22 Dezember 2025

Was die EU im Jahr 2026 erwartet

Von Manuel Müller
A snowman at dawn. The sky is cloudy, but the sun's rays are breaking through.
Leuchtet da eine goldene Zukunft am Horizont? Die EU will das Beste hoffen und auf das Schlimmste vorbereitet sein.

Das neue Jahr beginnt für die Europäische Union mit einem freudigen Anlass: Zum 1. Januar wird Bulgarien der Eurozone beitreten. Künftig wird die gemeinsame Währung also von 21 der 27 EU-Mitgliedstaaten verwendet werden. Wenn man bedenkt, dass nur vor etwas mehr als einem Jahrzehnt noch heftige Diskussionen über den möglichen Zerfall des Währungsraums geführt wurden, ist das ein schöner Erfolg.

Unabhängigkeit Europas“

Allzu lang wird sich die EU auf diesen Lorbeeren jedoch kaum ausruhen können. Wie die Kommission zu Beginn ihres Arbeitsprogramms für 2026 feststellt, war „die Welt, mit der Europa und diese Kommission seit Amtsantritt konfrontiert sind, […] seit Jahrzehnten nicht mehr so instabil“. Auf dem Weg zu dem von Ursula von der Leyen (CDU/EVP) etwas hochtrabend angekündigten „Moment der Unabhängigkeit Europas“ wird es für die EU deshalb eine ganze Reihe außenpolitischer Herausforderungen zu meistern gelten – von den russischen Aggressionen über den brüchigen Waffenstillstand und die fortdauernde humanitäre Krise im Gaza-Streifen bis zum Verlust der USA als wichtigsten globalen Verbündeten.

Einen wichtigen, wenn auch mit viel Mühe verbundenen Schritt machte der Europäische Rat in den letzten Tagen, als er sich auf einen 90-Milliarden-Hilfskredit zur Unterstützung der Ukraine einigte – finanziert durch EU-Anleihen (eine weitere Errungenschaft, die vor einem Jahrzehnt kaum jemand für möglich gehalten hätte) im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit aller Mitgliedstaaten außer Ungarn, Tschechien und der Slowakei. Wenigstens fürs Erste sollte damit sichergestellt sein, dass die Verteidigung der Ukraine nicht an finanziellen Engpässen scheitert. Die Vetodrohungen einzelner Mitgliedstaaten zu umschiffen, um auf die Entwicklungen des Krieges angemessen reagieren zu können, bleibt für die EU aber auch 2026 eine der größten Herausforderungen.

Fahrplan zur Verteidigungsbereitschaft

Angesichts der Zunahme mutmaßlich russischer hybrider Angriffe steht neben der Hilfe für die Ukraine zunehmend auch der eigene Schutz im Vordergrund der europäischen Verteidigungspolitik. Neben der Abwehr akuter hybrider Bedrohungen geht es dabei auch darum, auf noch schlimmere Entwicklungen vorbereitet zu sein. Im vergangenen Herbst präsentierte die Kommission dafür eine „Defence Readiness Roadmap 2030“, die bereits für 2026 erste wichtige Meilensteine enthält. Dass die Zeiten, in denen man sich in der Verteidigungspolitik primär auf den NATO-Rahmen und die USA verlassen konnte, vorbei sind, sollte angesichts der jüngsten US-Sicherheitsstrategie inzwischen allen EU-Staaten klar sein.

Ein pikantes Detail: Der halbjährlich rotierende Vorsitz im Rat der EU wird 2026 ausgerechnet bei Zypern und Irland liegen – zwei neutralen Staaten, die zudem traditionell nur sehr wenig Interesse an einer aktiven Verteidigungspolitik zeigten. In jüngster Zeit allerdings hat auch Irland seine Militärausgaben stark gesteigert, und der zyprische Präsident Nikos Christodoulides (parteilos) brachte zuletzt sogar einen NATO-Beitritt seines Landes ins Spiel. Ein grundsätzliches Infragestellen des jüngsten verteidigungspolitischen Kurses der EU ist von den beiden Ratspräsidentschaften also nicht zu erwarten.

Mercosur-Abkommen auf der Kippe

Indessen wird auch eine zunehmend auf „Unabhängigkeit“ ausgerichtete EU in der Welt nicht auf Freunde und Wirtschaftspartner verzichten können. Ein wichtiges Instrument für solche strategischen Kooperationen ist das Global-Gateway-Programm, mit dem die EU weltweit Investitionen in Infrastrukturprojekte finanziert. Für das Jahr 2026 hat der Rat dafür jüngst eine Liste von 256 „Flagship Projects“ angenommen.

Trotz dieser Flotte von Flaggschiffen hapert beim Aufbau globaler Partnerschaften allerdings an den ganz großen Durchbrüchen: Der seit vielen Jahren vorbereitete Handelsvertrag zwischen der EU und der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur steht aufgrund von italienischen, französischen und polnischen Vorbehalte auf der Kippe, zumal die brasilianische Regierung angesichts der vielen Verzögerungen allmählich die Geduld verliert. Die Kommission hofft dennoch, dass es noch im Januar 2026 zu einem Durchbruch kommt und das Abkommen unterzeichnet wird.

Schicksalswahl in Ungarn

Innenpolitisch wiederum bieten die nächsten Monate das letzte Gelegenheitsfenster für die EU, um Gesetzgebungsverfahren abzuschließen, bevor im „Superwahljahr“ 2027 mögliche Regierungswechsel unter anderem in Frankreich, Italien, Spanien und Polen die Zusammensetzung des Rates tiefgreifend verändern könnten. Allerdings wird es auch 2026 wahlpolitisch nicht gerade ruhig zugehen.

Im April geht es bei der Parlamentswahl in Ungarn nicht nur um die Zukunft von Viktor Orbán (Fidesz/P), sondern auch darum, welche Hoffnung es in dem Land noch für Demokratie und Rechtsstaat gibt. In den Umfragen liegt derzeit die Oppositionspartei TISZA (EVP) deutlich vor der regierenden Fidesz (P). Aber wird Orbán, der über Jahre hinweg seine Macht mit allen Mitteln zu festigen versucht hat, einfach so eine demokratische Abwahl hinnehmen? 

Außerdem stehen 2026 auch in Schweden, Dänemark, Lettland, Slowenien und Zypern Parlamentswahlen an, und in Frankreich und Spanien könnte es zu vorgezogenen Neuwahlen kommen. Auch die deutschen Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern im September sind europaweit von Bedeutung: Falls es der AfD (ESN) mithilfe des BSW (–) gelingt, erstmals eine Landesregierung zu bilden, dürfte das zu einer erheblichen Destabilisierung des größten EU-Mitgliedstaates führen.

Rechtsaußenbündnisse im Europäischen Parlament

Im Europäischen Parlament sind Bündnisse mit Ganz-rechts-außen-Parteien inzwischen hingegen zunehmend zur Normalität geworden: Im Europawahlkampf 2024 hatte die christdemokratisch-konservative Europäische Volkspartei (EVP) noch angekündigt, sie würde nur mit solchen Parteien des rechten Spektrums zusammenarbeiten, die „pro-EU, pro-Ukraine und pro-Rechtsstaat“ seien.

Inzwischen ist von der Brandmauer gegen rechts jedoch kaum noch etwas übrig: Bei Abstimmungen kommt es immer häufiger zu Mehrheiten aus EVP und allen drei Rechtsaußenfraktionen (EKR, PfE, ESN) – selbst bei prominenten Gesetzgebungsentscheidungen wie dem Omnibus-I-Paket im November, das unter dem Schlagwort der „Vereinfachung“ zu einer bedeutenden umweltpolitischen Deregulierung führte.

Umstrittene „Vereinfachung“ und Deregulierung

Der Streit um die Vereinfachungs-Agenda dürfte auch im neuen Jahr weitergehen: Die Kommission hat noch etliche weitere „Omnibus“-Vorschläge eingeleitet, die nun ihren Weg durch das Gesetzgebungsverfahren nehmen werden. Auch hier geht es in vielen Fällen um eine Entlastung der Wirtschaft durch den Abbau von Umwelt- und Verbraucherschutzmaßnahmen. Für Kontroversen dürfte zum Beispiel der von der Kommission vorgeschlagene Ausstieg aus dem Verbrenner-Aus sorgen. Auch dass die Kommission überhaupt so stark auf Omnibus-Verfahren (also gleichzeitige Änderungen mehrerer existierender EU-Rechtsakte) setzt und damit gesetzliche Vorgaben zur Folgeabschätzung umgeht, stößt auf Kritik.

Ob es mit einer so umstrittenen Agenda gelingen kann, die angeschlagene Große Koalition der Mitte im Europäischen Parlament wieder zusammenzuführen, bleibt abzuwarten. Fürs Erste können sich die Parteien des Rechtsaußen-Lagers nicht nur über ihre besten Umfragewerte freuen, sondern genießen auch mehr Einfluss auf die konkrete Politikgestaltung als je zuvor in der Geschichte der EU.

Ein „28. Regime“

Nicht bei allen Vorhaben auf der Vereinfachungsagenda der Kommission geht es in erster Linie um eine Absenkung des Regulierungsniveaus. Teilweise geht es auch schlicht darum, die Vielzahl an unterschiedlichen nationalen Bestimmungen zu reduzieren, die grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeiten im Europäischen Binnenmarkt erschweren. Traditionell setzt die EU dafür seit dem berühmten Binnenmarkt-Weißbuch von 1985 auf eine Harmonisierung, also Vereinheitlichung der nationalen Rechtsvorschriften. Allerdings stößt dieses Instrument immer wieder auf politischen Widerstand unter den Mitgliedstaaten, die nicht auf ihre jeweiligen nationalen Regelungen verzichten wollen.

In letzter Zeit hat in Brüssel deshalb ein alternativer Ansatz an Popularität gewonnen: sogenannte „28. Regimes“. Damit sind gemeinsame europäische Regelwerke gemeint, die die 27 nationalen Systeme der Mitgliedstaaten nicht ersetzen, sondern neben ihnen existieren. Ein typisches Beispiel dafür ist die seit 2004 bestehende Unternehmensform der „Europäischen Gesellschaft“ (Societas Europaea, SE), die neben nationalen Modellen wie der deutschen Aktiengesellschaft (AG) oder der französischen Société Anonyme (SA) existiert.

Race to the bottom“ im Steuer- und Arbeitsrecht?

2026 will die EU diesen Ansatz mit der Entwicklung eines umfassenden „28. Regimes für innovative Unternehmen“ weiter ausbauen, das insbesondere die Bereiche Gesellschafts-, Insolvenz-, Steuer- und Arbeitsrecht umfasst. „Innovative Unternehmen“, etwa Start-ups im IT- oder Biotech-Sektor, sollen künftig die Möglichkeit haben, selbst zu entscheiden, ob für sie der nationale oder der europäische Rechtsrahmen gelten soll.

Das 28. Regime soll grenzüberschreitende Tätigkeiten erleichtern, ohne den Mitgliedstaaten sofort eine volle Harmonisierung abzuverlangen. Durch die Wahlmöglichkeit der Unternehmen ist allerdings absehbar, dass es etwa im Steuer- oder Arbeitsrecht leicht zu einem race to the bottom kommen könnte. Es seht also einiges auf dem Spiel, und im Europäischen Parlament und im Rat dürfte es deshalb harte Verhandlungen geben.

Energienetze, Wohnungsbau, Freizügigkeit und Abschiebeverfahren

Weitere Gesetzgebungsvorhaben, die auf der europäischen Tagesordnung hoch oben stehen, sind unter anderem der Ausbau der europäischen Elektrizitätsnetze und „Energieautobahnen“ und der European Affordable Housing Plan, der vor allem darauf abzielt, die Wohnungsbauindustrie in Europa anzukurbeln. Ein „Fair Labour Mobility Package“ soll Arbeitnehmer:innen, die in einem anderen EU-Land arbeiten, das Leben erleichtern, etwa durch eine bessere Verzahnung der Sozialversicherungssysteme. Während die innereuropäische Migration vereinfacht wird, geht es bei der Einwanderung von außen weiterhin vor allem um Abschottung; geplant ist insbesondere eine EU-weite Vereinheitlichung von Abschiebeverfahren.

Öfter zu hören bekommen dürfte man 2026 zudem das Schlagwort der „Fünften Freiheit“. Gemeint ist damit das Recht auf freie Zirkulation von Wissen, die die klassischen „vier Freiheiten“ des Europäischen Binnenmarkts (Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenfreizügigkeit) ergänzen soll. Was das genau bedeuten könnte, will die Europäische Kommission insbesondere in einem neuen Rechtsakt über den Europäischen Forschungsraum („ERA Act“) ausformulieren, den sie 2026 vorzulegen plant.

Debatten zum mehrjährigen Finanzrahmen

Weiter an Fahrt aufnehmen werden 2026 auch die Verhandlungen zum nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen für 2028-34. Von der Größe des Budgets über die Einnahmequellen und Ausgabenprioritäten bis hin zur Verwaltungsstruktur gibt es jede Menge kontroverser Streitfragen, die vor 2028 geklärt sein müssen. Und angesichts der Unwägbarkeiten des „Superwahljahrs“ 2027 sollten die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament auf dem Weg zu einer Einigung möglichst schon jetzt bedeutende Fortschritte erzielen.

Und auch zur institutionellen Weiterentwicklung der EU könnte es im nächsten Jahr neue Debattenanstöße geben, wenn die Europäische Kommission ihre lang erwartete Analyse vorlegt, welche Reformen der für eine EU-Erweiterung notwendig sein werden. Das Europäische Parlament hat seine Sicht auf diese Frage bereits im vergangenen Oktober in einer Resolution dargelegt, und es wäre an der Zeit, dass Kommission und Rat dasselbe tun. Allzu viel erwarten sollte man nach den Erfahrungen der letzten Jahre allerdings nicht: Auf die vor mehr als zwei Jahren verabschiedeten Vertragsreform-Vorschläge des Parlaments haben die Mitgliedstaaten bis heute keine Antwort gegeben.

Wahl der neuen UN-Generalsekretär:in

Jenseits der Europapolitik hält das Jahr 2026 für alle Freund:innen supranationaler Wahlen schließlich noch einen besonderen Leckerbissen bereit: Da die zweite Amtszeit von António Guterres (PS/SI) ausläuft, steht bei den Vereinten Nationen die Ernennung einer neuen Generalsekretär:in an. Vor zehn Jahren, als Guterres zum ersten Mal gewählt wurde, wurde dafür ein strukturiertes Verfahren eingeführt, bei dem Kandidat:innen im Voraus formal von einem Mitgliedstaat vorgeschlagen werden müssen. Die zivilgesellschaftliche Kampagne 1for7billion versuchte das zu nutzen, um eine Art öffentlichen Wahlkampf zu generieren, über den auch auf diesem Blog damals einiges zu lesen war.

2021, bei Guterres’ Wiederwahl, fiel ein solcher Wahlkampf mangels prominenter Gegenkandidat:innen aus. Jetzt aber ist es wieder so weit: Als mögliche Kandidatinnen gelten bislang Rafael Grossi aus Argentinien, der von seiner Regierung bereits offiziell vorgeschlagen wurde, Rebeca Grynspan aus Costa Rica sowie Michelle Bachelet (PS/SI) aus Chile, bei der allerdings unklar ist, ob sie auch die Unterstützung des neuen chilenischen Präsidenten José Antonio Kast (PRCh/–) besitzt. Weitere Kandidat:innen werden in den nächsten Monaten dazukommen. Die Kampagne 1for7billion heißt inzwischen 1for8billion und setzt sich insbesondere für die Wahl einer weiblichen Generalsekretär:in ein. Die Entscheidung fällt im zweiten Halbjahr 2026 im UN-Sicherheitsrat.

Und damit geht „Der (europäische) Föderalist“ in seine alljährliche Winterpause. Allen Leser:innen frohe Feiertage und ein glückliches neues Jahr!


Bild: Schneemann: Simon Greig [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr.

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