02 März 2021

Reform des Misstrauensvotums im Europäischen Parlament: essenzieller Baustein für eine parlamentarische Demokratie

Die europäische Demokratie hat Reformbedarf, und an Ideen dafür mangelt es nicht. In loser Folge nimmt diese Serie institutionelle Reformvorschläge in den Blick. Was sollen sie erreichen, wie könnten sie umgesetzt werden – und sind sie wirklich die Mühe wert? Teil 2: ein einfacheres Misstrauensvotum im Europäischen Parlament. (Zum Anfang der Serie.)
Bildschirm mit dem Ergebnis der Abstimmung über einen Misstrauensantrag gegen die Europäische Kommission, der 2014 mit großer Mehrheit abgelehnt wurde
Die Möglichkeit eines Misstrauensvotums im Europäischen Parlament sollte ein wichtiges Instrument zur politischen Steuerung sein. Doch dafür müssen die Hürden gesenkt werden.

Der Grundsatz, dass die Exekutive jederzeit das Vertrauen des Parlaments besitzen muss und von einer Mehrheit der Abgeordneten abgewählt werden kann, ist Teil der gemeinsamen europäischen Verfassungstradition. In 26 von 27 EU-Mitgliedstaaten (die einzige Ausnahme ist das präsidentialistische Zypern) kann das Parlament die Regierung durch ein Misstrauensvotum zum Rücktritt zwingen. In der Regel ist dafür die absolute Mehrheit der Abgeordneten nötig, in einigen Ländern genügt sogar eine einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Diese Möglichkeit, die Regierung jederzeit absetzen zu können, ist für die Parlamente ein wichtiges Instrument der politischen Steuerung; ohne sie würde in der Legitimationskette, die die Exekutive an den Willen der Wähler:innen bindet, ein wesentliches Glied fehlen.

Kaum überwindbare Zwei-Drittel-Hürde

Wie stark diese Idee der parlamentarischen Verantwortlichkeit auch in der öffentlichen Erwartung an die EU verankert ist, zeigte sich vor einigen Wochen in der Debatte über die Engpässe bei der Produktion und Bestellung von Corona-Impfstoffen. Angesichts wachsender Kritik an der Europäischen Kommission spekulierten Zeitungen rasch über einen möglichen erzwungenen Rücktritt. So titelte etwa der deutsche Tagesspiegel: „Ist Ursula von der Leyens nächster großer Fehler einer zu viel?“

Wirklich realistisch war diese Aussicht allerdings nie. Denn die Hürde, um die Exekutive abzuwählen, liegt im politischen System der EU deutlich höher als in den Mitgliedstaaten. Das Parlament hat zwar nach Art. 234 AEUV die Möglichkeit, einen Misstrauensantrag gegen die Kommission einzubringen. Doch um sie zum Rücktritt zu zwingen, muss dieser Misstrauensantrag nicht nur von einer absoluten Mehrheit der Abgeordneten, sondern auch von einer Zwei-Drittel-Mehrheit der abgegebenen Stimmen unterstützt werden.

In der Praxis bedeutet das, dass nur ein breiter Konsens im Parlament die Kommission zum Rücktritt zwingen kann – und das ist absehbar nur der Fall, wenn Kommissionsmitgliedern massives persönliches Fehlverhalten vorgeworfen wird. Als Instrument der politischen Steuerung ist das europäische Misstrauensvotum hingegen so gut wie nutzlos.

Unreformiert seit 1957

Dass dies kein Zufall ist, zeigt ein kurzer Blick in die Geschichte. Die Bestimmungen zum Misstrauensvotum gegen die Europäische Kommission fanden sich in nahezu identischer Form wie heute bereits in Art. 144 des EWG-Vertrags von 1957. Zu dieser Zeit war die Kommission noch klar als eine unabhängige technokratische Behörde konzipiert; das Europäische Parlament hingegen besaß nahezu überhaupt keine politischen Mitspracherechte und konnte nicht einmal Untersuchungsausschüsse einrichten. Das Instrument des Misstrauensantrags sollte also nicht wirklich eine parlamentarische Kontrolle über die Kommission sicherstellen, sondern allenfalls als eine Reißleine bei offensichtlichen Verfehlungen dienen.

Auch in der Praxis spielte es dementsprechend nur ein einziges Mal eine Rolle: Im Frühling 1999 trat die Kommission unter Jacques Santer (CSV/EVP) zurück, als sich aufgrund von Korruptionsvorwürfen eine breite fraktionenübergreifende Parlamentsmehrheit für ein Misstrauensvotum abzeichnete. Andere Misstrauensanträge – zuletzt 2005 gegen José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) und 2014 gegen Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) – wurden hingegen jeweils nur von einer kleinen europaskeptischen Minderheit unterstützt und galten von Anfang an als chancenlos.

Die Hürde senken

Bei dem Grad an Integration, den die Europäische Union heute erreicht hat, ist dieses Modell nicht mehr zeitgemäß. Die EU hat über die Jahre hinweg so stark an politischer Bedeutung gewonnen, dass die Kommission nicht mehr die Rolle einer rein technokratischen Behörde einnehmen kann, sondern eine demokratische Legitimation benötigt. Diese Erkenntnis hat seit dem Vertrag von Maastricht 1992 zu einer schrittweisen Stärkung des Europäischen Parlaments bei der Wahl der Kommission geführt: Um ins Amt zu kommen, benötigt die Kommission nach Art. 17 (7) EUV das Vertrauen des Europäischen Parlaments (und des Rates).

Das Verfahren zur Absetzung der Kommission wurde hingegen niemals reformiert. Sie genießt damit einen Grad an politischer Unabhängigkeit, der international noch am besten mit der Regierung der Vereinigten Staaten zu vergleichen ist. Auch dort kann das Parlament die Präsident:in im Rahmen des Impeachment-Verfahrens nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Senat absetzen. Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Anders als die Kommission ist die US-Präsident:in direkt von der Bevölkerung gewählt und besitzt damit eine eigene, vom Parlament unabhängige demokratische Legitimation.

Ein solches Präsidialsystem hat sich in der EU mit guten Gründen nicht durchgesetzt. Bessere Aussichten, um die Legitimation der EU stärken, bietet ihre Weiterentwicklung zu einer vollen parlamentarischen Demokratie. Dafür aber muss auch das Misstrauensvotum an die in parlamentarischen Demokratien üblichen Verfahren angepasst werden: Statt einer Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen sollte zur Absetzung der Europäischen Kommission künftig nur noch eine absolute Mehrheit der Abgeordneten notwendig sein – dieselbe Mehrheit, die auch benötigt wird, um eine neue Kommissionspräsident:in zu wählen.

Konstruktiv statt destruktiv

Die Zweidrittelhürde ist allerdings nicht die einzige problematische Besonderheit des derzeitigen europäischen Misstrauensverfahrens. In den meisten nationalen parlamentarischen Systemen sind Misstrauensvoten „konstruktiv“ – das heißt, unmittelbar mit der Abwahl der alten Präsident:in muss das Parlament auch eine Nachfolger:in bestimmen. In der EU hingegen führt ein erfolgreiches Misstrauensvotum lediglich dazu, dass die Kommissionsmitglieder geschlossen zurücktreten müssen. Die neue Kommission jedoch wird nicht vom Parlament bestimmt, sondern nach dem regulären, in Art. 17 (7) EUV geregelten Verfahren gewählt, bei dem die nationalen Regierungen ein Vorschlagsrecht besitzen.

Mehr noch: Bis die neue Kommission gewählt ist, bleibt die alte, durch das Misstrauensvotum eigentlich abgesetzte Kommission geschäftsführend weiter im Amt. Theoretisch kann der Rat deshalb ein erfolgreiches Misstrauensvotum des Parlaments völlig ins Leere laufen lassen, indem er einfach überhaupt keine Vorschläge für die neue Kommission macht. Das Parlament könnte darauf mit einer Untätigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof reagieren, die allerdings mehrere Monate in Anspruch nehmen würde. Kurz gesagt: Durch seinen destruktiven Charakter ist das europäische Misstrauensverfahren anfällig für Instabilität und könnte im Konfliktfall dazu führen, dass eine politische Krise zwischen den Institutionen nicht gelöst, sondern noch weiter verschärft wird.

Um das Misstrauensvotum zu einem funktionierenden Instrument der politischen Steuerung zu machen, muss deshalb nicht nur die Hürde von einer Zweidrittel- auf eine absolute Mehrheit herabgesetzt werden. Nötig ist auch der Übergang zu einem konstruktiven Misstrauensvotum, bei dem das Parlament gleichzeitig mit der Abwahl der alten Kommission immer sofort auch eine neue Kommissionspräsident:in nominieren und wählen würde.

Stärkung des Parlaments …

Die Folgen einer solchen Reform wäre zunächst einmal eine Stärkung des Europäischen Parlaments im Verhältnis zur Kommission. Da die Kommission künftig zu jeder Zeit auf das Vertrauen einer Mehrheit im Parlament angewiesen wäre, müsste sie enger mit den Abgeordneten zusammenarbeiten. Politische Alleingänge, die nicht von einer Mehrheit im Parlament unterstützt werden, würden unwahrscheinlicher, und der Druck auf die Kommission, ihre politische Linie vor dem Parlament und in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen, würde höher. Szenen wie Anfang Februar, als Ursula von der Leyen (CDU/EVP) nach einer Rede zur EU-Impfstrategie das Parlament verließ, ohne sich die Antworten der Abgeordneten anzuhören, würden seltener.

Gewissermaßen im Vorübergehen würde ein konstruktives Misstrauensvotum im Europäischen Parlament auch den Streit um das Spitzenkandidatenverfahren bei der Europawahl lösen: Wenn das Europäische Parlament die Kommissionspräsident:in jederzeit durch eine neue ersetzen kann, wäre das Vorschlagsrecht des Europäischen Rates bei der Wahl nur noch eine Formalität, so wie das auch in anderen parlamentarischen Demokratien vorkommt.

… aber auch der Kommission selbst

Eine engere Verbindung zwischen Parlament und Kommission würde jedoch nicht nur dem Parlament nützen, sondern indirekt auch die Kommission selbst. Ihre schwache demokratische Legitimation ist für die Kommission derzeit ein strukturelles Hindernis, um ihren Kurs auch gegen politische Widerstände durchzusetzen. Die Kommission zu kritisieren oder ihre Vorschläge abzulehnen, ist für die Fraktionen im Europäischen Parlament mit keinen nennenswerten politischen Kosten verbunden.

Hätte das Parlament hingegen eine einfache Möglichkeit, die Kommission durch ein Misstrauensvotum abzusetzen, stiege der Rechtfertigungsdruck auf die Abgeordneten: Wenn sie den politischen Kurs der Kommission öffentlich kritisieren, stünde künftig immer die Frage im Raum, ob sie ihr auch das Vertrauen entziehen wollen. Der Weg von rhetorischen Angriffen auf die Kommission zum Sturz der Kommission würde kürzer – sodass die Abgeordneten, denen nicht an einem Sturz der Kommission gelegen ist, diese auch in der Öffentlichkeit stärker in Schutz nehmen und sie aktiver unterstützen würden.

Parlamentarische Dynamik zwischen Mehrheit und Opposition

Im Ergebnis könnte dies dazu beitragen, dass die Kommission und die Mehrheitsfraktionen im Europäischen Parlament in der Öffentlichkeit als eine politische Einheit wahrgenommen werden – so wie es in parlamentarischen Systemen üblich ist. Dies würde auch die Dynamiken innerhalb des Parlaments beeinflussen: Anstelle des heutigen Systems, bei dem Entscheidungen mit ständig wechselnden Mehrheiten um eine ewige Große Koalition getroffen werden, könnte sich ein stabilerer Gegensatz herausbilden – zwischen der die Kommission tragenden Mehrheit auf der einen und den Oppositionsfraktionen, die zu einer Abwahl der Kommission bereit sind, auf der anderen Seite.

Ein solcher Gegensatz wäre ein demokratischer Fortschritt gegenüber dem heutigen System. Insbesondere würde eine klarere Aufteilung des Parlaments in Mehrheits- und Oppositionsfraktionen die europäische Politik für eine breite Öffentlichkeit verständlicher machen. Die vom nationalen Parlamentarismus vertraute Logik, nach dem die Regierungsmehrheit den politischen Kurs bestimmt, während die Opposition sich als Wahlalternative profiliert, würde auch für das Europäische Parlament gelten. Zugleich könnte ein solcher Gegensatz auch europafeindlichen Parteien den Wind aus den Segeln nehmen: Wähler:innen hätten die Möglichkeit, gegen die politische Richtung der EU zu stimmen, ohne die EU als solche in Frage stellen zu müssen.

Das Misstrauensvotum muss auf die institutionelle Reformagenda

Natürlich würde eine Reform des Misstrauensvotums im Europäischen Parlament diese weitergehenden Veränderungen nicht sofort und nicht für sich allein bewirken. Sie ist jedoch ein essenzieller Baustein, ohne den die parlamentarische Verantwortlichkeit der Kommission und damit eine volle parlamentarische Demokratie in der EU nicht möglich sein wird. Es ist deshalb mindestens erstaunlich, dass das Misstrauensverfahren in der Debatte über die Demokratisierung der EU und die Stärkung des Europäischen Parlaments bisher kaum eine Rolle gespielt hat – gerade im Vergleich mit anderen, weitgehend symbolpolitischen Fragen wie dem Initiativrecht.

Gewiss: Eine Reform des Misstrauensvotums wird nicht allen politischen Akteuren passen. Widerstand ist vor allem vonseiten der nationalen Regierungen zu erwarten, denen nicht an einer Stärkung von Parlament und Kommission gelegen ist. Aber das ist eine Auseinandersetzung, die geführt werden muss. Wer einen starken Parlamentarismus auf europäischer Ebene will, muss das Misstrauensvotum auf die institutionelle Reformagenda setzen.



Bild: © European Union 2014 – European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

1 Kommentar:

  1. Die Hürde zu Ändern ist eine gute Idee. Die Frage ist nur: welche?

    Man könnte, wie hier beschrieben, die Hürde für ein Misstrauensvotum senken. Man könnte aber auch die Hürde für die Wahl der Kommission erhöhen. Wichtig ist: Die selbe Zahl von Abgeordneten, die eine Kommission wählt, soll diese auch wieder abwählen können.

    Denn: die Kommission als Kollegialorgan befürworte ich sehr, aus verschiedenen politischen Richtungen. Grüne/EFA, Liberale S&D, EPP, ja vielleicht sogar die ECR und Linke, alle sollten repräsentiert sein.
    Dies fragmentiert natürlich die Kommission. Deshalb müssen die Rechte des Parlaments gestärkt werden.

    Ich befürworte grundsätzlich eine Gleichstellung von Rat und Parlament.
    Der Rat kann und soll gerne auch weiter Kandidaten einbringen. Das Parlament aber auch. Dann hat man anstatt Schlagzeilen wie "Parlament lehnt Ratskandidaten ab" (hat den Effekt: Bevölkerung möglicherweise auf Parlament sauer) auf "Rat lehnt Parlamentskandidaten ab" (hat den Effekt: Bevölkerung möglicherweise auf Rat sauer).
    Außerdem sollte das Parlament einzelne Mitglieder der Kommission abwählen können.

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