Am kommenden Montag, 22. Mai, werde ich auf Einladung der
Heinrich-Böll-Stiftung Hamburg mit Katja Sinko von den Jungen Europäischen Föderalisten und dem Bundestagsabgeordneten Manuel Sarrazin (Grüne/EGP)
über „Die neue Lust auf Europa“
diskutieren. Gemeint ist damit die wachsende Bereitschaft von
Menschen in verschiedenen europäischen Ländern, sich offensiv zur
europäischen Integration zu bekennen – vom Pulse of Europe in
Deutschland
über den Wahlkampf von Emmanuel Macron (REM/ALDE-nah) in Frankreich
bis zu den jüngsten Demonstrationen in Ungarn
und Polen.
Wo kommt diese Europabegeisterung her, und wie sollte die EU den
neuen Schwung nutzen, damit das europäische Einigungsprojekt
dauerhaft gesellschaftlich mehrheitsfähig bleibt? In Vorbereitung
auf diese Diskussion habe ich hier einige Gedanken zusammengefasst.
1.
Beschleunigte Europäisierung
Seit
den 1980er, vor allem seit den 1990er Jahren hat sich die europäische
Integration beschleunigt. Am deutlichsten ist das an den
Vertragsreformen von Maastricht über Amsterdam und Nizza bis
Lissabon zu erkennen, die unter anderem die Währungsunion und das
Schengen-System brachten, die Aufwertung des Europäischen Parlaments
und die Abschaffung nationaler Vetorechte in vielen Politikbereichen.
Gleichzeitig kam es zur EU-Osterweiterung, zu neuen
Mobilitätsprogrammen wie Erasmus, zu einem Anstieg des
innereuropäischen Handels und der innereuropäischen Migration.
Dieser
Abbau zwischenstaatlicher Grenzen brachte neue Freiheiten sowohl für
die grenzüberschreitenden Märkte als auch für die
grenzüberschreitende Lebensgestaltung der einzelnen Bürger. Die
beschleunigte Europäisierung – und die damit verwandte weltweite
Globalisierung – lässt sich deshalb als
Fortsetzung einer gesellschafts- und wirtschaftspolitischen
Liberalisierungstendenz verstehen, die seit den 1970er und 1980er
Jahren sowohl von Mitte-links- als auch von Mitte-rechts-Parteien
vorangetrieben wurde.
2.
Kosmopoliten gegen Souveränisten
Die
Europäisierung hat jedoch auch eine eigene, über die rein
innerstaatliche Liberalisierung hinausgehende Dynamik: Durch die
zunehmende Verflechtung zwischen den europäischen Gesellschaften
gehen nationale Handlungsspielräume verloren und sind effektive
politische Entscheidungen nur noch auf überstaatlicher Ebene
möglich. Die Europäisierung macht deshalb stärker als die rein
innerstaatliche Liberalisierung einen Neuaufbau politischer
Institutionen notwendig. Damit verbunden ist auch eine Neubestimmung
politischer Identitäten und Loyalitäten: Menschen, die früher als
„Ausländer“ galten, sind nun „Mitbürger“ in einer
gemeinsamen, überstaatlichen politischen Einheit.
Diese
Neubestimmung politischer Identitäten ist nicht unumstritten. Die
Frage der offenen Grenzen – die Auseinandersetzung zwischen
Kosmopoliten und nationalen Souveränisten – ist deshalb eine neue
gesellschaftliche Konfliktachse, die neben die alten Gegensätze
(wirtschaftspolitisch etatistisch oder liberal,
gesellschaftspolitisch libertär oder autoritär) tritt.
3.
Rechte Parteien besetzen den Souveränismus-Pol
Die
Debatte über diese Konfliktachse zeigte sich bereits zu Beginn der
beschleunigten Europäisierung – etwa am Widerstand der britischen
Regierung unter Margaret Thatcher (Cons.) oder der
gaullistisch-konservativen Opposition in Frankreich gegen den Vertrag
von Maastricht. Allerdings war der Konflikt in den 1990er Jahren noch
nicht voll ausgeprägt: Da es in allen relevanten europäischen
Parteien mindestens auch einen europafreundlichen Flügel gab, wurde
die Europapolitik in der Regel nicht zu einem Wahlkampfthema und
erreichte dadurch auch keine ganz breite Öffentlichkeit.
Etwa
seit 2010 hat sich das in vielen Ländern geändert. Dieser Prozess
verlief teils schleichend, teils wirkte die Eurokrise als
Katalysator. Dabei waren es vor allem rechtspopulistische und
rechtsextreme Parteien und Protestbewegungen, die in der öffentlichen
Debatte den souveränistischen Pol besetzten und damit politisch
erfolgreich waren. Offensichtliche Beispiele dafür sind die deutsche
Pegida-Bewegung, der Aufstieg
der Bewegung
für ein Europa der Nationen und der Freiheit und ihrer Verbündeten (FN in Frankreich,
FPÖ in Österreich, LN in Italien, AfD in Deutschland, PVV in den
Niederlanden) oder auch die Erfolge der britischen UKIP und das
Brexit-Referendum in Großbritannien.
4.
Selbstbestimmung als nationalistisches Schlüsselargument
Diese
rechtsnationale Gegenbewegung wendet sich vor allem an die Verlierer
der beschleunigten Liberalisierung und Europäisierung. Das sind zum
Teil wirtschaftliche Verlierer, etwa Arbeitnehmer in reicheren
EU-Staaten, deren Löhne durch die Zuwanderung aus ärmeren
Mitgliedsländern unter Druck geraten. Eine noch wichtigere
Zielgruppe sind die kulturellen Verlierer, die sich durch Zuwanderung
verunsichert und in ihrer traditionellen Lebensweise bedroht fühlen.
Das
Schlüsselargument, mit dem die Europagegner auch breitere Schichten
erreichen und potenziell mehrheitsfähig werden, ist aber die
Kritik an der EU als eine Fremdherrschaft illegitimer Eliten, die
die nationale Selbstbestimmung verhindert. Dieser Topos stand
beispielsweise im Mittelpunkt der Brexit-Kampagne, die unter dem
Motto „Vote Leave, Take Control“ auftrat. In eine ähnliche
Stoßrichtung weisen der von Pegida genutzte Slogan „Wir sind das
Volk!“ oder Marine Le Pens Wahlkampfspruch „Au nom du peuple“.
Gleichzeitig erheben die rechtsnationalen Parteien damit den
populistischen Anspruch, für die Gesamtheit ihres jeweiligen Volkes
zu sprechen.
5. Gegenbewegung der Europäisierungsgewinner
Die
neuen proeuropäischen
Bewegungen lassen sich am besten als
eine Gegenreaktion auf diesen populistischen
Anspruch verstehen.
Sie werden vor allem von den
(wirtschaftlichen und kulturellen) Europäisierungsgewinnern
getragen, die angesichts der
zunehmenden Dominanz der
Nationalsouveränisten im öffentlichen Diskurs verdeutlichen wollen,
dass auch sie zum „Volk“ gehören.
So
stellt Pulse of
Europe in Deutschland in vieler
Hinsicht schlicht die Antithese zu Pegida dar. Aber
auch bei
der österreichischen und
der französischen Präsidentschaftswahl
zeigte sich zuletzt
eine Polarisierung entlang
der neuen Konfliktachse zwischen
Kosmopoliten und Souveränisten. Dies ging insbesondere auch
zulasten der etablierten
christ- und
sozialdemokratischen Volksparteien,
die sich
bislang vor
allem über die
traditionellen wirtschafts-
und gesellschaftspolitischen Gegensätze
definieren und
Schwierigkeiten haben, auf
der neuen Konfliktachse eine
eindeutige
Position zu finden.
6.
Das Friedensnarrativ allein macht noch nicht mehrheitsfähig
Der
überraschende Ausgang des Brexit-Referendums (und die Wahl Donald
Trumps zum US-Präsidenten, die von einer ähnlichen populistischen
Souveränitäts- und Anti-Immigrations-Rhetorik begleitet war) weckte
teilweise überzogene Befürchtungen vor einem nationalistischen
Domino-Effekt. Diese Befürchtung war von
Anfang an zweifelhaft und hat durch die Ergebnisse der
österreichischen und französischen Präsidentschaftswahlen
weiter an Überzeugungskraft verloren. Trotzdem bleibt die
Frage akut, wie die Befürworter offener Grenzen und überstaatlicher
Integration dauerhaft
gesellschaftlich mehrheitsfähig bleiben.
Der
Appell an das Friedensnarrativ, wie er bei
den neuen Europabewegungen sehr verbreitet ist, ist dabei auf die
Dauer nicht sehr vielversprechend: Zum einen ist das Verhältnis
zwischen der europäischen Integration und dem Frieden in Europa
nicht
so eindeutig, wie gerne behauptet wird; zum anderen ist die
Friedenswahrung schlicht ein zu großes und zugleich zu triviales
Ziel, um damit ein so vielschichtiges Gebilde wie die heutige EU zu
begründen.
7.
Mehr Integrationsgewinner schaffen
Eine
bessere Strategie für die Integrationsbefürworter könnte darin
bestehen, das Verhältnis von Europäisierungsgewinnern und
-verlierern zu verschieben – den Integrationsprozess also so
auszugestalten, dass mehr Menschen das Gefühl haben, selbst
unmittelbar davon zu profitieren.
Dies
gilt zum einen für die wirtschaftliche Dimension: Zwar ist es
richtig, dass ein größerer Binnenmarkt mehr Wohlstand für alle
beteiligten Länder schafft, aber dieser Wohlstand ist innerhalb der
einzelnen Länder ungleich verteilt. Um mehr Menschen auf ihre Seite
zu ziehen, sollten Europafreunde also darauf achten, dass die
Integrationsgewinne möglichst breit verteilt werden und
Nationalpopulisten
sich nicht als die alleinigen Verteidiger des Sozialstaats
inszenieren können.
Zum
anderen gilt dies auch für die kulturelle Dimension: Ob sich jemand
als kultureller Gewinner oder Verlierer der Europäisierung versteht,
hängt stark davon ab, ob er fremde Lebensweisen und kulturelle
Verhaltensmuster als Bereicherung oder Bedrohung versteht. Dabei
belegen zahlreiche Studien die sogenannte Kontakthypothese,
nach der Vorbehalte gegenüber Fremden durch häufige Begegnungen
abgebaut werden. Mehr Menschen die Möglichkeit zu längeren
Auslandsaufenthalten zu bieten – zum Beispiel durch mehr
Sprachunterricht oder durch Austauschprogramme wie Erasmus – ist
deshalb ein wichtiger Ansatz, um das Lager der kulturellen
Europäisierungsgewinner zu vergrößern.
8.
Entscheidend sind die wenig Interessierten
Letztlich
wird die Zukunft der europäischen Integration aber wohl nicht in der
Polarisierung zwischen überzeugten Gegnern und überzeugten
Befürwortern entschieden. Ausschlaggebend ist vielmehr, in welche
Richtung die Gruppe in der Mitte neigt: jene, die nicht sehr an
Europapolitik interessiert sind und sich selbst weder als klare
Gewinner noch als klare Verlierer sehen. Das politische System der EU
kann nur dann dauerhaft stabil sein, wenn es auch in dieser mittleren
Gruppe eine diffuse Unterstützung genießt – mindestens in der
Form, dass die Zugehörigkeit zur EU als eine Selbstverständlichkeit
angesehen wird, die im Alltag nicht hinterfragt werden muss.
Der
Schlüssel, um diese mittlere Gruppe zu erreichen, liegt darin, ob
die EU als Ausdruck von Selbstbestimmung oder von Fremdherrschaft
angesehen wird. Nur wenn Menschen das Gefühl haben, dass die Politik
auf europäischer Ebene im Wesentlichen an ihren Interessen (bzw. den
Interessen einer demokratischen Mehrheit) ausgerichtet ist und durch
demokratische Entscheidungen beeinflusst werden kann, werden sie die
EU dauerhaft akzeptieren.
9.
Die EU demokratisieren, um sie selbstverständlich zu machen
Dafür
sind jedoch gezielte institutionelle Reformen nötig, die das heute
tatsächlich noch bestehende Demokratiedefizit der EU überwinden.
Konkrete Ansätze für eine solche Demokratisierung gibt es viele –
etwa transnationale
Listen zur Europawahl, eine Stärkung des Europäischen
Parlaments in der Steuer-, Haushalts- und Wirtschaftspolitik, ein
neues
Verfahren zur Wahl der Europäischen Kommission etc.
Diese
Demokratisierungsagenda wird nicht
dazu führen, dass Menschen,
die sich bisher wenig für die EU interessiert haben, nun begeisterte
Europafreunde würden. Sie
kann aber den
Europagegnern den Wind aus den Segeln nehmen, indem
sie die EU zu einer selbstverständlichen Ebene demokratischer
Politik macht. Damit
hätten sich im Streit um
die EU dauerhaft
die Kosmopoliten gegen
die Nationalsouveränisten durchgesetzt und der Konflikt zwischen
ihnen würde wieder an Bedeutung verlieren. Die
öffentliche Debatte würde
sich auf die Frage verlagern, wie die
europäische Politik
gestaltet wird –
nicht ob es
die EU geben soll.
10. Es gilt, die etablierten Parteien zu erreichen
Da
eine konsequente Demokratisierung jedoch mit einem Machtverlust der
nationalen Regierungen einhergehen würde, stößt sie bei den
etablierten Parteien immer wieder auf Vorbehalte. Der Widerstand
des Europäischen Rates gegen das Spitzenkandidatenverfahren für die
Wahl des Kommissionspräsidenten ist nur ein deutliches Beispiel
dafür. Diese Vorbehalte zu überwinden sollte deshalb das Hauptziel
der europafreundlichen Bewegungen sein.
In
der Praxis ist die Bereitschaft dazu allerdings sehr unterschiedlich
ausgeprägt. Insbesondere Pulse of Europe schreckt
vor konkreten
Reformforderungen
zurück und
beschränkt sich auf eine rein defensiv-konservative
Haltung. Andere
proeuropäische Bewegungen,
etwa die Union Europäischer Föderalisten oder
die Spinelli Group, sind
hingegen mit klareren
Vorschlägen präsent.
Entscheidend
wird sein, ob auch Parteien mit Regierungsperspektive diese
Vorschläge aufgreifen. Bislang war dies vor allem in südeuropäischen
Ländern wie Italien und Spanien der Fall, zuletzt mit Emmanuel
Macron auch in Frankreich. Man darf gespannt sein, was uns im
deutschen Bundestagswahlkampf in dieser Hinsicht erwartet.
Die
Podiumsdiskussion „Die neue Lust auf Europa – wie weiter in turbulenten Zeiten?“ findet am 22. Mai von 18 bis 20 Uhr im Vortragssaal der Staatsbibliothek Carl von Ossietzky in Hamburg statt. Auf dem Podium werden Katja Sinko, Manuel Sarrazin und ich sitzen, Jörn Dobert von der Heinrich-Böll-Stiftung Hamburg moderiert. Weitere Informationen zur Veranstaltung gibt es hier.
|
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.