
- Folgt auf Schulzʼ markige Worte auch konkrete Politik?
Es
waren markige Worte, die Martin Schulz (SPD/SPE)
am
gestrigen Donnerstag in seiner Rede auf dem SPD-Parteitag wählte,
als er auf die Europapolitik zu sprechen kam. Zunächst bewegte sich
seine Rhetorik dabei noch auf routinierten Bahnen: Der Nationalstaat
habe
„in
der globalisierten Welt viel Gestaltungsmacht verloren“,
Europa sei „die einzige Chance, wie
wir im Wettbewerb mit anderen großen Regionen dieser Erde mithalten
können“.
Dann
aber verwies er auf das Heidelberger Parteiprogramm, in dem die SPD
1925 erstmals die „Vereinigten Staaten von Europa“ gefordert
hatte. Und schließlich kam der eigentliche Hammer:
Und
deshalb frage ich Euch: Warum nehmen wir uns eigentlich jetzt nicht
vor – hundert Jahre nach unserem Heidelberger Beschluss; hundert
Jahre später – spätestens im Jahre 2025 diese Vereinigten Staaten
von Europa verwirklicht zu haben?
Ich
will, dass es einen europäischen Verfassungsvertrag gibt, der ein
föderales Europa schafft, das keine Bedrohung für seine
Mitgliedsstaaten ist, sondern ihre sinnvolle Ergänzung. Ein solcher
Verfassungsvertrag muss von einem Konvent geschrieben werden, der die
Zivilgesellschaft und die Völker Europas mit einbezieht. [...] Wenn wir ihn haben, dann muss er in den Mitgliedsstaaten vorgelegt
werden. Wer dann dagegen ist, der geht dann eben aus der Europäischen
Union heraus. Lasst uns endlich den Mut aufbringen, Europa beherzt
voranzubringen!
Der
Vorsitzende der zweitgrößten deutschen Partei fordert einen
Verfassungsvertrag für ein föderales Europa, und das schon bis
2025: Es ist nicht überraschend, dass diese Nachricht nicht nur
in
Deutschland, sondern auch in
vielen
anderen
europäischen
Ländern
schnell den Weg in die Schlagzeilen fand.
Gemischte
Reaktionen
Doch
anders als Macron stieß Schulz mit seinem Vorstoß in der
Öffentlichkeit bestenfalls auf verhaltene Reaktionen. Noch
zu den freundlichsten Kommentaren gehören jene, die dem SPD-Chef
bescheinigen, er habe
sein
Wahlkampfthema ein wenig zu spät gefunden. Die
linke,
von dem früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis ins
Leben gerufene Bewegung
Democracy
in Europe Movement 2025
macht
etwas
süffisant darauf aufmerksam, dass sie das von Schulz genannte
Zieldatum schon seit ihrer Gründung Anfang 2016 im Namen trägt.
Offene
Unterstützung kommt fast nur
von
der Union Europäischer Föderalisten, die Schulz
als
Vorbild für andere Politiker bezeichnet.
Vereinigung
unter Zwang?
Dass
Schulzʼ Vorschlag tatsächlich verwirklicht werden könnte, scheint
dabei kaum ein politischer
Beobachter
zu glauben. Nur
eine Handvoll britischer
Brexit-Befürworter nimmt
den
SPD-Vorsitzenden offenbar
beim Wort und
beglückwünscht
sich selbst dazu, die EU
schon
jetzt zu verlassen, bevor
sie 2025 zum Austritt gezwungen würden.
Spott und Bedenkenträgerei
Insgesamt
scheint Schulzʼ
Vorstoß
also – wenigstens kurzfristig – nicht das erhoffte Ziel zu
erreichen. Statt als europapolitischer
Hoffnungsträger erscheint
der SPD-Parteichef wie
ein
Schulhof-Bully,
der die anderen Mitgliedstaaten herumschubsen will; statt über seine
Vision für das Jahr 2025 zu diskutieren, reagiert die deutsche
Öffentlichkeit mit Spott und Bedenkenträgerei. Das aber ist nicht
nur für Schulz ein Problem, sondern auch für den europäischen
Föderalismus insgesamt. Denn natürlich werden andere Politiker
diese Reaktionen sehr genau zur Kenntnis nehmen und es sich künftig
zweimal überlegen, bevor sie sich mit mutigen europapolitischen
Vorschlägen exponieren.
Woher
aber kommt dieser Mangel an Enthusiasmus? Und vor allem: Was ließe
sich dagegen tun?
Liegt
es an Deutschland?
Zur
größten Sorge wurde für
viele die
„Transferunion“, die
deutschen
Reichtum auf die Krisenstaaten umverteilt hätte.
In
der
Flüchtlingskrise wiederum fand
sich die deutsche Politik recht schnell damit ab, dass von
verschiedenen mittel- und osteuropäischen
Mitgliedstaaten
keine Unterstützung
zu
erwarten war, und
reagierte stattdessen mit
der Einführung nationaler Grenzkontrollen. Könnte es also sein,
dass sich
die
deutsche Öffentlichkeit an den Gedanken gewöhnt hat, dass den
eigenen nationalen Interessen mit einem intergouvernementalen
Durchwursteln im Europäischen Rat am
besten gedient
und
eine
ambitionierte Weiterentwicklung der EU deshalb
gar
nicht notwendig ist?
Der
Resonanzboden ist vorhanden
Der
Resonanzboden für eine ambitionierte Europapolitik ist
also auch in Deutschland durchaus vorhanden. Dass
Martin Schulz
mit seiner
Ankündigung auf dem SPD-Parteitag nicht auf mehr Begeisterung stieß,
dürfte eher
mit etwas anderem zu tun haben: nämlich mit der fehlenden
Glaubwürdigkeit,
die diese Ankündigung bei vielen deutschen Europafreunden besitzt.
Mangel
an Glaubwürdigkeit
Dieser
Mangel an Glaubwürdigkeit hat zum einen mit der Person Schulz selbst
zu tun. Als
jemand, der fast sein ganzes politisches Leben als
Europaabgeordneter
verbracht hat,
fünf
Jahre lang EU-Parlamentspräsident war
und
vor der Europawahl 2014 zum
europaweiten
Spitzenkandidaten der europäischen Sozialdemokraten gewählt wurde,
ist
Martin Schulz einer
der am stärksten europäisch orientierten
Politiker
in Deutschland. Über
gesamteuropäische politische Zusammenhänge zu
sprechen,
ohne
in
Deutungsmuster der nationalen Außenpolitik zu verfallen, fällt ihm
leichter als vielen
anderen, und
so nimmt man ihm die Überzeugung, dass sich
die deutsche Sozialdemokratie nur durch eine stärkere Europäisierung
aus ihrer Krise befreien kann, durchaus ab. Einerseits.
Nur
eine Leerformel?
Im
Bundestagswahlkampf 2017 betonte er schließlich sogar
ausdrücklich,
man
dürfe
sich die EU nicht als „die Vereinigten Staaten von Amerika auf
europäischem Boden“ ausmalen, da man schließlich „aus einem
Franzosen keinen Kalifornier, oder aus einem Deutschen keinen Texaner
machen“ könne. Um den Menschen keine „Angst“ einzuflößen, solle man
deshalb besser von einer „politischen Union der Vereinigten
Demokratien von Europa“ sprechen – eine Formel, mit der Schulz
implizit die Demokratie auf die nationale Ebene beschränkte
und sich von der föderalistischen Idee einer gesamteuropäischen
Demokratie distanzierte.
Kein
Wunder also, wenn Schulzʼ jüngste Kehrtwende zu
den „Vereinigten Staaten von Europa“ unter
den erfahreneren
europäischen Föderalisten nicht jeden überzeugt. Der
Verdacht drängt sich auf, dass es sich für
ihn dabei
nur um eine letztlich beliebige Leerformel handelt. Um
diesen Verdacht auszuräumen, müsste
Schulz den Begriff möglichst rasch mit konkreten politischen
Forderungen untermauern. Und
hier liegt das eigentliche Problem.
Kein
Wort zu europäischer Demokratie
Denn
liest man den
Leitantrag
des Parteitags, der Schulzʼ Positionen – nicht zuletzt zur
Europapolitik – konkretisieren soll, so findet man dort zwar einen
langen Absatz „für ein demokratisches,
solidarisches und soziales Europa“, in
dem auch einige durchaus substanzielle Vorschläge gemacht werden. So
will die SPD unter anderem ein „System europäischer Mindestlöhne“
einführen, die Unternehmensbesteuerung auf europäischer Ebene
harmonisieren, die Eurozone mit einem eigenen Haushalt für
Investitionen ausstatten und den ESM zu einem „parlamentarisch
kontrollierten Europäischen Währungsfonds weiterentwickeln“
(wobei offen bleibt, ob damit die nationalen Parlamente oder das
Europäische Parlament gemeint ist). Auch für einen
größeren
EU-Haushalt, der sich verstärkt aus Eigenmitteln speist, ist die
SPD offen.
All
diese Maßnahmen aber lassen sich ohne allzu großen Aufwand auch
innerhalb des bestehenden EU-Vertragswerks umsetzen. Wozu der von
Schulz vorgeschlagene neue europäische Verfassungsvertrag notwendig
sein soll, wird weder in seiner Parteitagsrede noch in dem Leitantrag
erklärt. Auch
zu
dem eigentlichen
Schlüsselthema des
europäischen Föderalismus – dem Aufbau einer gesamteuropäischen
Demokratie – findet
sich in
keinem der beiden Dokumente irgendeine konkrete Forderung. Kein
Wort zu
gesamteuropäischen
Wahllisten, kein Wort zur
Wahl
der Europäischen Kommission: Es ist, als ob dieses Thema Schulz
und die
SPD überhaupt nicht interessierte.
Bloße
Rhetorik hilft nicht weiter
Als
Martin Schulz Anfang 2017 zum Kanzlerkandidaten seiner Partei gekürt
wurde, bescherte das der SPD einen vorübergehenden Höhenflug in den
Umfragen, der nach einigen Wochen jedoch jäh endete. Als eine der
Ursachen dafür gilt, dass Schulz
zu
lange zögerte, seine plakative
Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit mit konkreten Vorschlägen
zu untermauern. Sein
Schlagwort von den „Vereinigten Staaten von Europa“ krankt an
demselben Fehler.
Solange
es nicht von konkreten Maßnahmen begleitet wird, wirkt es wie ein
bloßes Aushängeschild – ein
Versuch, eine durchaus europafreundliche, aber eben doch nur begrenzt
ambitionierte Politik durch
föderalistische
Rhetorik
aufzuhübschen, um
sie besser zu verkaufen.
Damit
aber täte Schulz weder sich und
der SPD noch
dem europäischen Föderalismus einen Gefallen. Gewiss,
die Sozialdemokraten wären nicht die einzige Partei in Deutschland,
die
diese Strategie verfolgt – auch
die FDP (ALDE) nennt in ihrem Grundsatzprogramm von 2012 als Fernziel
einen „europäischen Bundesstaat“,
ohne
dass sich das in ihrer alltäglichen Politik allzu sehr bemerkbar
machen würde.
Aber
auf
die Dauer beschädigt das sowohl die Glaubwürdigkeit der Partei als
auch die Kohärenz
der europapolitischen Debatte.
Oder
legt Schulz noch nach?
Es
gibt freilich noch eine andere Möglichkeit: nämlich dass Schulz es
doch ernst meint und
die SPD nach seinem rhetorischen Startschuss auf dem Parteitag in den
nächsten Tagen und Wochen tatsächlich eine ehrgeizige
Europa-Agenda
entwickelt, die eine weitreichende Vertragsreform notwendig macht und
das Schlagwort von den „Vereinigten Staaten von Europa“
rechtfertigt. Vorschläge dafür sind genug vorhanden – etwa
hier
oder
hier.
Die SPD müsste sie nur aufgreifen, sich zu eigen machen und in der
öffentlichen Debatte mit wirklicher Überzeugung vertreten.
Man
darf gespannt sein, ob es dazu kommt.
Über die EU-Verträge verpflichten sich die Staaten, eine ganze Reihe Grundfreiheiten einzuhalten und im Gegensatz dazu verfügen sie über ein Vetorecht über die Entwicklung der Verträge. Es ist völlig legitim, dieses Vetorecht grundsätzlich in Frage zu stellen, aber es gehört zu den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit, dass man völker- und europarechtlichen Vereinbarungen einhält, und sie allfällig über die festgelegten Verfahren ändert. Die Drohung die eigenen Vorstellungen - egal ob sie gut oder schlecht sind - per Vertragsbruch durchzusetzen ist ein Angriff auf den Rechtsstaat, und somit auf den Grundpfeiler des europäischen Integrationsprojekts.
AntwortenLöschenWenn Martin Schulz solche Zusammenhänge nicht einsieht, bedeutet es eindeutig dass er seinem Amt nicht gewachsen ist.