhandlungen gleichzeitig auf dem Tisch liegen, desto eher lassen sich bei schwierigen Fragen Paketdeals erreichen.

Realistischer als ein großer Wurf erscheint allerdings, dass der Europäische Rat dieses Fenster verpassen und sich in den nächsten Monaten stattdessen in Debatten über Minimalreformen verzetteln wird. In der Folge werden Diskussionen über die fehlende Handlungsfähigkeit und das Demokratiedefizit der EU wohl dauerhaft auf der Tagesordnung bleiben. Schlimmstenfalls könnte das auch die Erweiterungsagenda in Mitleidenschaft ziehen, wenn in einigen Jahren Zweifel aufkommen, ob die EU wirklich zur Aufnahme neuer Mitgliedstaaten bereit ist.

Je länger die Reformagenda stagniert, desto wahrscheinlicher werden in den kommenden Jahren zudem „differenzierte“ Lösungen – ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten –, die für neue Dynamik sorgen können, aber auch Desintegrationsrisiken bergen. Auch in diesem Fall sollte der Europäische Rat sich deshalb nicht von den Ereignissen treiben lassen, sondern proaktiv in Zusammenarbeit mit dem Parlament und der Kommission ein kohärentes Konzept entwickeln. Man darf gespannt, aber auch ein wenig skeptisch sein, ob die Staats- und Regierungschef:innen damit Erfolg haben werden (oder es überhaupt versuchen).


Erst einmal aber geht „Der (europäische) Föderalist“ in seine alljährliche Winterpause. Allen Leser:innen frohe Feiertage und ein glückliches neues Jahr!


Bild: Weihnachtsschmuck: Manuel Müller [alle Rechte vorbehalten].

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