![]() |
Das Horizon-Europe-Projekt Activating European Citizens’ Trust in Times of Crisis and Polarisation (ActEU) untersucht Fragen politischen Vertrauens und demokratischer Legitimität in Europa. Dieser Artikel ist Teil einer Serie, in der ActEU-Forscher:innen ihre Ergebnisse präsentieren. |

- „Die Beziehung zwischen Wähler:innen und Parteien ist ein komplizierter Tanz, bei dem man leicht aus dem Schritt geraten kann.“
Dass zwei nötig sind, um Tango zu tanzen, ist bekannt. Aber was, wenn ein:e Partner:in einen Walzer aufs Parkett legt, aber die andere einen Foxtrott? Die Beziehung zwischen Wähler:innen und Parteien ist ein komplizierter Tanz, bei dem man leicht aus dem Schritt geraten kann. Tun europäische Politiker:innen das, was die Öffentlichkeit will, und nimmt die Öffentlichkeit das überhaupt zur Kenntnis? In einer kürzlich veröffentlichten Studie zur Europawahl 2024 haben wir gezeigt, dass die meisten Parteien in einer Reihe von Fragen erheblich von den Prioritäten der Wähler:innen abweichen.
Im Allgemeinen ist Politiker:innen daran gelegen, beliebt zu sein und wiedergewählt zu werden. Es ist für sie deshalb rational sinnvoll, das zu tun, was die Öffentlichkeit will. Uns allen fallen jedoch Beispiele ein, bei denen dies nicht der Fall war – von der Entscheidung der USA und ihrer Verbündeten, 2003 in den Irak einzumarschieren, bis zu den jüngsten französischen Rentenreform-Bemühungen trotz weit verbreiteter öffentlicher Ablehnung. Die meisten Regierungen würden hier wohl darauf verweisen, dass sie pragmatisch sein und ihrer weiterreichenden Verantwortung gerecht werden müssen. Andererseits ist aber auch ein gewisses Maß an Responsivität wichtig, damit Politiker:innen das Vertrauen der Öffentlichkeit behalten und ihre Handlungen legitim sind.
Es handelt sich demnach um einen schwierigen Balanceakt für nationale Regierungen und erst recht für EU-Institutionen. Anhand von Daten, die wir im Rahmen von ActEU erhoben haben, wollten wir herausfinden, inwieweit die Parteien während des Wahlkampfs 2024 auf Tuchfühlung mit den Interessen ihrer Wähler:innen waren und ob die Wähler:innen dies bemerkten.
Welche Themen sind wichtig? Es kommt darauf an, wen man fragt
Unser Forschungsprojekt vergleicht die Themen, die laut Meinung der Öffentlichkeit für sie am wichtigsten sind, mit der Aufmerksamkeit, die ihnen die Parteien in ihren Wahlprogrammen für die Europawahl 2024 widmeten. Wir konzentrieren uns auf fünf Themen, die für beide Seiten zumindest teilweise relevant sein dürften: Verteidigung, Wirtschaft, Migration, Umwelt sowie die EU selbst. Wie die nachstehende Grafik zeigt, entspricht die Erwartung, dass die Parteien rational auf die Anliegen der Öffentlichkeit eingehen, oft nicht der Realität.

- Anteil der Umfrageteilnehmer:innen, die ein Thema als „das wichtigste Problem“ ihres Landes bezeichneten (rot) und Anteil der jeweiligen Themen in den Wahlprogrammen der europäischen Parteien (blau). (Grafik zum Vergrößern anklicken.)
Die auffälligste Diskrepanz besteht in der jeweiligen Aufmerksamkeit für die EU, also die europäische Integration, die EU-Verträge, die EU-Mitgliedschaft oder Fragen des europäischen politischen Systems. Während die Parteien gerne über alles zu sprechen scheinen, was mit dem Institutionengefüge der EU zu tun hat, von der Integration und Erweiterung bis hin zu den Institutionen selbst, interessiert sich die Öffentlichkeit dafür kaum.
Auch in anderen Bereichen gibt es kleinere, aber dennoch bemerkenswerte Diskrepanzen: Die Öffentlichkeit interessiert sich mehr für Migration (15 % der Antworten der Öffentlichkeit gegenüber 5 % der Inhalte in den Parteiprogrammen) und die Wirtschaft (32 % gegenüber 27 %) als für Verteidigungsfragen (4 % gegenüber 13 %), trotz der Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen. Nur beim Thema Umwelt stimmen die Meinungen der Bürger:innen und der Parteien weitgehend überein (13 % gegenüber 14 %).
Einfallstor für Extremist:innen
Für die 15 % der Wähler:innen, die Migration als ein vorrangiges Thema sehen, wird es dann schwierig, eine Partei zu finden, die sich auf europäischer Ebene mit ihrem Hauptanliegen befasst. Einige werden vielleicht einfach nicht wählen gehen, aber im schlimmsten Fall öffnet das relative Schweigen auf Parteiebene ein Einfallstor für Extremist:innen, die so die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen und möglicherweise ihre Präferenzen in eine ähnlich extreme Richtung lenken können.
Tatsächlich zeigen unsere Untersuchungen, dass die Parteien, die während des Wahlkampfs 2024 am meisten über Einwanderung sprachen, die österreichische FPÖ, die deutsche AfD sowie die Dänische Volkspartei (DF) waren. Sie alle widmeten mehr als 10 % ihrer Wahlprogramme der Migration, und es überrascht vielleicht nicht, dass es sich dabei um die führenden rechtsextremen Parteien ihrer jeweiligen Länder handelt.
Das soll nicht heißen, dass die etablierten Parteien die Politik dieser Parteien kopieren sollten. Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass ein solcher Ansatz kontraproduktiv sein kann (siehe beispielsweise die Arbeiten von Werner Krause und Kollegen sowie von Teresa Völker und Daniel Saldivia Gonzatti). Das Thema zu ignorieren oder die Gelegenheit zu verpassen, es positiver oder konstruktiver zu formulieren, kann für Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien aber ebenfalls von Nachteil sein.
Zuhören und lernen
Unsere Untersuchung zeigt auch, dass Parteien, die auf die Wähler:innen eingehen, indem sie den für sie wichtigen Themen mehr Aufmerksamkeit schenken, mit größerer Wahrscheinlichkeit Wahlerfolge erzielen. Die folgende Grafik zeigt, wie wahrscheinlich es ist, dass Einzelpersonen für eine Partei stimmen, wenn sie einem bestimmten Thema Aufmerksamkeit schenken, hier für die drei Themen, die im Mittelpunkt unserer Arbeit standen. Die blaue Linie zeigt die Wahrscheinlichkeit für Personen, die angeben, dass ein bestimmtes Thema für sie wichtig ist; die rote Linie steht für diejenigen, die ein anderes Thema als am wichtigsten angeben.
![Line graph showing changes in responses to the question “How likely are you to vote for [party]?” from 0 (not at all) to 10 (very) vs the increasing percentage of the relevant manifesto addressing that issue. Blue lines show the voting likelihood for those who rate the issue as “most important”, red lines show the voting likelihood for those who do not](https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhJj9CzjGoB0wM4fD6H6Ppn8_QRyi0XzKlRJRHP3uqAmI9uu5yWLQwpan1n36ElXASf05yaYEugYru64nzsf1R6Rk3lNknLXOuwezQIu2Xq2YNNhOVQNKLxnJjxj2rj1gBNzGMIhBPlFh68FyeLpPlQ1nScLL1OFGdaWBUxAp-PUyNzg7BEnfftfJwxKBw/s1600/Intercombined_Issue_Facets.png)
- Veränderung der durchschnittlichen Antwort auf die Frage „Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie für [Partei] stimmen?“ von 0 (überhaupt nicht) bis 10 (sehr wahrscheinlich) in Abhängigkeit vom steigenden Anteil des jeweiligen Themas im Wahlprogramm der entsprechenden Partei. Blaue Linien zeigen die Wahlwahrscheinlichkeit für diejenigen, die das Thema als „am wichtigsten“ einstufen, rote Linien zeigen die Wahlwahrscheinlichkeit für diejenigen, die dies nicht tun. (Grafik zum Vergrößern anklicken.)
Die blauen Linien zeigen, dass Wähler:innen, die den Themen Umwelt und Migration Priorität einräumen, umso mehr dazu neigen, eine Partei zu wählen, je mehr Aufmerksamkeit diese den entsprechenden Themen schenkt. Die flacheren oder sogar negativen roten Linien zeigen hingegen, dass es für Wähler:innen, die diesen Themen keine Priorität einräumen, keinen solchen Zusammenhang gibt.
Das einzige Thema, bei dem dies nicht der Fall ist, ist die EU-Politik: Hier haben die Prioritäten der Wähler:innen keinen klaren Einfluss auf ihre Wahlentscheidung – was angesichts der zuvor beschriebenen Aufmerksamkeitsungleichgewichte für dieses Thema ironisch ist. Bei genauerer Betrachtung lässt sich noch feststellen, dass der Zusammenhang in Frankreich, Deutschland und Dänemark am stärksten ist, während Italien, Griechenland und Spanien einen schwächeren Zusammenhang aufweisen. Allerdings sollten wir nicht allein auf dieser Grundlage auf ein Nord-Süd-Gefälle schließen.
Dies ist nur eine einzelne Studie zu einer aktuellen Wahl. Auch sollten wir nicht außer Acht lassen, dass die Beziehung zwischen Wähler:innen und Parteien wechselseitig ist und beide Seiten aufeinander reagieren. Wie immer gilt: Korrelation ist nicht gleich Kausalität. Zwar sind Parteien möglicherweise erfolgreicher, wenn sie stärker auf die Themenprioritäten der Wähler:innen eingehen, doch können die Themenprioritäten der Wähler:innen auch durch die Wahlkampagnen der Parteien beeinflusst werden. In jedem Fall aber stimmen unsere Ergebnisse mit früheren Erkenntnissen über die Beziehung zwischen Wähler:innen und Parteien auf nationaler Ebene überein, und wir finden dafür auch auf europäischer Ebene Belege, wenn bestimmte Länder- und Themenkontexte berücksichtigt werden.
Aber was bedeutet das alles? Lehren für zukünftige Wahlen
Welche Schlussfolgerungen sollten die Parteien und die EU als Ganzes aus diesen Beobachtungen ziehen? Und was bedeutet das alles für die politische Zukunft Europas? Die nächste Europawahl findet erst 2029 statt – ohne die Aufmerksamkeit eines Wahlkampfs könnten Parteien und gewählte Amtsträger:innen deshalb wenig Anreiz verspüren, ihre Position in der Öffentlichkeit weiter zu verbessern. Doch die Zunahme grenzüberschreitender Krisen macht eine koordinierte internationale Reaktion nötig, und den EU-Institutionen kommt bei der Bewältigung dieser Herausforderungen insbesondere in Bereichen wie Migration und Umweltpolitik eine entscheidende Rolle zu.
Auf einer Ebene verdeutlichen unsere Ergebnisse eine einfache, aber unbequeme Realität: Die Themen, die für die Bürger:innen am wichtigsten sind, sind nicht immer diejenigen, über die die Parteien am meisten sprechen oder auf die sie sich in der Gesetzgebung konzentrieren. Selbst wenn Themen wie Migration oder Umwelt den Wähler:innen eindeutig am Herzen liegen, treten sie in Wahlkampfdebatten oft in den Hintergrund. Verteidigungs- und EU-Themen standen 2024 hingegen trotz begrenzter öffentlicher Begeisterung im Mittelpunkt.
Parteien, die die Wählerprioritäten teilen, werden eher gewählt
Diese Diskrepanz ist von Bedeutung, da sie Einfluss darauf hat, welche Parteien Stimmen gewinnen. In den neun von uns untersuchten Ländern schnitten Parteien, die den Themen, die den Wähler:innen persönlich am Herzen lagen, mehr Aufmerksamkeit schenkten, tendenziell besser ab. Die Themen Migration und Umwelt wiesen dabei den deutlichsten Zusammenhang auf.
In einigen Ländern war dies besonders ausgeprägt: Wenn Parteien in ihren Wahlprogrammen der Migration mehr Raum gaben, neigten Wähler:innen, für die Migration ein wichtiges Thema war, deutlich eher dazu, sie zu unterstützen. Bei anderen Themen war das Muster weniger konsistent, und bei Maßnahmen zur EU-Politik fehlte es weitgehend. Insgesamt deuten diese Ergebnisse jedoch darauf hin, dass Wahlkampagnen einen Einfluss auf das Wahlverhalten in Europa haben: Was Parteien vor einer Wahl sagen oder nicht sagen, kann die Entscheidungen der Wähler:innen beeinflussen.
Ein strategischer Balanceakt
Für die Parteien stellt die hier beschriebene Dynamik ein Dilemma dar. Wenn sie mehr über Umwelt oder Migration sprechen, könnten sie einige Wähler:innen auf nationaler Ebene verprellen – ignorieren sie diese Themen jedoch, riskieren sie, bei anderen Wähler:innen an Glaubwürdigkeit zu verlieren oder, schlimmer noch, das Feld extremeren Stimmen zu überlassen, die bereit sind, die entstehende Lücke zu füllen. Die Mainstream-Parteien stehen daher vor einem strategischen Balanceakt: Sie müssen sich mit den Prioritäten der Wähler:innen auseinandersetzen, ohne sich in unproduktive oder spaltende Debatten hineinziehen zu lassen.
Und obwohl es eindeutig notwendig ist, grenzüberschreitende Themen wie Migration, Klimawandel und Verteidigung auf europäischer Ebene zu koordinieren, ist es nach wie vor schwierig, die Wähler:innen davon zu überzeugen. Den Fokus weg von „Europa“ als abstrakter Idee hin zu den praktischen Vorteilen der EU-Maßnahmen zu verlagern, könnte ein Weg dorthin sein.
Auf die Musik der Stimmungen hören, um im Takt zu bleiben
Natürlich ist dies nur eine Momentaufnahme in einem komplexen politischen Tanz. Eine Ausweitung unserer Analyse auf alle EU-Mitglieder und Vergleiche mit früheren Wahlzyklen würden ein vollständigeres Bild liefern und möglicherweise mehr darüber verraten, warum sich die Muster von Land zu Land oder von Region zu Region unterscheiden. Zukünftige Forschungsprojekte könnten auch tiefer in bestimmte Parteienfamilien oder Wählergruppen eintauchen und nicht nur analysieren, wie viel die Parteien über ein Thema sprechen, sondern auch, welchen Ton sie dabei setzen und wie sie sich positionieren.
All diese Fragen gehen über die Europawahl 2024 hinaus, aber sie betreffen dieselbe größere Herausforderung: Die etablierten Parteien müssen lernen, auf die Stimmung in der Bevölkerung zu achten, damit die europäische Demokratie im Takt bleiben kann. Parteien sind dann europaweit repräsentativ und responsiv gegenüber den Bedürfnissen ihrer europäischen Bevölkerung, wenn sowohl Probleme als auch Politik zunehmend über nationale Grenzen hinausgehen.
Alex Hartland ist Postdoktorand in der Fachrichtung Gesellschaftswissenschaftliche Europaforschung an der Universität des Saarlands. Seine Forschungsschwerpunkte sind politisches Vertrauen, demokratische Werte und vergleichende europäische Politik. |
Daniela Braun ist Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Europäische Integration und Internationale Beziehungen an der Universität des Saarlands. Ihre Forschungsinteressen umfassen die Politik der EU, Parteipolitik, öffentliche Meinung und politisches Verhalten. |
Giuseppe Carteny ist Postdoktorand in der Fachrichtung Gesellschaftswissenschaftliche Europaforschung an der Universität des Saarlands. Seine Arbeit konzentriert sich auf die empirische Untersuchung politischer Einstellungen, Wahlverhalten, Parteipolitik sowie vergleichende Politik in Europa und Ostasien. |
Rosa M. Navarrete ist Assistenzprofessorin an der Universidad Autónoma de Madrid. Ihre Forschungsinteressen umfassen Text-als-Daten-Methoden, politisches Verhalten und europäische vergleichende Politik. |
Ann-Kathrin Reinl ist Forscherin bei GESIS – Leibniz-Institute für Sozialwissenschaften. Ihre Forschung befasst sich vor allem mit öffentlichen Präferenzen zur EU-Integration, insbesondere zu europäischer Solidarität sowie zur Unterstützung der Demokratie |
Dieser Artikel basiert auf dem von den Autor:innen verfassten Aufsatz „The role of key European issues in the 2024 election campaign“, der im Mai 2025 in der Zeitschrift West European Politics im Open Access erschienen ist.
![]() |
|
Bilder: Tanzendes Paar: Christian Harb [Unsplash-Lizenz], via Unsplash; alle Porträts: privat [alle Rechte vorbehalten].






Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.